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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


sechszehn Jahre rückwärts datirte. Er mußte im Gefängnisse schmachten, und so auch seine Tochter, welche die Richter getadelt hatte, und der Gatte derselben, der sich durch ihre Behandlung zur Drohung mit Rache hatte hinreißen lassen. Sechs Familienväter, die nichts Anderes gethan, als daß sie den bewaffneten französischen Calvinisten, welche die Wahlen in ihres Herrn Interesse „leiten“ mußten, Widerstand geleistet, wurden enthauptet und zwei davon überdies geviertheilt, worauf noch weitere Hinrichtungen und zahllose Verbannungen der Gegner Calvin’s folgten.

In den fünf Jahren von 1541 bis 1546, da die ganze Regierung Genfs unter Calvin’s Einflusse stand, wurden sechsundsiebenzig Menschen verbannt, acht- bis neunhundert eingekerkert und achtundfünfzig hingerichtet. Bei achtunddreißig der letzteren mußte damals die beliebte „Hexerei“ den Vorwand abgeben. Achtundzwanzig der Hingerichteten waren Frauen, unter ihnen auch die eigene Mutter des Scharfrichters, welcher gezwungen wurde, ihr die Hand abzuhauen und dann den Leib zu verbrennen, der ihn geboren. Eine der Unglücklichen erhängte sich aus Verzweiflung im Kerker; eine Andere stürzte sich aus dem Fenster; lebend aufgehoben, wurde sie doch noch verbrannt. In das Privatleben mischte man sich auf jede Weise. Bei der Taufe durften die Kinder keine anderen Namen erhalten als solche, welche in der Bibel standen; Musik und Tanz wurden verpönte Genüsse, und während Calvin’s Lebenszeit durfte nie mehr Theater gespielt werden. Man versuchte sogar, die Wirthshäuser zu unterdrücken, erzweckte aber damit keine Erfolge. Die Unsittlichkeit wuchs von Jahr zu Jahr, und zwar namentlich in Folge des Benehmens der französischen Einwanderer, vor deren Angriffen nicht einmal die Frauen in der Kirche sicher waren. Dabei ist nachgewiesen, daß von den Sittengesetzen zu Gunsten der dem herrschenden Systeme ergebenen Personen zahlreiche Ausnahmen gemacht wurden. Ja Solchen, die ihre Frauen in Frankreich zurückgelassen, wurde sogar erlaubt, in Genf zu neuer Ehe zu schreiten.

Calvin selbst bediente sich in seinen Predigten der unanständigsten Ausdrücke; er nannte Diejenigen, welche ihn nicht anhörten, Thiere, Hunde, Wölfe; er predigte, man müsse zwei Galgen errichten und daran sieben- bis achthundert junge Genfer aufhängen; ja er benahm sich so, daß selbst der ihm ergebene Rath ihn ermahnen mußte, „auf der Kanzel nicht so zu schreien.“

Seine Anhänger ahmten ihn getreulich nach. Der Pfarrer Chauvet, ein Gascogner, rief in der Predigt seinen andächtigen Zuhörern zu: „Pest, Krieg und Hunger sollen über Euch kommen.“ Der Prediger Treppereaux redete seine Pfarrkinder an: „Ihr seid Alle Teufel! Glaubt Ihr, dies Land gehöre Euch? Nein, es gehört mir und meinen Genossen, und Ihr sollt durch uns Fremde beherrscht werden, und würdet Ihr auch mit den Zähnen knirschen.“ Wie bescheiden Calvin war, zeigt seine Aeußerung auf der Kanzel: was er predige, das komme nicht von ihm, sondern von Gott etc.

Weit schrecklicher indessen, als in der erwähnten kleinlichen und verkehrten Moral, war Calvin’s Regiment in Glaubenssachen. Die Zahl der bekannten Männer, welche zur Zeit desselben um ihres Glaubens willen bestraft wurden, beträgt dreiunddreißig. Jacques Gruet, welcher nur verdächtig war, ein Pamphlet gegen die französischen Prediger in Genf verfaßt zu haben, wurde enthauptet, Jerome Bolsec wegen abweichender Ansichten von denen Calvin’s lebenslänglich verbannt. Das meiste Aufsehen aber erregte der Justizmord an dem spanischen Arzte Michael Servet, welcher die Dreieinigkeit in seinen Schriften anders aufzufassen sich erlaubte, als die Theologen seiner Zeit.

Als Servet auf seinen Reisen zu Vienne in Frankreich sich aufhielt, trat er mit Calvin in Correspondenz, indem er sich einbildete, den starren Reformator für seine Ansichten gewinnen zu können. Calvin brach aber den Verkehr mit ihm ab und schrieb an Farel nach Neuenburg: „Wenn Servet nach Genf käme, würde ich nicht dulden, daß er am Leben bliebe.“ Als dann Servet ein neues Werk herausgab, in welchem er die katholische und protestantische Orthodoxie zugleich angriff, schrieb ein französischer Flüchtling in Genf an seinen Verwandten in Lyon, es sei sehr unpassend, in Frankreich die Protestanten so sehr zu verfolgen, während man in Vienne einen Ketzer dulde, der verbrannt zu werden verdiente. Der Verwandte klagte nun Servet bei der Inquisition in Vienne an. Die Beweise schienen derselben aber noch nicht genügend, und sie ließ sich von dem erwähnten Flüchtling Briefe Servet’s senden, welche derselbe von Niemandem sonst erhalten hatte als von Calvin, der ja mit dem Unglücklichen correspondirt hatte. So wurde Letzterer überführt, konnte jedoch dem Kerker entfliehen, worauf sein Bild und seine Werke auf Befehl der Inquisition verbrannt wurden.

