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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

der leiseste Hauch zu spüren war. „Ja, ja,“ sagte er, „Du hast viel, viel gelitten; aber“ – fügte er nach einer Pause hinzu – „es ist auch schon lange, so lange her. Die Zeit macht Vieles gut, Vieles!“

Er schien in seine Träumereien zu versinken von den Tagen, die nur für ihn kein Nichts waren, die nur für ihn aus dem Lethe auftauchten; dann aber, als sein Blick das stillweinende Antlitz an seiner Seite streifte, strich er sich mit der Hand über Stirn und Augen und sagte hastig, als fürchte er, es wieder zu vergessen:

„Nicht Alles! oder doch langsam, sehr langsam; es können sechszig, siebenzig, ich weiß nicht, wie viele Jahre darüber vergehen; und ganz gut wird es auch da noch nicht, bis man sich ein Herz faßt und es einem Menschen sagt. Ich habe es ihm gesagt, an dem Abende, als ich ihn auf dem Meere gerettet; und es ist so viel Gutes daraus gefolgt, so sehr viel Gutes; mir ist seitdem so leicht im Herzen geworden. Du mußt es auch Jemand sagen, nicht mir; ich vergesse so viel und könnte das auch vergessen. Du mußt es ihm sagen.“

Und als sie am nächsten Abend in demselben Gange des Gartens auf- und niederwandelten und das Abendlicht wieder durch die Zweige schimmerte, blieb er plötzlich stehen und fragte: „Hast Du es ihm gesagt?“ und so fragte er am dritten und vierten Tage und schüttelte immer sorgenvoller das weiße Haupt, als sie mit brennenden Wangen erwidern mußte: „Nein, Vater, ich habe es ihm noch nicht gesagt,“ und bei sich hinzufügte: „und werde es ihm auch nicht sagen, wenn er morgen kommt, und werde es ihm nimmer sagen.“

Gotthold kam, nicht allein. Fürst Prora, bei welchem er wiederum mehrere Tage auf Waldschloß zugebracht, um die Skizzen für den Waffensaal vorzulegen und die Reihenfolge der italienischen Landschaften für den Speisesaal endgültig festzustellen, hatte ihm auf dem Rückwege nach Prora durchaus das Geleit geben wollen, und als er hörte, daß Gotthold unterwegs noch in Dollan vorsprechen müsse, um sich vor seiner Reise nach Italien zu verabschieden, um die Erlaubniß gebeten, ihn auch dorthin begleiten zu dürfen.

„Denn wir sind doch eigentlich,“ sagte der junge Mann, „mag ich nun von Prora oder Waldschloß kommen, Nachbarn, gnädige Frau, und da wäre es längst meine Schuldigkeit gewesen, Ihnen meine Aufwartung zu machen; aber ich will es nur gestehen, daß mich heute noch ein besonderes Interesse herführt. Unser Freund hier hat mir früher schon von dem großen Hünengrabe erzählt, welches Sie in Ihrem Walde haben, und daß es vielleicht das am besten erhaltene auf der ganzen Insel sei. Nun brauchen wir für den Waffensaal durchaus eine Landschaft mit einem Hünengrabe, und als ich ihn an das Dollaner erinnere, sagt der halsstarrige Mensch, das eigne sich nicht. Ich behaupte natürlich, daß wir gar kein anderes brauchen können, sintemalen Dollan, bevor es in Ihre – ich meine die Wenhof’sche – Familie kam – was nun freilich auch bereits, wenn wir den schwedischen Zweig, wie billig, mitrechnen, zweihundert Jahre her ist –, Prora’scher Grund und Boden war, wie der ganze Theil dieser Insel; ja, es hat hier auf der Uferhöhe eine mit hohem Erdwall, Pfahlwerk und Graben umgebene Prora’sche Burg aus der Heidenzeit gelegen, deren Ueberreste in alten Chroniken noch Erwähnung geschieht, und es ist also leicht möglich, ja wahrscheinlich, daß jene Gräber die Gebeine meiner Vorfahren bedecken. Und um eine solche Reminiscenz sollte ich eines Künstlereigensinns wegen gebracht werden? Nimmermehr! Wir haben eine Stunde Zeit, hin und zurück brauche ich, wie ich höre, eine halbe Stunde – bitte, lieber Freund, derangiren Sie sich nicht! Sie sind der Letzte, den ich mitnehme, damit Sie mir durch Ihre Einreden die Stimmung verderben.“

