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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

bähete ihm die Herzgrube mit warmem Wein. Das bekam ihm gut und ermunterte seine Lunge zum Athmen. Das Kind that die Augen auf – große, dunkelbraune, strahlende wie die mütterlichen – und wimmerte das Licht an wie der allergewöhnlichste neugeborene Sterbliche. Denn

„Wenn wir geboren werden, weinen wir,
Daß wir die große Narrenbühne Welt
Beschreiten müssen“ –

steht ja geschrieben beim menschengeschickekundigsten Seher. Aber die einundachtzigjährige Großmutter Cornelia trat an das Lager der Wöchnerin mit der frohen Botschaft: „Räthin, er lebt!“ und die Eltern freuten sich, jedes in seiner Art: der Vater, Johann Kaspar, würdevoll und stillvergnügt, wie es einem kaiserlichen Titular-Rath geziemte, und die Mutter Katharina Elisabeth hellauf in Begeisterung. Das ist ja das größte Wunder in dieser unserer wunderlichen Welt, daß Väter und Mütter immerfort und immerfort in Freude einander die Hände drücken, wenn ihnen gesagt wird: „der Junge lebt!“ oder „das Mädchen athmet!“ nicht bedenkend, daß dieses „lebt“ oder „athmet“ nur ein dunkles Räthsel ist, welches die Gegenwart der Zukunft aufgiebt und dessen Auflösung selten Glück, zumeist aber Leid, Schmerz, Enttäuschung, Ergebung oder Verzweiflung heißt.

Doch ob der Mittagsstunde jenes Augusttages standen, wie gesagt, glückverheißende Sterne. Es war, als wäre am Himmel Freude über das, was in dem alten Hause „im Hirschgraben“ in der alten Mainstadt vor sich ging. Auf Erden merkte man weiter nichts davon. Kein Zinkenist blies es vom Thurme, keine Glocke läutete es, keine Kanone donnerte es in das Land, daß ein Prinz, so recht ein kaiserlicher Kronprinz aus dem Reiche der Geister in’s irdische Dasein herabgeboren sei. Nur das innerhalb der Wände des niedrigen Zimmers verklingende großmütterliche Jubelwort: „Er lebt!“ weissagte unbewußt, daß Einer gekommen, der nie sterben würde, so lange es Menschenlippen gäbe, seinen Namen voll Ehrfurcht und Liebe zu nennen.

Der Genius wird nicht in Purpur geboren. Ein makedonischer Alexander und ein preußischer Fritz sind Ausnahmen, welche nur die Regel bestätigen. Einer der sinnvollsten Züge der christlichen Mythologie ist der, daß dem auf Golgatha gekreuzigten Propheten eine Stallkrippe zur Wiege gedient habe. Alles wahrhaft Große, Zukunftbereitende, am Räthselbau der Menschheit wirksam Schaffende hat seinen Ursprung im Volke. Von da unten steigen die eigentlichen Heldenrollenspieler auf die Bühne des ungeheuren Passionsspiels „Weltgeschichte“. Da unten mischen sich geheimnißvoll die Urstoffe und arbeiten die ewigen Kräfte, welche den Weltzusammenhang, von welchem kein Wissender etwas Rechtes weiß, bedingen und bestimmen. Aber freilich, Volk und Pöbel sind zweierlei, obwohl die Wahnpropheten unserer Tage beide mitsammen vermengen oder vielmehr jenes zu diesem verderben, herabwürdigen und vergemeinern möchten. Aus dem Pöbel ist noch nie und nirgends ein wirklich großer Mann hervorgegangen, aus dem Volke sind die größten alle gekommen. Der Pöbel ist die sociale Krankheit, das Volk die nationale Gesundheit. In irgend einem Bauernhause oder in irgend einer Werkstatt zeugt der elementare, gesunde, ewig frische Volksgeist einen embryonischen Genius, welcher Generationen hindurch in der Verborgenheit gezeitigt wird, bis er dann plötzlich hervortritt in vollendet schöner Erscheinungsform, um der Stolz seiner eigenen Zeit und die Freude und der Trost aller Zeiten zu sein, ein Halbgott, welchen sein irdischer Urahn, so er ihn sehen könnte, nur mit scheuem Staunen betrachten würde und nicht zu fassen, nicht zu begreifen vermöchte.