Der arglose Ketzer aber hatte sich aus der päpstlichen Charybdis nur gerettet, um in den Schlund der calvinistischen Scylla zu fallen. Unglücklicher Weise führte das Geschick das Opfer zweier Inquisitionen nach Genf. In dem vermeintlichen Asyle verfolgter Glaubensmärtyrer sollte das ungeheuerliche Schauspiel einer protestantischen Ketzerverbrennung aufgeführt werden! – – –

Der Großinquisitor von Genf war damals eben in heftigem Kampfe mit den verhaßten „Libertinern“ begriffen und schien nahe daran, ihnen zu unterliegen. Da galt es denn für den wankenden Glaubensdictator, sich durch eine entschiedene That zu retten, welche seine Gegner erschrecken und einschüchtern würde. Vollbrachte er in diesem Augenblicke nichts Außerordentliches, Niederschmetterndes, so stand seine zweite Verbannung vor der Thür und alle seine hochfliegenden Plane wurden zu Wasser. –

In dieser kritischen Lage hielt Calvin einst eine Predigt. Da erblickte er in einer Ecke der Kirche einen in einen Mantel gehüllten Fremden, unter dessen buschigen Brauen zwei blitzende Augen auf ihn gerichtet waren und jedes Wort, das von seinen Lippen kam, gierig aufzufangen schienen. Das Blut stockte ihm beinahe – vor freudiger Ueberraschung. Er ließ nichts merken und predigte mit kalter Ruhe zu Ende. Als er aber den Tempel verließ, sandte er sogleich seine Ergebenen aus und ließ den Flüchtling von sicherer Hand ergreifen. Da indessen die damaligen Gesetze die Verhaftung des Anklägers gleich dem Angeklagten forderten, um gegen eine falsche Anklage Bürgschaft zu besitzen, der Reformator aber nicht gern sitzen mochte, mußte sein Schreiber statt seiner die Anklage einreichen und das Gefängniß beziehen. Das inquisitorische Machwerk beschuldigte den Angeklagten, die Dreieinigkeit, die Gottheit Christi, die Unsterblichkeit und die Kindertaufe geleugnet zu haben. Da es Calvin so wollte, wurde die Anklage bald begründet gefunden, der scheinbare Ankläger entlassen, und der Inquisitor nahm seine Maske ab. Die nun von ihm selbst verfaßte Anklageschrift befaßte sich nicht mit Dogmatik, sondern warf sich darauf, daß Servet ein für Staat und Kirche gemeingefährlicher Mensch, ein Rebell und Friedensstörer sei. Die Person des Angeklagten mußte moralisch vernichtet und sein Gegner durch diesen geistigen Mord erhoben werden. Ja, Servet erhielt nicht einmal einen Vertheidiger, und seine Rechtfertigungen wurden nicht berücksichtigt. Dagegen benutzte Calvin seine Stellung, um von der Kanzel herab gegen den Feind zu donnern und ihn als Gotteslästerer zu kennzeichnen. Der Proceß erregte Aufsehen; die katholische Inquisition zu Vienne verlangte von Genf ihren Flüchtling heraus; aber er wurde ihr verweigert: die protestantische Inquisition wollte ihn selbst morden!

Die beiden theologischen Streiter bekämpften sich nun heftig in gegenseitigen Schriften, welches Recht die „Libertiner“ dem Angeklagten erwirkt hatten. Servet nannte Calvin einen elenden Magier und seine Anklage ein Hundegebell. Letzterer beschuldigte dagegen Ersteren der Absicht, „das Licht auszulöschen, das wir im Worte Gottes haben, um alle Religion abzuschaffen“ (die nämliche Sprache, welche noch heute die Fanatiker des „Glaubens“ führen). Da sich aber gegen den beabsichtigten Ketzermord immer noch viele Opposition erhob, schlug Calvin dieselbe durch Gutachten, welche er bei auswärtigen Theologen einholte und welche ihm beistimmten, vollends nieder, und am 26. October 1553 verurtheilten fünfzehn gegen fünf Stimmen (fünf Gegner Calvin’s waren abwesend) den Unglücklichen zu dem Tode, welchem in seinem Vaterlande Spanien damals alle Genfer ohne Ausnahme preisgegeben worden wären! Calvin hatte gesiegt und die Reformation war mit einem unauslöschlichen Brandmale befleckt.

Um sich den Schein des Mitleidens mit seinem Opfer zu geben, beantragte der Dictator die Vertauschung des Feuertodes mit – der Enthauptung. Servet, dem noch ein vergeblicher Hoffnungsstrahl auf Freisprechung geleuchtet hatte, soll sich bei Ankündigung des Urtheils verzagt benommen und um Gnade

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_027.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)