Seite:Die Gartenlaube (1873) 033.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Seehundsjagd auf dem Eise.
Aus dem baltischen Meer.


„Klar zum Wenden! Steuer in Lee! Laßt das Focksegel los!“ so tönten die abgebrochenen Commandoworte des alten Andrus, an seinen Begleiter, den jungen Lars, gerichtet, laut über die von einer leichten Brise bewegte See. Er hatte mir gestattet, eine Ausfahrt zur Seehundsjagd mitzumachen, und rasch flog das scharfgebaute Boot, öfter ganz auf die Leeseite sich neigend, durch die schäumenden Wellen, deren Kämme, von der klar aufgehenden Sonne vergoldet, sich brandend an der steilen Küste der Felseninsel Odinsholm (vor der Nordwestküste von Esthland) brachen, zuweilen aber auch unbescheiden genug sich in unser ohnehin enges Fahrzeug drängten. Es galt noch vor Mittag das Festland zu erreichen, wo theils an dem sandigen Ufer, theils auf abgeplatteten Granitsteinen die Seehunde ihre Mittagsruhe zu halten pflegten.

„Nun, Vater Andrus,“ begann ich, als das Boot eine gerade und feste Fahrt angenommen hatte, „wie wäre es, wenn wir einen kleinen Gedankensammler uns zu Gemüthe führten?“ Der Alte schmunzelte, als ich ihm mein Fläschchen mit seinem Liqueur hinreichte, setzte es an den Mund und reichte es mir fast zur Hälfte geleert zurück, nur mit einem freundlichen Blicke dankend.

„Viel Zucker und wenig Sprit!“ sagte er endlich, „doch in der Morgenfrische fast so gut wie reiner Korn!“

Sich bequemer neben das Feuer streckend, zündete er sein Pfeifchen an und schaute mit scharfen Blicken, doch mit höchst gemüthlicher Ruhe auf das noch ferne Ziel unserer Fahrt, das Vorgebirge Spitham, dem wir uns nur durch wiederholte Schläge kreuzend nähern konnten. Diese Spitze des Festlandes bezeichnet den Anfang des finnischen Meerbusens und ist nach Norden und Westen hin mit unzähligen kleinen Sandbänken, Riffen und einzelnen erratischen Blöcken umsäumt, daher ein sehr beliebter Aufenthaltsort der Robben. Da die Strandbewohner selbst nur ausnahmsweise sich mit dem Seehundsfange beschäftigen, kommen seit langer Zeit jährlich von Runö, der mitten im Meerbusen von Riga liegenden Insel mit ihrer kühnen, noch immer schwedisch sprechenden Bewohnerschaft, einige Schützen hierher, wo sie auf den Inseln Worms, Nuckö und Odinsholm zum Theil eigene kleine Hütten bewohnen und von dem Ertrage des Fanges den Grundherren den Zehnten zahlen.

Andrus, der erst vor kurzer Zeit aus Runö gekommen war, galt für einen der gewandtesten und erfahrensten Seehundsjäger, und so wandte ich mich denn, nachdem er noch einen Schluck genommen, an ihn mit der Bitte, mir etwas über die Jagd und die Lebensweise der Robben mitzutheilen, da mich diese Thiere von Jugend auf interessirt hatten. Der Alte schüttelte lächelnd das Haupt, daß die langen hellblonden Haare, in die sich schon hin und wieder etwas Grau mischte, vom Winde über das wettergebräunte Gesicht mit den scharf markirten Zügen flatterten, strich dieselben etwas zurück und begann:

„Wenn Sie diese Thiere so stark interessirten, so haben Sie wahrscheinlich schon aus Büchern gelesen, daß die Robbe nicht blos bei uns im Norden lebt, sondern in allen Meeren ihr Daheim hat. Im Allgemeinen soll der Norden die meisten, der Süden die absonderlichsten Arten aufweisen. Die kleine schwarze Gattung zeichnet sich dadurch aus, daß bei ihr die Jungen etwa vier Wochen später geboren werden als bei den anderen. Im Februar sucht sich das Weibchen dieser Arten am Rande des Eises eine geschützte Stelle, die sich meistens leicht finden läßt, da durch Winde die Eisschollen zusammengetrieben und zum Theil aufgerichtet werden. Dadurch entstehen oft förmliche Häuser von vier Faden Höhe mit Stuben und Kammern, die, mit frischem Schnee ausgefüllt, den Thieren warme Wochenbetten gewähren. Die Mutter schwimmt, so lange ihr Junges noch nicht in’s Wasser sich wagen darf, in der Nähe umher, kommt aber täglich auf’s Eis, um ihr Kind zu säugen, indem sie es auf ihre Hinterfüße setzt und mit den Vorderfüßen fest an sich drückt. Bei jedem Besuche soll das Junge um sechs Pfund schwerer werden, so daß es schon nach drei Wochen an vierzig Pfund Speck angesetzt hat. In dieser Zeit verliert es das lange Haar, das es mit auf die Welt gebracht, und erhält den kurzen, glatten bräunlichen Pelz. Nun lernt es nach und nach schwimmen und, indem es sich nach der Entwöhnung mit der Fischkost vertraut gemacht, geht es selbst seiner Nahrung nach.

