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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

fortgesponnen – nur leider hat uns Allen zuletzt der Pisistratus gefehlt, der das Vorhandene in ein geschlossenes Werk gesammelt hätte, und so dürfte wohl von den zahlreichen, damals gemachten Abschriften jetzt keine mehr dem Loose entgangen sein, das auch die meisten Nachahmer des großen Ioniers betroffen hat. Im Uebrigen war der ganze Spaß darum so harmlos, weil er durch seine hirntollen Uebertreibungen den Gedanken an eine Verleumdung oder ein Pasquill nicht im Entferntesten aufkommen ließ, auch der Verehrung nicht den mindesten Eintrag that, welche wir fortwährend dem greisen Professor zollten. Und deshalb darf ich getrost, ohne den Schein der Undankbarkeit auf mich zu laden, zu vielen dieser Verse mich bekennen, an denen übrigens wohl sechs bis acht von uns Antheil hatten. Die meisten hat Hermann Velten geschrieben, der jetzt praktischer Arzt zu Aachen ist und damals in höherem Grade als wir Alle ein poetisches Talent entfaltete, das er später nicht fleißig genug gepflegt hat.




Der Dichter-Vagabund des Jahrhunderts.

Ein Gedenkblatt zu seinem sechsundsiebenzigsten Geburtstage.

Schier sechsundsiebenzig, meist ungebundene Jahre ist er alt am 24. Januar, dem Geburtstage Friedrichs des Großen, und ungefähr ebenso viele Bände hat er geschrieben, hat mehr Stürme erlebt wie sein volksthümlicher alter Mantel, und wie sein alter Feldherr nichts gerettet als „die Ehr’ und das alternde Haupt“. Er, der Verschwender, wie konnte er auch? Und doch ist er reicher als mancher Millionär und sicherer seines Eigenthums als der moderne Crösus mit diebes- und feuerfesten Arnheims.

Ja, Karl von Holtei, dessen Biographie die Gartenlaube bereits im Jahrgange 1860 brachte, ehedem der lange, schwarze, nun seit Jahren der lange, weiße Dichtervagabund des Jahrhunderts, schwelgt noch jetzt lange, schlaflose Nächte hindurch in unermeßlichen Reichthümern und hat der Welt ein Leben, eine Liederspiellust, eine lebendige Erinnerung an fast unzählige Größen des Jahrhunderts in Poesie, Kunst und Wissenschaft hinterlassen. – Ja, das war ein Leben! Günstigste und ungünstigste Erfolge im Leben und auf der Bühne, Liebesgunst der besten Frauen, ein eigenster Gesang, Mitlust jeder guten That, doppelter Ehe- und Wehestand, Freunde und Feinde, Stürme, die ihn in ganz Deutschland und bis nach Rußland hinein umherwirbelten, innere und äußere Kämpfe, Wonnen und Schmerzen, Leben und Streben, Grab und Tod, frische Blumen und graue Haare, Unglück und Verlust durch eigene Thorheit und fremde Schuld, Wehmuth, Demuth, Stolz, Hartnäckigkeit und Entsagung und vom Anfange bis zum Ende schmerz- und scherzhafte herzliche Offenheit – und Alles zusammen zugleich das großartigste Kaleidoskop des Jahrhunderts.

Wir ehren und lieben viel größere Dichter; aber nur selten ist es einem gelungen, so weit und breit in das deutsche Volk einzudringen und sich in dessen Gesängen zu halten, wie ihm. Noch ganz jung an Ruhm und Jahren ward er schon in Paris von deutschen Handwerksburschen mit seinen Liedern umfangen. Keine deutsche Universität, keine Herberge oder Kneipe, vielleicht kaum ein deutsches Dorf, wo nicht das „Schier dreißig Jahre“, „Die Ehr’ und das alternde Haupt“, „Lagienka“, „In Berlin sagt’r“, „War’s vielleicht um Eins“, „Im Januar, da führen uns die Männer auf das Eis“ mit Behagen und Wonne gesungen worden wäre. Schon als Kind hörte ich diese Melodien aus allen möglichen deutschen Winkeln singen oder mindestens pfeifen. Dann sang ich auf Schulen und Universitäten selber tapfer mit, und noch im vorigen Sommer zogen in Thüringen ährenlesende Jungen und Mädchen mit „dem Mantel“ an mir vorbei, an welchem „die Fetzen ’runterhangen“ und mit der „Ehr’ und dem alternden Haupt“. Allerdings wußten sie nur Bruchstücke vom Texte, aber sie pfiffen und quiekten dann wenigstens die Melodie. Für Schlesien ward er auch zum „Hebel“. Und hätte er nichts im schlesischen Dialekt gedichtet als seinen „Gruß an Hebel“, wäre er schon einer. Zwölf Auflagen dieser schlesischen Gedichte beweisen, wie sie von seinen Landsleuten verstanden und geliebt werden. Die „Schlesinger“ in Leipzig hatten ihm 1869 einen Blumenstrauß, „a Riechel gebracht, für ihn aparte geklaubt und gesucht“. Und da bedankt er sich denn und stirbt und hört noch im Sarge: „A is in Armut versturben, verläßt ack blußich die Riechel“.

