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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Weltrevolution von 1848 – ein den Schulcollegien nicht beliebtes Thema. Wie der Rhein im Sande, so verläuft die Gymnasialgeschichte in der Mark Brandenburg: ihr breiter Strom mündet in die enge Geschichte Preußens aus.

In der That wird damit auch der nächste Zweck erreicht; die Julirevolution, welche in mein letztes Schuljahr fiel, hat mich vollständig unberührt gelassen, und von der politischen Weltlage hatte ich gar kein Gefühl. Freilich fehlt dafür später, wenn nun doch das moderne Weltmeer mit seinem sonnenwarmen Wellenschlag den Eisberg überspült, alle und jede Widerstandskraft, und aus den zahmen Gymnasiasten von 1831 ist mehr als Einer zum rothen Republikaner von 1849 geworden.

Es ist freilich wahr: wenn die Schule, auch die beste, allein uns erzöge, so blieben wir allzumal Tröpfe. Das Leben und unser eigen Herz nehmen uns glücklicherweise stets von Neuem in die Privatstunde und üben im Silentium uns auf ein besseres, als das Schulpensum ein. So ging es auch mir: neben der arbeitsamen Schulwelt blühte mir eine anmuthige Innenwelt in einem kleinen Kreise guter und herzlicher Menschen auf.

Ich habe bereits erzählt, daß der jüngste Sohn des Büchelerschen Hauses, in welchem ich Wohnung und Kost hatte, bald nach meinem Eintritt in’s Gymnasium die Universität bezog. Seiner Aufsicht wurde ich nunmehr übergeben und bewohnte mit ihm zwei artige Mansardstuben, aus denen man weit über den Münsterplatz und in benachbarte Gärten blickte. Joseph Bücheler ist einer der besten und treuesten Menschen, die ich je gekannt habe: ein Charakter von ungetrübter Biederkeit, an dem niemals ein falscher und bösartiger Zug hervortrat. Er selbst war keine lebhaft erregbare Natur, und eben die Charakterverschiedenheit bewirkte, daß wir beide uns so sehr lieb gewannen. Mein Talent erkannte er an und erzeigte mir die Ehre, mich nicht wie ein Kind, was ich doch am Ende noch war, sondern wie einen Gleichaltrigen zu behandeln, was ich ihm denn mit grenzenloser Anhänglichkeit und gefälligster Folgsamkeit vergalt. Zwischen uns hat daher wohl nie eine verkümmerte oder verbitterte Stimmung bestanden, dergleichen doch sonst unvermeidlich zu sein pflegt, wo der Erzieher nur wenige Jahre vor dem Zögling voraus hat. Joseph war Mediciner. Von allen Studenten sind die Mediciner am fleißigsten, die Juristen am faulsten: denn Jene führt ihr Fach auf den Gebieten der Naturwissenschaft, der Anatomie und Physiologie unmittelbar an’s Praktische, an’s Sammeln, Untersuchen und Selbstsehen, während den Juristen bei dem gänzlichen Mangel an Redeübungen ihr Recht ein blos gelehrter und trockener Stoff bleibt, den sie erst spät im wirklichen Gerichtsgebrauch flüssig machen können. Auch mein Freund entwickelte sofort eine rüstige Thätigkeit. Eine Pflanzensammlung wurde angelegt, Schädel und Beinknochen wurden mit Prügelgefahr aus dem Beinhäuschen zu Dottendorf entwendet und ein anatomischer Atlas angeschafft, wo man Venen und Arterien durch blaue und rothe Färbung bezeichnete. In allen diesen Dingen half ich mit, denn ein jeder Enthusiasmus, auch der wissenschaftliche, entzündet den Knaben. In’s Leben der Natur und des menschlichen Körpers that ich hier eigentlich die ersten Blicke. Ich dictirte meinem Freunde Abends, wenn etwa ein versäumtes Colleg nachzuschreiben war: eine Semiotik, die zu hören er nicht Gelegenheit hatte, habe ich ihm so fast ganz aus dem Hefte eines Bekannten in die Feder gegeben, und manches ist dann von diesem medicinischen Dilettiren bei mir hangen geblieben. Auch wo ihm in seinem Fache oder beim Lateinschreiben ein sprachlicher Scrupel aufstieß, konnte ich zuweilen helfen, da ich in die Sprachen tiefer als er eingedrungen bin. Dafür nahm er sich nun treulich meiner Erziehung an, schliff eine Masse von Vorurtheilen weg, die meine klösterlich abgesperrte Jugend mir angebildet hatte, und that mein Auge für die wirkliche Welt auf. Ich war ja auf gutem Wege, ein beschränkter, eigensinniger und kränklicher Gelehrter zu werden, mein Gesicht und meine Brust durch Ueberarbeitung zu verderben und der Schwindsucht rettungslos zu verfallen, wenn ich in der Treibhaushitze, wie zu Oberkassel, fortgeschanzt hätte. Davon hat Bücheler durch eine einzige Zurechtweisung mich befreit. Wie er an allem Volksthümlichen seinen Spaß hatte, sagte er eines Tages für sich den rheinischen Kinderreim auf:

Schneck, Schneck, komm eraus,
Et setz ene Deev an dingem Haus,
Dä süff dir all die Melch aus!