Wanderlustig sind die Robben fast alle, manche unternehmen sogar weitere Wanderungen; aber dennoch nimmt man an, daß, wo man im Meere auf Seehunde stößt, das Ufer höchstens dreißig Meilen entfernt ist. Am liebsten halten die nordischen Seehunde sich am Rande des festen Eises auf. Friert nun das Meer weiter hinaus zu, so daß der Zugang zu dem Neste, in welchem die Jungen liegen, gesperrt zu werden droht, so zerbrechen die Alten das noch dünne Eis durch einen Stoß mit der Schulter von unten und vergrößern das Loch mit den Vorderfüßen, so daß sie bequem hinaufkommen und in’s Wasser zurückkehren können. Einen solchen Aufschwung halten sie auch bei der strengsten Kälte eisfrei. Außerdem aber machen sie sich rings umher an verschiedenen Stellen mehrere (oft funfzig und mehr) kleine, cirkelrunde Löcher von kaum drei Zoll im Durchmesser, durch welche sie nur eben die Nase zum Athemholen stecken können, was wenigstens in jeder Viertelstunde einmal geschehen muß. In schneereichen Wintern legt die Robbe ihr Nest vollständig unter dem Schnee an, und macht sich von da aus lange Gänge, wie ein Maulwurf, so daß man von außen nichts bemerken kann. Auch die Oeffnungen zum Eintauchen und zum Athemholen sind von Schnee bedeckt, der gewöhnlich oben auf so hart gefroren ist, daß man, ohne etwas davon zu ahnen, über ihre Wohnungen hinwegschreitet. Im April löst sich das Eis und mit den Schollen entfernt sich auch der Seehund, doch bleibt er auch jetzt möglichst nahe an der Küste, weil die Fische, die seine Nahrung ausmachen, sich im Frühjahr in die kleinen Flüsse und Buchten des Meeres begeben, um darin ihren Laich abzulegen. Hat der Seehund einen größeren Fisch gefangen, so klettert er damit auf’s Eis oder auf einen Stein, um ihn in größerer Gemüthlichkeit zu verzehren.

Unsere Böte, von sechs oder acht Mann besetzt, verweilen fast den ganzen Sommer hier oder an nördlichen Küsten, wo wir unser Wild finden. Kommen wir mit Beute zurück, so wird der Speck nach der Zahl der Personen getheilt, doch vorher der Zehnte für den Pastor abgewogen. Das Fell gehört den Schützen. Außer dem wenigen, woraus wir für eigenen Bedarf[1] Thran ausschmelzen, verkaufen wir allen übrigen Speck nach Riga, um uns Pulver, Blei, Kleidungsstücke und Korn dafür wieder einzutauschen, und unsere Abgaben zu bezahlen. Das Fleisch, so viel von demselben nicht auf der Reise frisch verzehrt wird, pflegen wir zu räuchern und zur Nahrung für den Winter aufzubewahren.“

Meine weiteren Fragen wurden durch den leisen Ruf des Alten abgeschnitten: „Segel eingezogen!“ Das Boot wendete sich gegen den Wind, Lars beeilte sich dem Befehl zu gehorchen, und nach einigen Ruderschlägen stieß der Kiel auf den Grund einer Sandbank. Aufmerksam blickten die beiden Runöer auf ein naheliegendes Riff, auf dem auch ich Etwas sich bewegen sah, was ich anfangs für liegende Kühe hielt. Vorsichtig stieg der Alte aus und ich folgte ihm rasch. Wir mußten über eine kleine Insel und dann durch mehrere seichte Meeresarme mit lehmigem Grunde waten, in den man mit jedem Schritte einsank und schwer vorwärts kommen konnte. Hinter einem großen Granitblocke, der vielleicht hundertfünfzig Schritte von dem Riffe entfernt lag, machten wir Halt, um uns zu erholen, und überschauten die Gruppe. Es waren drei Thiere, eins etwas kleiner als die anderen, also sicher eine Familie, die sich im Gefühl vollkommenster Sicherheit behaglich ausgestreckt und sanfter Ruhe überlassen hatte. Andrus flüsterte mir zu, ich möge ihm bis zu einem ähnlichen Steine folgen. So krochen wir denn auf allen Vieren über die scharfen Steine der eisigen Sandbank durch einige Wasserpfützen hindurch bis zu einem ähnlichen Felsblocke, und hatten nun das werthvolle Wild ganz nahe vor uns. Der Anweisung meines Gefährten gemäß, legte ich auf den mir zunächst liegenden Seehund an, indem ich auf das Auge zielte, obgleich dieses mir nicht ganz zugewendet war. Fast in dem nämlichen Augenblicke mit Andrus drückte ich auch ab. Alle drei Thiere stürzten von

  1. Vorlage: „Bedraf“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_033.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)