„Do schreit’s aus em Sarge: Ihr sölld’t Euch schämen,
Ihr Geldkärle künnt mer an Reichthum nich nehmen,
Sulche Riechel, die sein nich zu kofen. Die ha’n
Annen Werth, dän kee Guld nich bezahlen kan;
Die sein’s Erbtheel für meine Enkelkinder.“

Diese Art von Dichtung ist natürlich hauptsächlich unter den Schlesiern, die überall in deutschen Großstädten von tief unten bis zu Dankelmann, Seidelmann, Beckmann, Rother, Fleck, Raupach, Schleiermacher, Kletke, Löwenstein, Magazin-Lehmann, Titus Ulrich u. s. w. vertreten sind, volksthümlich geworden; Holtei’s Lieder und Liederspiele waren es und sind es zum Theil noch in ganz Deutschland. Wohl kaum hielt sich je ein Lieder-, Lust- oder Trauerspiel so lange und drang so tief bis in die ärmlichsten Repertoires der Dorfthespiskarren als etwa: „Die Wiener in Berlin“, „Dreiunddreißig Minuten in Grüneberg“ und sonstige, oft während einer einzigen Nacht vollendete Kleinigkeiten für die größten Darsteller und Darstellerinnen ihrer Zeit. „Der alte Feldherr“, zugleich ein hübsches Stück Cultur- und Censurgeschichte des damaligen Berlin, „Leonore“, „Lorbeerbaum und Bettelstab“ blieben über ein ganzes Menschenalter auch auf großen Bühnen Zugstücke. Seine Romane sind zwar zum Theil nur Leihbibliothekwaare, aber „Die Vagabunden“ wenigstens stehen und halten sich mit Recht neben den meisterhaftesten Verherrlichungen des urewigen deutschen Idealismus und seines Sieges über die angebetete Macht des Militarismus, Materialismus und Mammonismus. Auch wird der von moderner Moderomanlectüre Ermüdete einmal gern wieder das „Haus Treustein“ besuchen, mit „Christian Lammfell“ fürlieb nehmen, den „Schneider“ in seiner Werkstatt, „Die Komödianten“ auf ihren Brettern und „Die Eselsfresser“ mit ihrem Appetite lieb gewinnen.

Von den Dichtungen, durch welche Holtei sich so viel Ruhm und Liebe erwarb, mag ein großer Theil als Maculatur untergehen, aber ein Dutzend dieser Münzen behalten sicherlich ewig Klang und Umlauf. Wir wollen zu seinem sechsundsiebenzigsten Geburtstage ihn und uns nur noch an zwei große Capitalschätze erinnern, die dramatischen Vorträge und seine lebendigen Zeugnisse von der Persönlichkeit und Freundschaft unzähliger Größen unseres Jahrhunderts. Zwar hat er als Schauspieler, Regisseur und Director oft Wunder gethan und mit den kleinsten Mitteln unter ungünstigen Verhältnissen oft überraschende Erfolge gefeiert; aber das Unglück dabei, das vergebliche Ringen gegen Mißtrauen und Tzschoppe’s[WS 1], des berüchtigten Demagogenriechers, Herodes-Politik wider die unschuldigsten Kinder freisinniger Gedanken, Launenhaftigkeit des Publicums und Knickerei von Theaterpotentaten waren durchweg größer und drückten ihn oft bis zum Menschenhaß nieder. Für den ganzen „Majoratsherrn“ bekam er zwölf Thaler Honorar und für ein allerhöchst befohlenes Theaterstück, das in Potsdam ausschließlich für den König und dessen Hof aufgeführt ward, durch Tzschoppe’s Einfluß zwanzig Thaler, wobei sich letzterer noch vornahm, künftig für „mäßigere“ Honorare zu sorgen.

Desto nachhaltiger wirkt er als der erste dramatische Vortragskünstler noch in seinen Nachfolgern Palleske, Wauer, Genée und Türschmann fort. Er war der Schöpfer und erste Bildner dieser segensreichen künstlerischen Thätigkeit, durch welche es Mittel- und kleinen Städten ohne Theater seitdem vergönnt wird, die Meisterwerke unserer Dichter mit allen, ja sogar schöneren Wirkungen wirklicher dramatischer Aufführung kennen zu lernen und zu genießen, und sich wenigstens dann und wann aus der trägen Oede ihres Philisterlebens in die befreiende Schönheit des Ideals erheben zu lassen. Karl von Holtei wurde zugleich der erste Shakespeare-Apostel (Tieck, der erste, wanderte nicht), und zwar mit solcher Wirkung, daß er selbst in Städten, die sonst nichts Höheres kannten als Schweinemast und Fellgerberei, Verständniß und Begeisterung fand. Ueberhaupt ist das Volk überall, selbst in dem jetzigen possendemoralisirten Berlin, für das Höchste und Schönste unserer Dichter empfänglich und dankbar, und wenn sich um Offenbachiaden und Kallenbachiaden herum dichtgedrängte Bestialität noch immer herrlich offenbart, so beweisen vom gemeinen

Volke gefüllte Theater in den Vorstädten Berlins einem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gustav Adolf von Tzschoppe, Vorlage: Tschoppe
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_047.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)