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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Scheitel bis zur Sohle, ist in jeder Ader und Fiber dichterischer Realismus, und auf diese unvergleichliche Schöpfung darf, wie übrigens auf die Goethe’schen Frauen- und Mädchengestalten überhaupt, mit vollem Recht angewandt werden, was der Dichter seinen Tasso mit weit geringerer Berechtigung von dessen Gebilden sagen ließ:

„Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte;
Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.“




Das Inquisitionsverfahren gegen den Dr. Sydow.


Seit dem Vorgange jener gegen Twesten eingeleiteten Untersuchung hat keine Procedur der preußischen Behörden ein so allgemeines Erstaunen hervorgerufen, wie das am 2. December vor. J. vom Berliner Consistorium gefällte Erkenntniß, durch welches der Berliner Prediger Dr. Sydow seines geistlichen Amtes wegen grober Irrlehre entsetzt worden ist. Wer da wußte, was die im Geiste strenger Rechtgläubigkeit besetzten und geleiteten Consistorien auch jetzt noch in Preußen bedeuten, konnte von dem Ausgang der Untersuchung nicht gerade überrascht sein, zumal das Berliner Consistorium von Zeit zu Zeit ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, das sich wie die Stimme des alten Moor aus tiefem und dunklem Kellergeschoß anhörte. Es hat über den Stillstand der Erde und den Rundgang der Sonne, welche ein Berliner Pastor, Herr Knak, freudig bekennt, seine Belehrung und Beschwichtigung veröffentlicht. Es hat ohne irgend welche Mißbilligung es geschehen lassen, daß auf einer Berliner Synode die Fanatiker der Orthodoxie die Entfernung ihrer zum Protestantenverein gehörenden Amtsgenossen fordern durften. Es hatte vor kurzem Dr. Lisco wegen eines über das apostolische Glaubensbekenntniß gehaltenen Vortrages zur Rechenschaft gezogen und abgekanzelt. Es hatte etwas längere Zeit vorher exorcistische Formeln zum Gebrauch auf der Kanzel verordnet gegen Christen, welche zum Judenthum übergetreten waren, und dabei eine Ansicht vom Judenthum kund gegeben, welche zu den Zeiten des Papstes Sylvester die herrschende war. Warum sollte diese selbige Behörde, welche die Monotonie der Berliner Börsen- und Gründergeschichten so oft durch gelegentliche Ueberraschungen unterbrochen hatte, nicht auch zu einer Absetzung angesehener Geistlichen schreiten?

Auch der Papst muß seine Allocutionen nach und nach stärker würzen, wenn sie Aufmerksamkeit erregen sollen. Wenn nichtsdestoweniger, und obwohl man dem brandenburgischen Consistorium neben geringer Erkenntniß der Zeit alle möglichen Erkenntnisse, also auch Ketzergerichte zutrauen konnte, der durch Sydow’s Absetzung hervorgebrachte Eindruck ein so allgemein überraschender war, so erklärt sich diese Erscheinung durch die heutigen Zeitverhältnisse, durch das ungewöhnliche Ansehen des verurtheilten Geistlichen und durch die Erwartung, daß das Berliner Inquisitionstribunal wahrscheinlich durch sein Vorgehen einen Anstoß zu weitgreifenden Veränderungen in der evangelischen Landeskirche Preußens darbieten könnte.

Besinnen wir uns einen Augenblick auf die Zeitverhältnisse. Preußen tritt an die Spitze des deutschen Reichs. Berlin beansprucht seinen Rang als Weltstadt. Der Minister Mühler ist aus der Weltstadt abgezogen und schreibt mit Hülfe seiner Lebensgefährtin einige Grundlinien alttestamentarisch-brandenburgischer Rechtsphilosophie auf Grund von Offenbarungen, die erst in Potsdam zur völligen Unklarheit herangewachsen sind. Gegen den unfehlbar gewordenen Papst in Rom beginnt der Reichskanzler und der Reichstag, gegen seine schwachen Söldlingstruppen der Minister Falk einen Feldzug, dessen Schlachten gewiß nicht mit der Schnelligkeit von Wörth und Sedan gewonnen werden. Deutschland schickt sich an, die weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen, welche den Hohenstaufen den Untergang brachte und Deutschland zerriß, welche Luther’s Kräfte überstieg und seit der französischen Revolution die besten Geister lahm legte. In dieser Epoche, in welcher, wie durch einen wunderbaren Lichtglanz erleuchtet, Deutschland die Nothwendigkeit begreift, die Fundamente der mittelalterlichen Hierarchie zu zertrümmern, damit ein auf Wahrheitssinn, Frömmigkeit, Wissenschaft und Volksthümlichkeit gegründetes Staatswesen aufwachsen kann, erklärt eine protestantische Kirchenbehörde in Berlin unter den Augen des Kaisers die Unfehlbarkeit von Bekenntnissen, welche theils vor dreihundert, theils vor fünfzehnhundert Jahren entstanden sind, indem sie sich selbst die Befugniß beilegt, in einer die protestantischen Gewissen bindenden, die gesammte historische Wissenschaft schlechthin verleugnenden Auslegung zu beschließen, was und wieviel von den Geistlichen bei Vermeidung des Amtsverlustes geglaubt werden soll. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts führt dieses Collegium eine an Papiergeschwulst leidende Disciplinaruntersuchung, die man einen theologischen Competenzconflict zwischen dem Zimmermann Joseph von Nazareth, einem überirdischen Wesen und der Jungfrau Maria nennen könnte. Das Consistorium examinirt einen Geistlichen, ob seiner Auffassung nach Joseph an der Entstehung Christi betheiligt, mitbetheiligt oder nicht betheiligt sei. Wenn Heine noch unter den Lebenden wäre, würde er in seinem Romanzero hinter dem Pater José noch ein Kampfgedicht zur Verherrlichung dieser Disputation eingeschaltet haben.

