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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

östlicher Sitte im Plural feiern, wie schon Karl Immermann gesungen hat:

Von den Früchten, die sie aus dem Zauberhain von Schiras stehlen,
Essen sie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaselen.

Darum freuen wir uns, daß ein so meisterhafter Uebersetzer orientalischer Dichtungen wie Schack den Nachdruck auf den Geist und nicht auf die Form legt. Seine Sehnsucht nach Indien, die er in einem schwunghaften Gedichte ausspricht, die Sehnsucht nach den Tempeln am Gangesstrome, die das Weltgeheimniß hüten, dorthin, wo der Geist der Urzeit in den windbewegten Palmen von den Wunderträumen der ersten Weltnacht singt, macht den Sänger nicht zu einem Brahmanen, auch nicht zu einem Buddhisten, der in das Nichts der Weltentsagung versinkt, wie der philosophische Einsiedler der Table d’hôte von Frankfurt am Main mit seinem Faust-Pudel, wie Arthur Schopenhauer, nein, bei aller Verherrlichung brütenden Tiefsinns beseelt doch Schack’s Gedichte der thatenkräftige Geist des Abendlandes.

Schon in den „Gedichten“ Schack’s, noch mehr in den „Episoden“, finden sich poetische Erzählungen, denen vorzugsweise ein lebendiges Colorit nachzurühmen ist; es fehlt ihnen allerdings die Prägnanz lakonischer Darstellung, sie ergehn sich behaglich in’s Breite, aber sie werden dabei nie von den Grazien verlassen.

„Lothar, ein Gedicht in zehn Gesängen“ ist die umfangreichste von Schack’s poetischen Erzählungen, die ebenfalls nicht neuerdings entstanden ist, sondern, eine Schöpfung früherer Zeit, erst jetzt an das Licht tritt. Das Gestirn, das am Himmel des Dichters stand, als er seinen „Lothar“ schuf, ist das Doppelgestirn Byron’s und Freiligrath’s. Von Jenem hat die Dichtung die politische Begeisterung, den Haß gegen die Stimmführer einer dumpfen, rückwärts gewendeten Zeit, den Enthusiasmus für die Befreiung Griechenlands, welche einer thatenlosen Epoche als die glorreiche Wiedererweckung einer alten Heldenzeit erschien; von Freiligrath hat Schack die Vorliebe für das exotische Colorit, für afrikanische Wüstenbilder, die hier im sechsten und siebenten Gesange mit einer jenem Dichter ebenbürtigen Meisterschaft ausgemalt werden. Hier haben die Abenteuer selbst etwas Ergreifendes und Spannendes und lesen sich wie Romancapitel, was für eine epische Dichtung immerhin ein seltenes Lob ist, denn wir alle wissen ja, welche Mohnkörner die epische Muse auszustreuen liebt und wie eine erhabene Langeweile die Blätter von Kalliope’s unsterblichen Manuscripten umblättert. Doch unsere Zeit ist so ungeduldig geworden, daß sie kaum mehr die Ruhe hat, epische Gesänge anzuhören, besonders wenn die Geschicke der Helden so ohne alle Spannung verlaufen. Ein echter Epiker geht auf sein Ziel los, wie man durch eine endlos gestreckte Pappelallee auf die Poststation zufährt, doch wir wollen in der Dichtung auf Wegen wandeln, die sich anmuthig krümmen, sich bald in Gebüsch verstecken, bald unter Wiesenblumen verlieren, bald, an freien Berghängen sich schlängelnd, anmuthige und wechselnde Fernsichten bieten. Unsere Epiker müssen die Kunst der Spannung von den Romandichtern lernen; sind sie echte Poeten, so wird ihnen dadurch nicht das Concept verdorben. Nicht allen Gesängen des „Lothar“ können wir indeß diese Kunst der Spannung nachrühmen; in einigen hat es sich der Dichter bequem gemacht und für Verwicklung und Lösung zum Theil verbrauchte Motive benutzt, im Vertrauen auf seine Kunst, auch diese durch poetischen Schwung zu adeln. In allen Gesängen aber weht ein echt patriotischer Geist, jene ideale deutsche Gesinnung, von welcher die blasirte Muse des englischen Lords nichts weiß. Lebendig ist Lothar’s Jugendliebe geschildert, sein studentischer Freiheitsdrang, das Duell mit dem Aristokraten, das einen so tragischen Ausgang nimmt. Dann folgt die Selbstverbannung, Kämpfe und Liebesabenteuer in Spanien, Erlebnisse in Afrika und Griechenland, bis der Schluß den Helden wieder der Heimath und den Seinen zuführt.