Ich hatte das nie gehört und lachte über die albernen Verse hell auf. Da sagte er: „Junge, jetzt siehst Du, was Du für ein Kerl bist. Latein kann er, Griechisch kann er, Hebräisch kann er, aber ‚Schneck, Schneck‘, das kennt er nicht. Nun bist Du doch wohl tausend Mal an Kindern vorbeigegangen, die eine Schnecke wollten aus ihrem Hause kriechen sehen und das Liedchen singen, und hast nie darauf gehört. Junge, tue Deine Ohren offen! Thue Deine Augen offen und beobachte, statt daß Du ewig in Dich hineinträumst!“ Diese polternd und halb ärgerlich ausgestoßenen Worte wirkten auf mich wie ein luftreinigendes Gewitter: nicht mein Vater, nicht meine Mutter, keine Lehrer noch Bücher haben so rasch und praktisch mir eine neue Lebensrichtung gegeben, als Joseph Bücheler mir mit der großen Lehre gab: Beobachte! Von diesem Augenblick an sprang ich aus dem Schwärmer in den Forscher, aus dem gedankenlos Studirenden in den Dichter herüber. Beobachten wurde mir jetzt die höchste Lebenskunst, die ich an Menschen, an der Natur, an mir selber unablässig übte – und ich glaube auch in diesem Hauptstudium des Dichters gute Fortschritte gemacht zu haben. Erst von diesem Tage an lebte mir die Welt, erschlossen sich mir die Pforten der Kunst. Das Kleinste, an dem ich sonst in kindischem Wissensdünkel vornehm vorbei ging, wurde mir wichtig; mit den äußeren Sinnen ging mir gleichzeitig das Herz auf zur Mitempfindung mit Allem, was da lebt und webt, und aus Farbe, Linie und Ton sprudelten mir frische Quellen des Genusses. Diesen Sinn der Beobachtung im Kinde zu wecken, das ist mir von jener Stunde an als die oberste Pflicht des Erziehers erschienen: die meisten Unglücklichen sind deshalb unglücklich, weil in ihnen dieses Vermögen nicht zum Leben gekommen ist.

Blicke ich in meine Bildungsgeschichte zurück, so finde ich, daß ich weit mehr durch Frauen als durch Männer gefördert worden bin. Sie waren es, die den Trieb und Ehrgeiz geistigen Fortschrittes in mir wach riefen, mich von jeder Rohheit oder maßlosen Leidenschaft reinigten und das Unbestimmte meiner Gedanken und Gefühle zu festen Ueberzeugungen und Entschlüssen ausprägten. Auch sind die Frauen die Musen meiner Dichtung gewesen: ich habe kaum ein Lied geschrieben, das ich nicht zunächst einer Freundin bestimmte. Und so waren auch mir die Frauen stets hold und haben klug und wohlwollend meine Erziehung vollendet.

Meine erste Freundin sollte ich gleichfalls Joseph Bücheler verdanken. Unfern dem Hause des Gerichtsvollziehers, auf dem mit dem sonderbaren Namen Butterweck bezeichneten Hügel, bewohnte ein alter Hauptmann ein kleines und bescheidenes Quartier. Er lebte, und gewiß oft mit Sorgen, von seiner Pension und von Portraits berühmter Zeitgenossen, die er in Steindruck herausgab. Ihm führte die Wirthschaft eine junge Verwandte, Fräulein Karoline von R., die aus Lothringen stammte, aber ihrem Blut und Wesen nach durchaus eine Französin war. Ein dunkler Teint mit leuchtenden braunen Augen, eine anmuthig leichte Gestalt mit dem feinsten, schwebendsten Fuße, vor Allem aber eine südliche Lebendigkeit der Bewegung und Sprache gaben ihr etwas Fremdartiges, das sie im Vergleich mit deutschen Mädchen über alle Maßen anziehend machte; es fehlte, glaub’ ich, auch der überaus gefährliche Reiz des feinsten Schnurrbärtchens nicht, der den Töchtern der Garonne und des Ebro einen doppelt lockenden Mund giebt. Am hinreißendsten war sie beim Federballspiel, das sie leidenschaftlich liebte, eine Uebung, wie gemacht dazu, ihren schlanken und wunderbar behenden Bau im reizendsten Linienspiel und ihr lebhaftes Auge im fröhlichsten Feuer des Aufmerkens zu zeigen.

Durch die Hauswirthin des Hauptmanns waren die Bücheler’schen Söhne mit diesem und seiner Nichte bekannt geworden, und grade der Jüngste konnte sein Herz nicht retten. Ich glaube, daß er schon als Gymnasiast das Fräulein geliebt hat, und so ereignete sich hier der in der Herzensgeschichte unserer Tage seltene Fall, daß ein junger Mann seine Liebe zu einer Dame, die noch dazu älter war als er, durch Gymnasium, Universität und Examen bis in die Praxis hindurchgetragen, also nach wenigstens achtjähriger Treue in eine glückliche Ehe umgewandelt hat, denn glücklich waren meine beiden Freunde, als ich sie vor vielen Jahren in Düsseldorf besuchte, wo Bücheler jetzt als praktischer Arzt in stiller, edler Thätigkeit für das Wohl der Armuth lebt. Ein älterer Jüngling hätte in diesen Bund

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_099.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)