Seite:Die Gartenlaube (1872) 862.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ohne Widerrede annehmen dürfen. Zwischendurch erklingen jene in Amerika bei keiner Festlichkeit oder öffentlichen Gelegenheit fehlenden ohrenzerreißenden Töne, welche von einer im Hintergrunde postirten Musikbande herrühren; auch sieht man von Zeit zu Zeit einen Gesang- oder sonstigen verbündeten Verein mit Fahnen, Transparenten und mit klingendem Spiele zur Thür hereinziehen. Auf der Platform aber sitzen mit ernsten, unbeweglichen Mienen die sogenannten „prominenten“ Männer der Partei und blicken darein wie Catone und Sokratesse. In den Reden selbst aber schwirrt es von lauter Grant’s, Greeley’s, Kukluxen, Copperheads, Carpetbaggers und wie alle die merkwürdigen politischen Bezeichnungen heißen mögen, in denen sich ein europäisches Gehirn unmöglich zurechtzufinden vermag, und jeder Ausfall auf den feindlichen Candidaten findet den reichlichen Beifall der Statisten, unter denen Manche nicht bloß mit den Händen, sondern auch mit den Armen und Füßen arbeiten. Unterhalb der Platform sitzen die Reporters oder Berichterstatter der Zeitungen, denen von Zeit zu Zeit ein Blatt von oben hinabgereicht wird und welche folgenden Tages das Ganze in verschönernder Perspective dem obersten Richter, dem Gesammtpublicum, vorlegen.

Während dieser Vorgänge im Innern hat die Partei draußen vor dem Local auf einer vor dem Hause errichteten Platform ein gleiches Vergnügen für dasjenige Publicum arrangirt, welches den freien Himmel den beengenden Räumen des Versammlungssaales vorzieht – ein Vergnügen, welches überdem durch Raketen, Böllerschüsse, bengalische Lichter etc. auf einen möglichst hohen Grad zu bringen versucht wird. Am meisten kommt dieses Vergnügen der lieben Straßenjugend zu Gute, welche hier als ein Theil des souveränen Volkes der unbeschränktesten Willensfreiheit genießt und nicht blos in Wahlzeiten, sondern jederzeit (unglaublich, aber wahr!) ihre abendlichen Mußestunden mit Anzünden von großen Straßenfeuern zweckmäßig auszufüllen sucht. Die Herren Jungens suchen und stehlen dabei alles denkbare Brennmaterial aus der nächsten Umgebung zusammen, und wenn dann die Flammen lustig zum Himmel emporschlagen, oft in nächster Nähe der unaufhörlich passirenden Straßen-Eisenbahnwagen, so hockt die kleine Bande um das Feuer und stiert wollüstig in die Gluth oder führt einen indianermäßigen Rundtanz um dieselbe auf. Niemand denkt daran, sie in diesem gefährlichen Vergnügen zu stören; und es wäre eine dankbare Aufgabe für einen Psychologen, zu untersuchen, ob die häufigen, großartigen Brände und die zahllose Menge kleinerer Brände in amerikanischen Städten nicht in einem inneren und psychologischen Zusammenhange mit dieser in der amerikanischen Jugend fortwährend genährten Feuerlust stehen.