Wie hätte der Hans Christian Goethe, der so um 1655 herum zu Artern im Thüringerlande unter den Schlägen seines Hufschmiedhammers den Amboß dröhnen machte, wie hätte er es sich träumen lassen sollen, daß dermaleinst sein dunkler Name, von seinem Urenkel getragen, den Erdball umfliegen werde, daß vor diesem Namen alle gesitteten Völker vom Aufgang bis zum Niedergang huldigend sich neigen würden? Auch des thüringischen Hufschmieds Sohn Friedrich Georg konnte, als er um das Jahr 1684 mit Scheere und Bügeleisen im Felleisen durch das Bockenheimer Thor bescheidentlich in Frankfurt einging und die wegmüden Wanderburschenfüße über den Roßplatz schleppte, nicht ahnen, daß gerade da dereinst seinem Enkel ein Denkmal von Stein und Erz aufgerichtet werden würde. Ein fixer, gewitzter Schneidergesell übrigens, dieser Fritz Görge Goethe! Ein Mann von Welt so zu sagen. Hatte sie wenigstens gesehen, die „Welt“, und zwar mit offenen Augen und Ohren. War das dazumalen schon bedenklich wurmstichig gewordene heilige römische Reich deutscher Nation auf- und abgewandert, war auch „im Frankreich drein gewes’t“, jahrelang sogar. Aber als sein Bestes brachte er jedoch von seiner Wanderschaft die Gabe, die große Gabe mit, Mädchen- und Frauenaugen ein Wohlgefallen zu sein. Bringt das bekanntlich einen Mann vorwärts. Zunächst in der Gunst der muthmaßlich hübschen – die Frankfurterinnen, wie die Mainzerinnen sind so ziemlich alle hübsch, wenigstens hübsch: denn viele sind schön – Tochter seines Meisters Lutz, der ehr- und tugendsamen Jungfrau Anna Elisabeth, welche im Frühjahr von 1687 seine Ehefrau wurde und ihrem Gatten, welcher von der Stadt das Bürgerrecht und von der löblichen Schneiderzunft die Meisterschaft erlangt hatte, das „Geschäft“ ihres Vaters mit in den Haushalt brachte. Im Verlaufe der Zeit brachte sie ihm auch fünf Söhne, die uns aber weiter nichts angehen. Im Jahre 1700 starb sie und der Wittwer betrauerte sie nahezu fünf Jahre lang. Hätte er sie bis zu seinem eigenen Lebensende betrauert, so würde er seine Mission, der Großvater des größten deutschen Dichters zu werden, verfehlt haben, aus welcher Thatsache die Moral zu ziehen, daß es mitunter gut und rathsam, der Wittwertrauer Schranken zu setzen.

Der Meister von der Scheere und Nadel muß als ein nahezu Fünfziger noch immer ein liebenswürdiger Mann gewesen sein, und das fand die reiche, hübsche Wittwe Cornelia Schellhorn, Besitzerin des Gasthauses „zum Weidenhof“, auch heraus. Er hinwiederum, Friedrich Georg Goethe, nahm, nicht faul, das Heirathsglück zum zweiten Mal resolut beim Stirnhaar und hatte es nicht zu bereuen. Fünfundzwanzig Jahre hindurch lebte der vom Schneider zum Gastwirth Gewordene mit Frau Cornelia in glücklicher Ehe und hochbejahrt ist er 1730 gestorben. Seine Gattin hatte ihm drei Kinder geboren, von denen aber die beiden älteren noch vor dem Vater zu Grabe gegangen. Das dritte war der im Jahre 1710 zur Welt gekommene Johann Kaspar Goethe, der Erbe des mütterlichen Vermögens, wie er später beim Tode seines Halbbruders Hermann Jakob Goethe auch die Lutz’sche Hinterlassenschaft einheimsete.

Selber ein strebsamer Mann, hielt der Vater Friedrich Georg darauf, daß auch sein Sohn ein Strebender würde. Allein erst im Enkel sollte der Keim Goethe’scher Strebsamkeit vollschön aufgehen. Der gute Johann Kaspar – es ist erwähnenswerth, daß auch Schiller’s Vater gerade so geheißen hat – stand zwar, nachdem er ausgewachsen, sechs Fuß hoch in seinen Schnallenschuhen, reichte jedoch an Geist, Gaben und Charakter über das liebe Durchschnittsmittelmaß nicht hinweg. Er brachte es demzufolge allerdings nicht weiter als bis zum Bildungsphilister, wie er sein soll, war aber im Uebrigen ein vortrefflicher Mann und Familienvater. Er sollte ein „Studirter“ werden, empfing auf dem Gymnasium zu Coburg eine tüchtige humanistische Vorbildung, lag hierauf zu Leipzig dem Studium der Jurisprudenz ob, holte sich in Gießen den Doctortitel und that dann beim Reichskammergericht in Wetzlar Freiwilligendienst, um sich in die juristische Praxis einzuschießen. Er ließ diese jedoch links liegen, bildete mittelst Reisen in Holland, Frankreich und Italien seinen Kunstsinn aus, erwarb sich, um doch etwas zu heißen, den Titel eines kaiserlichen Raths, lebte fortan der Mehrung und Ordnung seiner Sammlungen von Kunstwerken und Raritäten, sowie allerhand gravitätisch-dilettantisch betriebenen Studien und wagte am 20. August 1748 den gescheitesten und glücklichsten Wurf seines Lebens, indem er am genannten Tage die siebenzehn und ein halbes Jahr junge Katharina Elisabeth Textor, des Schultheißen Johann Wolfgang Textor Töchterlein, als seine Räthin heimführte.

Durch diese Heirath war der Hufschmiedsenkel und Schneiderssohn in die ersten Kreise reichsstädtischen Bürgerthums eingeführt und er blieb sich all’ sein Lebenlang dieser seiner Stellung wohlbewußt. Ein stattlicher, steilaufgerichteter, rauchfleischtrockener, steifleinener Herr, aber eigentlich grundgut und durch und durch ehrenhaft. Von nicht gemeinem Wissen und voll Hochachtung vor Kunst und Kenntniß, liebte er in allen Sachen die Ordnung um ihrer selbst willen und behandelte Alles und Jedes mit jener zähen und, so zu sagen, sohlledernen Ernsthaftigkeit, welche, weil sie das Kleinste wie das Größte mit demselben Maßstabe mißt, leicht zur

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