Schack, verehrte Frau, ist kein Dichter von absonderlicher Genialität und von jenem erschreckenden Tiefsinn, der seine Orakel oft in unverstandenem Schwulst verkündet. Es giebt Kritiker, denen alles flach vorkommt, was die verhängnißvolle Eigenschaft der Gemeinverständlichkeit besitzt, und es giebt Dichter, welche sich für groß halten, wenn sie sich in labyrinthischen Gedankengängen verlieren. Schack gehört nicht zu ihnen, aber auch nicht zu den glatten und geleckten Akademikern; er wahrt die schöne Mitte künstlerischer Richtung. Seine Sprache hat echten Adel, seine Verse melodischen Fluß – und solchen Zauber werden Sie nicht gering achten, verehrte Frau; denn es ist der Zauber der Schönheit, mit dem Sie vertraut sind, so lange Sie auf Erden wandeln!




Vom Ostsee-Jammer.


Nicht der bildenden Kunst, nicht einem Zeitungsblatte ist’s gegeben, uns den ganzen Jammer zur Anschauung zu bringen, welchen die Hochfluth am dreizehnten November über alle dem Nordoststurme offenen Ostseeländer verhängt hat. Die Statistik mit ihrer ruhig rechnenden Hand wird diese Aufgabe lösen, und lauter und eindringlicher als die ergreifendsten Schilderungen werden dann die stummen kalten Zahlen reden, welche mit den Summen des verwüsteten und für immer verlorenen Habes und Gutes zugleich die schreckliche Summe des vernichteten Menschenglückes aufstellen.

Noch bis heute kommt nur Einzelnes, zerstreut vom Zufall Hingeworfenes von der langen Küstenstrecke voll Noth und Elend und Klage uns vor Augen und Ohren. Wie viel Entsetzliches ist noch nicht entdeckt worden oder hat noch keinen Erzähler gefunden, und wie viel Klagen hat der Tod schon beendet und wie viel Seufzer wird er noch ersticken, selbst wenn überall hin die Hülfe so rasch käme, als das wärmste Herz es nur wünschen kann!

Auch wir geben heute nur ein Bild von den hunderten, ja vielleicht tausenden, wie sie an den deutschen Ostseeküsten von Nordschleswig bis Ostpreußen das Grauen, Entsetzen und Mitleid des verhärtetsten Menschen erregen. Es stellt den Einsturz eines Hauses in dem Dorfe Niendorf am Lübeckischen Meerbusen dar, Dr. Avé-Lallemant in Lübeck schreibt uns hierüber:

„Am Sonnabend (16. November) war ich in Travemünde und ging von da nach dem eine Stunde davon entlegenen eutinischen (oldenburgischen) Dorfe und Badeorte Niendorf. Ich habe das Meer sehr oft in wilder Aufregung gesehen, aber eine solche Empörung der Elemente gegeneinander, diese Vernichtung alles dessen, was der Mensch gebaut und geschaffen hat, eine solche Neuschaffung eines ganz anderen Ufers und Erdbodens kann auch die lebhafteste Phantasie sich nicht erträumen. Man steht im dumpfen starren Staunen am Gestade, zu Nichts fähig, als die Allmacht zu bewundern, welche nach diesem gigantischen Kampfe der Elemente gegen einander dennoch wieder Frieden zu stiften vermochte, einen Frieden, dem sie aus dem Schutt und den Ruinen alles Menschenwerks ein schauerliches Denkmal setzte.“ Das arme Dorf war, ähnlich wie Eckernförde, von zwei Wassern zugleich bedrängt. Während von der See her die Fluth heranstürmte, die Boote zertrümmerte, an den Häusern rüttelte und die Bewohner zwang von Heerd und Hof zu fliehen, trat auch der Himmelsdorfer See aus seinen Ufern, als müsse er sich dieser allgemeinen Flucht entgegenstemmen. Vier Menschen büßten dadurch das Leben ein. Unser Künstler, der berühmte Seemaler Oesterley, mag wohl nach den Berichten von Augenzeugen diesen Augenblick darzustellen gesucht haben. Von sechsundzwanzig durch die Fluth erreichten Häusern sind zwölf spurlos verschwunden, die andern wankende Ruinen. Achtunddreißig Familien sind um Alles gekommen, nicht blos um das Obdach und Alles, was darin und darum war, nicht blos um Vieh, Hausrath, Arbeitsgeräthe, Lebensmittel, Holz und Torf und selbst um das Trinkwasser, das die See mit ihrer Salzlache verdorben, sondern auch um Wiesen, Felder und Gärten, denn die Wogen rissen die fruchtbare Erde fort und gaben den Armen dafür in überreichlichem Austausch Schlamm und Sand. Die Badegäste, welche sich jährlich hier am Strande erquickten, wann werden sie die Menschen wieder froh und das Gelände wieder voll Segen finden?

Allein auf der kurzen Küstenstrecke des oldenburg-eutinischen Gebiets sind über hundert Familien vollständig an den Bettelstab gekommen! In allen Bittbriefen und Zeitungsausschnitten, die uns zugesendet worden, wiederholen sich dieselben Verwüstungsbilder,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_858.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)