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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Faust, einem Tell, einem Othello oder Hamlet eine noch ganz andere Würdigung und Begeisterung. Diese erntete Holtei viele Jahre lang in den verschiendensten deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, und selbst in Weimar erschloß er erst durch seinen Vortrag das erste höhere Verständniß für den Faust. Dies bekannte mit besonderer Begeisterung Goethe’s Sohn, der ihm bis dahin fremd, ja feindlich gesinnt gewesen war. Durch diesen Faust wurden sie sofort auf Lebenszeit die allervertrautesten Freunde, so daß wir Holtei über ihn, sowie über den Vater die mannigfaltigsten Aufschlüsse aus persönlichen Erinnerungen verdanken.

Karl von Holtei.

Nachdem das erste Eis des Alters und der Vornehmheit weggethaut war, durfte Holtei mit dem greisen Goethe essen, trinken und plaudern, wie wenige andere Günstlinge. So verdanken wir ihm in den „Vierzig Jahren“, zugleich einer Biographie des Jahrhunderts von etwa 1820 – 1850, eine schätzbare Menge von wörtlich festgehaltenen und niedergeschriebenen Aussprüchen des schon ziemlich unnahbar und nach außen wortkarg gewordenen Zeus auf unserem Olymp.

Holtei’s persönliche Erinnerungen an das Goethe’sche Haus richten unseren Blick in den Literaturhimmel dieses Jahrhunderts, an welchem wir mit seinen Augen Stern an Stern der verschiedensten Größen mit allen Graden von Schimmer und Umlaufszeit entdecken. Wenn wir seine „Vierzig Jahre“ durchlesen, glauben wir, daß kaum einer dieser Sterne durch seine Abwesenheit glänzen könne. Man sollte meinen, es müßten hauptsächlich Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen, Theaterdichter und dergleichen Vagabunden sein. Allerdings fehlt von ihnen wohl kaum einer mit gutem Namen, aber wir finden ihn auch bei Lafayette, Humboldt, Eduard Gans, sogar Hegel und selbst bei Metternich. Gewann er doch als Schlesier in Wien zur höchsten Entrüstung der österreichischen Dichter den ausgeschriebenen Preis auf die Nationalhymne für den Kaiser Ferdinand. Nur durch Grillparzer’s edelmüthige Vermittelung wurde es möglich, den dadurch beleidigten Nationalstolz der Wiener Poeten zu beschwichtigen.

Der lieblichste Stern des Jahrhunderts war jedenfalls Henriette Sontag, deren europäischer Ruhm in dem Königstädtischen Theater zu Berlin unter Holtei’s Regie begründet ward. Damals war er schon zum ersten Male Wittwer und konnte seine große Wohnung in der Kaiserstraße ihr und den Ihrigen abtreten. So lernte er sie besser würdigen, als die Tausende, deren Begeisterung zum Theil bis zum Wahnsinn stieg. Deshalb hier ein Zeugniß von ihm, welches möglicher Weise noch jetzigen Sängerinnen nützen mag: „Ich habe schönere Frauen gesehen, größere Schauspielerinnen, gewaltigere Stimmen gehört, vielleicht auch höhere Virtuosität des Gesanges; aber einen so innigen Verein von Anmuth, Reiz, Wohllaut, Ausbildung aller künstlerischen Fähigkeiten, Darstellungsgabe, besonnener Anwendung der gegebenen Mittel und bescheidener Coquetterie hatt’ ich nie und nirgends zu bewundern.

An freien Tagen fuhren wir über Land, wo Henriette sich im Grünen umhertrieb, wie ein Kind. Abends nach dem Essen saß sie manchmal Stunden lang am Clavier und sang, am liebsten nach Clavierauszügen Mozart’scher Opern. Und dann wühlte sie sich förmlich in die Tondichtung hinein, wie die Bienen in den Blumenkelch. Das dauerte oft bis in die Nacht. Einmal durchspielte und durchsang sie die ganze Zauberflöte. In solchen Stunden sprach der Genius aus ihr. Selbstvergessen ohne einen Gedanken an äußerliche Rücksichten, ließ sie ihr ganzes Herz aufgehen. Die Künstlerin trat in ihre vollen Menschenrechte. Im weißen, leichten Sommernachtkleide, das blonde Haar in halbaufgelösten Locken über ein blühendes Gesicht, das schöne Auge wie verklärt, weinte, lachte, zürnte und scherzte sie in vollen, klaren Tönen. Zu unpassenden, wenn auch noch so prächtigen Operneinlagen ließ sie sich in reiner Würdigung ihrer Tondichter nie bewegen.“

Die Geister aller Gebiete waren damals in aller Unschuld unbewußt gegen das politische Gefängnißleben verschworen. Alle wirkten und hielten zusammen, um die ideale Welt mit Kraft und Waffen zu versorgen. Man mußte Holtei, diesen Kometen, der durch unzählige dieser Sterne hindurchgegangen war, darüber hören. Er wußte es selbst nicht und erstaunte um so mehr, wenn er auf dieses unbewußte Zusammenwirken und die Folgen seiner eignen unterthantreuesten Dichtungen und Vorträge aufmerksam gemacht ward. Wie fließen ihre Lichter noch jetzt aus seinen „Vierzig Jahren“ zusammen! Die ästhetischen Abende in Berlin, damals wirkliche Vereinigungen für Kunst, Schönheit, Wissenschaft, Idealität mit dünnem Thee und dünnen Butterbroden (statt der jetzigen Schmausereien) bei Meyerbeer, Varnhagen und der Rahel, bei der Viardot-Garcia, der Hahn-Hahn, später bei Mundt, ernstlich in der „Mittwochsgesellschaft“, mit wildestem Humor im „Tollhause“ und dem „Tempel der Tugend“, unter den „Biedermännern“ in Leipzig und dem „Ludlam“ in Wien, bei Tieck in Dresden, bei Goethe in Weimar, in den Salons von Paris mit Lafayette, Benjamin Constant, Dr. Gall,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_048.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)