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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Ein protestantischer Großinquisitor.


Im ruhigen Thale pläschert der Dampfer, dichte Rauchsäulen mit mächtigem Zischen ausstoßend, durch die tiefblauen, von der Sonne vergoldeten Wogen des herrlichen Lemansees. Links zeigt sich das düstere, von tiefen Buchten zerrissene und im Hintergrunde zu zackigen Felsspitzen, den Vormauern der eisigen Alpen, aufstrebende Gestade Savoyens; rechts lachen die grünen Weingelände der Waadt, hinter denen sich die eintönige Höhe des Jura hinstreckt. Es ist eine prächtige Fahrt; der See wird enger und enger; endlich hat er nur noch die Breite eines mächtigen Stroms, und vor uns erheben sich am Ufer weite weiße Reihen imposanter Paläste, breite elegante Quais, lange kolossale Brücken und über Allem die erhabene Cité mit dem stolz thronenden, aber architektonisch verunglückten St. Petersdome. Wir sind in Genf; früher hieß es das protestantische Rom – jetzt das kleine Paris –, noch immer aber nennt man es mit Vorliebe „die Stadt Calvin’s“.

Man ist durch den Einfluß früherer tendenziöser Geschichtschreibung noch jetzt gewohnt, den Theologen Johann Calvin als den Reformator der französischen Schweiz, als den Wohlthäter der kleinen Republik Genf und als einen Mann des Lichtes zu betrachten. Eine solche Auffassung ist dreifach falsch, wie die neuesten Erhebungen aus den Archiven von Genf, namentlich durch die Verdienste des fleißigen Forschers Galiffe, bewiesen haben. Diese Entdeckungen sind aber in weiteren Kreisen so unbekannt geblieben, daß ihre Mittheilung in einem weitverbreiteten deutschen Blatte gerechtfertigt erscheint.

Die Wirksamkeit Calvin’s galt einmal nicht der Schweiz, sondern Frankreich; er benutzte blos einen freien Boden, um von demselben aus seine Minen zu legen. Dabei ist er ferner nicht der Wohlthäter, sondern der unerträgliche Tyrann Genfs geworden. Endlich war weder Licht noch Freiheit, sondern die Vertauschung der römischen Geistesknechtung mit einer calvinistischen sein Ziel. Wir wollen dies nachweisen.

Vor Allem müssen wir die Thatsache hervorheben, daß in Frankreich niemals eine religiöse Bewegung aus dem Volke hervorgegangen ist, wie in Deutschland durch Luther, in der deutschen Schweiz durch Zwingli. Die Nation hatte dort niemals religiöse Ueberzeugungen, sondern ließ sich die Religion als polizeiliche Staatsanstalt immer von oben herab octroyiren. Schon in den ältesten Zeiten waren die Druiden zugleich Priester und Regenten der Gallier. Nach der Eroberung des Landes durch die Römer wurden ohne Widerstand die römischen Götter verehrt. Nach Einführung des Christenthums galt der damals unter allen germanischen Völkern und im oströmischen Reiche herrschende Arianismus als Staatsreligion; Chlodowig verdrängte ihn durch den römischen Katholicismus. Als im Mittelalter die päpstliche Herrschsucht dem französischen Königthum unbequem wurde, entstand die gallikanische Kirche, welche mit Umgehung des Papstes im Namen der französischen Krone das katholische Dogma beschützte. Und wie das druidische, römische, päpstliche und gallikanische Frankreich dies von Staatswegen war, so wurden auch in späterer Zeit der jacobinische Cultus der Vernunft und Robespierre’s „höchstes Wesen“ Staatsgesetz – und ebenso wäre dies im sechszehnten Jahrhundert der Protestantismus mit gleicher Zwangsanwendung geworden, wenn er – gesiegt hätte. Dieser Sieg war aber das Ziel Calvin’s, welcher nur deshalb aus Genf ein protestantisches Frankreich im Kleinen machte, um einen Musterstaat für sein wahres Vaterland aufzustellen, um im letzteren seine theologischen Ansichten zur Herrschaft zu bringen.

Die düstere alte Cité am Ausflusse der Rhone aus dem Lemansee, damals noch nicht mit modernen Quais, Brücken und Hôtels geschmückt, sondern durch Mauern und enge Wasserthore vom prachtvollen Seespiegel abgeschnitten, war bereits, ehe sich Calvin dort blicken ließ, zum Glauben der Reformation bekehrt. Der Begründer dieses Werkes, Anton Fromment, hatte unter der Maske von Lese- und Schreibstunden gegen die Mißbräuche in der Kirche zu eifern begonnen und stand endlich neben seinen Freunden Farel und Viret an der Spitze einer mächtigen Partei dem katholischen Sorbonne-Doctor Guy Furbity gegenüber, welcher sich vernehmen ließ: die römischen Priester ständen über der Mutter Gottes; denn diese habe Christum nur einmal geboren, während jene ihn alle Tage „machen“. Mit Hülfe des mächtigen Bern gelangten die Reformirten dazu, die Bilder zu zerstören und Mönche und Nonnen zu vertreiben (1534), und die Hülfe der Eidgenossen, wie sich nach ihnen auch die fortschrittlich gesinnten Genfer nannten, gab den Anhängern der Reformation im französischen Sprachgebiet von da an den noch vielen Leuten räthselhaften Namen der Hugenotten, was nichts ist, als eine Corruption aus „Eidgenossen“ (französirt Euguenots).