Wer den Hergang dieses Verfahrens genauer kennen zu lernen wünscht, möge die eben jetzt von Sydow selbst herausgegebenen „Actenstücke betreffend das vom königlichen Consistorium der Provinz Brandenburg über mich verhängte Disciplinarverfahren wegen meines Vortrags ‚über die wunderbare Geburt Jesu‘“ (Berlin 1873) nachlesen. Für die Gartenlaube eignet sich weder eine Recension noch eine Kritik, noch ein Auszug dieser Urkunden. Unsere Aufgabe, verschieden von derjenigen der politischen Presse, und derjenigen einer theologischen oder juristischen Zeitschrift, kann nur darin bestehen, in seinen allgemeinen Grundzügen ein Ereigniß zu schildern, welches keineswegs eine geringere Bedeutung hat, als etwa die Wiederholung eines Hexenprocesses haben würde. Denn dies darf allerdings behauptet werden: dem Bewußtsein der denkenden und gebildeten Protestanten bedeutet die Absetzung Sydow’s nicht viel weniger, als die Verbrennung einer Hexe.

Freilich giebt es auf der anderen Seite Pastoren genug, die, in dem Zeitalter der dogmatischen Pfahlbauten lebend, fest davon durchdrungen sind, daß solche Männer, wie Sydow und Lisco, völlig unberechtigt sind, die Kanzel zu besteigen. Wie der Katholicismus, ebenso hat auch der Protestantismus seine „jüngere Generation“. Diese „Jungen“ zwitschern aber ganz anders, als die Alten sungen. Wie bei den Katholiken Wessenberg sich verhält zu dem Bischof Ketteler oder Martin, so verhält sich bei den preußischen Protestanten Schleiermacher zu Hengstenberg und Stahl. Der theologische Unterricht an den preußischen Universitäten hat deshalb geleistet, was die Knabenseminare katholischer Bischöfe zu Wege gebracht haben. Auf allen Synoden, in den Pastoralconferenzen, in den Consistorien sind es die „Jungen“, welche auf Vernunft und Wissenschaft wie auf überwundene Standpunkte hinabblicken und bemüht sind, die Verbindung zwischen Religion und Leben zu zersetzen, indem sie mit den Reagentien einer stets bereiten Verfolgungssucht ein dogmatisches Präparat herstellen, welches sie die „reine lutheranische Lehre“ nennen.

Unter diesen Geisteszwergen ragt, einem anderen Zeitalter angehörend, Sydow’s hohe Priestergestalt mächtig empor. Wer dem Greise zufällig in den Straßen begegnet und die Gesichtszüge der Straßenwanderer mit Aufmerksamkeit und Theilnahme beobachtet, bleibt sicherlich einen Augenblick stehen, um sich noch einmal umzuschauen nach dem Bilde, das ihm in Sydow entgegentrat. Ebensowenig vergessen ihn diejenigen, die seine klangvoll tiefe Stimme reden hörten. Wofür er zu halten ist, wird der nicht errathen, der ihm zum ersten Mal begegnet. Es fehlt ihm ganz und gar, was wir das „Pastorenwesen“ nennen möchten, der moderne Stempel des consistorialen Typus, jene Selbstgerechtigkeit, welche in Blick und Geberde, in Tracht und Rede theologischen Sauerstoff ausathmet.

Sydow ist am 23. November 1800 in Charlottenburg geboren. Nach beendigten Universitätsstudien am 1. März 1822 als Repetent beim Berliner Cadettenhaus angestellt, bestand er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_083.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)