Ueberhaupt ist die Geduld und Langmuth des amerikanischen Publicums im Ertragen von Mißständen und selbst Unbequemlichkeiten, trotz alles Republikanismus, eine geradezu grenzenlose und für europäische Begriffe unerhörte. Man läßt sich nicht bloß die Straßenfeuer der Jugend und zahllose Mißstände der Straßenpolizei ruhig gefallen, sondern man läßt sich auch tagtäglich ohne Murren in den sogenannten Cars oder Straßen-Eisenbahnwagen in einer Weise zusammenpferchen, daß die berüchtigten Schrecken eines Sclavenschiffs dahinter zurückstehen müssen. Diese lammartige Geduld mag denn auch viel zu der politischen Corruption beigetragen haben, welche ich Ihnen in einem meiner früheren Briefe geschildert habe, und eine Hauptursache dafür sein, daß in keinem andern Lande so sehr wie hier die öffentliche Meinung ein Resultat der sogenanntem „Mache“ ist, obgleich man das Gegentheil voraussetzen sollte. Geld, Zeitungen und öffentliche Kundgebungen scheinen in dieser Beziehung neben heimlichen Wühlereien allmächtig zu sein, und nur wenn es die politischen Faiseurs von Zeit zu Zeit allzu arg machen, bäumt sich das öffentliche Bewußtsein dagegen auf. So bei der diesjährigen Wahl des Newyorker Mayors oder Bürgermeisters, für dessen Amt ein Irländer, Namens O’Brien, ein würdiger Nachfolger von Tweed und Genossen, große Aussicht hatte gewählt zu werden. Aber er unterlag seinem in allgemeiner Achtung stehenden Gegencandidaten Havemeyer. Diese Wahl fand gleichzeitig und gemeinschaftlich mit der Präsidentenwahl am 5. November statt und verlieh der ganzen Wahlcampagne, welche im Uebrigen außerordentlich still vorüberging, ein erhöhtes Leben. Ich besuchte einige sogenannte Polls oder Wahllocale an verschiedenen Punkten der Stadt und fand dieselben weit stiller als bei ähnlichen Gelegenheiten in Deutschland. Die Jungen, welche vor den Wahllocalen herumlungerten und Zettel anboten, erschienen beinahe zahlreicher als die Wähler selbst. Am meisten Leben entfaltete sich gegen Abend, wo bereits theilweise Wahlresultate aus den Provinzen eintrafen und dem souveränen Volke durch eine große erleuchtete Tafel, welche eine der großen Zeitungen auf der Höhe eines Hauses am Unionsplatze hatte anbringen lassen, nach und nach, sowie sie eintrafen, bekannt gemacht wurden. Zwischendurch brachte die nach Art der Nebelbilder sich stetig verändernde Scheibe Anzeigen hiesiger Firmen; und so oft eine der einen oder anderen Partei günstige Nachricht auf derselben erschien, wurde sie von deren Anhängern mit Hurrahs begrüßt, welche sich übrigens nicht einmal durch besondere Kräftigkeit auszeichneten. Als endlich Grant als Sieger aus dem Wahlkampfe hervorging, war der Jubel ein allgemeiner, und die politischen Gegner, welche sich noch Tags vorher mit Erbitterung bekämpft hatten, reichten sich versöhnt die Hand. Als einzige Nachwehen bleiben nur die großen Summen zu verschmerzen, welche die Anhänger der durchgefallenen Candidaten und diese selbst für die Zwecke ihrer Wahl unnütz ausgegeben haben, sowie einige Beulen, welche sich die Herren Irländer aus Liebe zur Freiheit (d. h. zu ihrer eigenen) einander an die Köpfe geschlagen haben. Für vier Jahre hat das Land nun wieder politische Ruhe, soweit nicht die durch den Ausfall der Wahl nöthig gewordene Neubildung oder Umänderung der politischen Parteien dieselbe zu stören geeignet ist. Die unnatürliche Verbindung der Demokraten und Südländer mit den Greeleyiten fiel natürlich sofort mit der Beseitigung Greeley’s über den Haufen; und es wird nunmehr Alles darauf ankommen, ob und wie die republikanische Partei ihren Sieg zu benutzen wissen wird. Wahrscheinlich werden sich ihre Anstrengungen zunächst auf Beseitigung der Wahlmännerwahlen und auf Einführung eines directen Wahlmodus für die Präsidenten der Republik, sowie vielleicht auch auf Einführung des Frauenstimmrechts richten. Doch davon später!

Uebrigens fehlt es hier nicht an Leuten, welche es für möglich halten, daß ein energischer Präsident aus der Republik eine Monarchie machen könne (eine freilich höchst unwahrscheinliche Sache), sowie es auch nicht an Solchen fehlt, welche für die Vereinigten Staaten einen zukünftigen Religionskrieg prophezeien. Ein Religionskrieg in unserer Zeit, und obendrein in einer Republik, würde freilich ein Anachronismus der kolossalsten Art sein. Wenn man aber sieht, wie tief hier das religiöse Leben in alle Verhältnisse eingreift und wie groß der Haß zwischen Katholiken und Protestanten ist, so kann man ein solches Ereigniß wenigstens nicht als außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegend ansehen.

Vor einigen Tagen besuchte ich West-Point, die berühmte Militärschule der Vereinigten Staaten, aus welcher bekanntlich die meisten der großen Generale des Südens hervorgegangen sind. Diese in jeder Beziehung musterhaft eingerichtete Anstalt liegt einige Meilen von New-York am Hudson aufwärts und hat einen der reizendsten Flecke der Erde inne. Ein bogenförmig vom Hudson umflossenes, sehr geräumiges Hochplateau ist rings von einem unvergleichlich schönen Gebirgspanorama eingerahmt, welches nur da, wo man den Hudson aufwärts blickt, eine Lücke zeigt. Der Blick in diese Lücke liefert das malerischste Bild, das man sehen kann; und keine Phantasie könnte die ganze Scenerie ansprechender gestalten, als sie wirklich ist. Der von einer Menge kleiner, im Sonnenschein blinkender Segelboote belebte Fluß ist auf beiden Seiten von mehrfach vorspringenden Bergreihen eingerahmt, ähnlich wie der berühmte Königssee in Baiern, während sich im fernen Hintergrunde eine zweite sonnenbeglänzte, mit freundlichen Wohnhäusern belebte Landschaft öffnet.

Nachmittags bestiegen wir zur bessern Uebersicht das Fort Putnam, ein altes, auf hohem Berge gelegenes, aus dem Kriege mit den Engländern stammendes und jetzt in Trümmern liegendes Bergschloß, wahrscheinlich die einzige Bergruine Amerikas. Entbehrte der Hudson nicht der malerischen und romantischen Verzierung alter Schlösser und verfallener Burgen, so könnte er sich durch seine Naturscenerie unserm Rheine an die Seite stellen, den er überdem in seinen unteren Theilen durch seine seeartige Ausbreitung in Bezug aus Großartigkeit übertrifft.

Die vortreffliche Einrichtung der sogenannten Palastwagen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_862.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)