Erst zwei Jahre später langte in Genf der Franzose Jean Cauvin oder Calvin an. In seinem Vaterlande verfolgt, obschon dessen König aus politischen Gründen mit auswärtigen Protestanten und sogar mit den Türken verbündet war, – wählte er Genf zum Schauplatze seiner Wirksamkeit für das von ihm als Grundlage der Religion erklärte Dogma der Gnadenwahl, nach welchem nur Wenige von Gott zur Seligkeit auserwählt, der Rest aber trotz aller Verdienste verdammt sein sollte. Diesen furchtbaren Wahn wollte er in allen französisch sprechenden Ländern zur Herrschaft bringen, erst in Genf und dann, woran ihm noch weit mehr lag, in Frankreich.

Dem echten lebenslustigen Genfer mußte die düstere Weltansicht Calvin’s, diese Entwürdigung des höchsten Wesens zu einem leidenschaftlichen, verdammungssüchtigen Menschenfeind, ein Gräuel sein. Vor Allem war es daher Calvin darum zu thun, diese lebenslustigen Genfer zu unterdrücken, und das hoffte er zu erreichen, indem er aus seinem Vaterlande alle um des Glaubens willen Verfolgte nach Genf kommen ließ, wo sie dem Landsmanne und Beschützer blind ergeben waren. Erst in kleineren, dann in größeren Mengen erschienen die Flüchtlinge, erwarben Niederlassung und Bürgerrecht und übertrafen nach einigen Jahren bereits die eingeborenen Genfer an Zahl, unter denen indessen Calvin ebenfalls Anhänger zu gewinnen wußte. So standen sich zwei Parteien gegenüber: die alten Genfer schweizerisch gesinnt, Anhänger Zwingli’s und Freunde des Lebens und einer anständigen Fröhlichkeit, auf der einen, die eingewanderten Franzosen und ihre Gönner, den Schweizern abgeneigt, Anhänger Calvin’s und einer düstern, freudelosen, dogmatischen Weltanschauung ergeben, auf der andern Seite. Um die Ersteren gründlich zu verderben, scheuten die Letzteren das Mittel nicht, sie als leichtfertige, sittenlose Lebemenschen zu verleumden und ihnen den Schimpfnamen der Libertiner anzuhängen, welcher ihnen bei den Bewunderern Calvin’s bis auf den heutigen Tag geblieben ist.

Noch einmal ermannten sich die Freunde der Freiheit, welchen es gelang, Calvin und einige seiner Anhänger zu verbannen; aber dieser Erfolg war leider nicht von Dauer. Die Calvinisten wußten es dahin zu bringen, daß einer ihrer bedeutendsten Gegner, der Syndicus Jean Philippe, unter falscher Anklage hingerichtet wurde, und sofort fand sich auch eine Mehrheit, welche den Verbannten zurückrief.

Von da an scheute Calvin kein Mittel mehr, sich in der Herrschaft über die Geister zu befestigen. Er erhielt eine reiche Besoldung[1] und den Auftrag, „Gesetze zur Beherrschung des Volkes zu verfassen.“ Sofort organisirte er ein förmliches Spionirsystem, mittels dessen er, wie Galiffe erzählt, „nicht nur die Thaten, Mienen und Worte, sondern selbst die Gedanken und Ansichten jedes Bewohners von Genf, ja sogar der Abwesenden täglich erfuhr.“ Wer ihn beleidigte, wurde als „Beleidiger Gottes“ angeklagt und mußte öffentlich auf drei Plätzen der Stadt, im bloßen Hemde und eine Fackel in der Hand, knieend um Gnade bitten und sein Unrecht bekennen. Dies widerfuhr u. A. dem Zeughausverwalter Pierre Ameaux und dem Buchdrucker Dubois.

Den Rath von Genf veranlaßte Calvin, ein Gesetz zu erlassen, daß alle in vergangener Zeit begangenen Fehler gegen die Keuschheit nachträglich bestraft werden sollten. Es ist nachgewiesen, daß dieses Gesetz gegen Anhänger Calvin’s keine Anwendung fand. Sein erstes Opfer war ein einflußreicher Gegner des „Reformators“, der Syndicus Franz Fèvre, dessen bezüglicher Fehltritt, über den aber die Richter nichts Bestimmtes wußten,

  1. Die fünfhundert Genfergulden, welche er jährlich bezog, machen nach heutigem Gelde sechstausend Franken aus; dazu kam freie Wohnung nebst Mobiliar, freies Holz und vielerlei Lebensmittel, sowie Geschenke an Kleidungsstücken.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_026.JPG&oldid=- (Version vom 4.4.2024)