„Ich will Sie gern begleiten,“ sagte der alte Boslaf; „ich bin mit Ihrem Herrn Urgroßvater Durchlaucht oft genug oben gewesen auf der Birsch. Ich bin lange, lange nicht oben gewesen; ich möchte gern noch einmal hinauf.“

Der Fürst blickte den Alten verwundert an; er hatte ihn, von dem ihm Gotthold so Manches erzählt, gleich zu Anfang mit Ehrfurcht begrüßt; aber es wollte ihm wie ein Märchen erscheinen, daß Jemand mit Malte von Prora zusammen auf der Jagd gewesen sein könne, der zu Friedrich des Großen Zeiten lebte und noch vor dem siebenjährigen Kriege von der schwedischen Regierung in einer diplomatischen Mission nach Berlin geschickt wurde.

„Das kann ich unmöglich annehmen,“ sagte er, „unmöglich!“

Aber der Alte schien nicht auf die höfliche Weigerung zu achten; er hatte bereits seinen Stock ergriffen und ging mit langen Schritten voran aus dem Garten, wo dieses Gespräch stattgefunden. Der Fürst beeilte sich lächelnd, ihm zu folgen.

„Durchlaucht verstatten wenigstens, daß wir nachkommen,“ sagte Gotthold.

„Ich bitte darum,“ erwiderte der Fürst, „um des alten Herrn willen, dem meine Gesellschaft auf die Dauer doch nicht genügen möchte,“ und dann, Gotthold noch ein paar Schritte weiter führend, fügte er hinzu; „Wir haben eine Stunde, lassen Sie sie nicht unbenutzt verstreichen. Nachdem ich diese Frau gesehen, verstehe ich, begreife ich Alles, was Sie mir nicht gesagt haben, Sie Verschwiegenster der Menschen. Möge Sie der Gott der verschwiegen Liebenden in seinen gnädigen Schutz nehmen!“

Gotthold schritt langsam zu dem Platze zurück, wo er Cäcilien verlassen und noch in derselben nachdenklichen Stellung stehen sah. Würde sie heute sprechen, würde sie schweigen, wie sie es bisher gethan, ihn schweigend ziehen lassen?

Er trat an sie heran und ergriff ihre herabhängende Hand. „Cäcilie!“

Sie hob langsam die dunkeln Wimpern und sah ihn mit einem Blicke rührender Bitte an.

„Ich soll Dich nicht reden heißen? soll Dich schweigen lassen, Cäcilie? Und doch muß gesprochen sein; so laß es mich für Dich thun. Du könntest es nur einer Frau sagen, und der brauchtest Du es nicht zu sagen: sie würde Dich ohne das verstehen. War es nicht so? Sollte die Liebe weniger hellsehend sein als das Auge einer mitfühlenden Freundin? Ich weiß es nicht; ich kann Dir nur sagen, was ich in Deinem Herzen lese. Und das ist es nun, Cäcilie. Du liebst mich, aber wagst es nicht, Deiner Empfindung frei zu folgen; ja, Du bebst vor dem Gedanken, meine Gattin zu werden, scheu zurück, wie vor einer Versündigung – an wem? Es klingt hart, Cäcilie, und doch muß ich es sagen: an Deinem Stolz. Das ist es, was Du fürchtest, Dich selbst, nicht mich. Du weißt – so sicher, wie dort die Sonne sinkt, um morgen wieder aufzugehen –, daß nie ein Tag kommen wird, nie eine Stunde, wo ich Dir mit einem Worte, einem Blicke einen Vorwurf daraus machen werde, daß Du – unglücklich, so unglücklich grenzenlos gewesen bist; Du weißt, daß ich Dir – wie ich denke – nichts zu vergeben habe. Aber Du, Cäcilie, Du meinst, daß Du es Dir nie wirst vergeben können; Du meinst, daß, weil Du als ein unerfahrenes sechszehnjähriges Mädchen Dich geirrt hast, Reue und Scham Dich verfolgen müßten in alle Zukunft, Reue und Scham Dich aufschrecken würden aus meinen Armen, wenn Du je dem Zuge Deines Herzens gefolgt wärst und Dich in meine Arme geworfen hättest.“

„Und hätte ich nicht Recht, so zu denken, zu fühlen?“ rief Cäcilie, während die Thränen über ihre glühenden Wangen strömten; „könnte ich mir je vergeben, das Weib dieses Mannes geworden zu sein – als sechszehnjähriges, unerfahrenes Mädchen, sagst Du? Ich war so unerfahren nicht; ich war welterfahren genug, um zu begreifen, daß das Leben in dem schönen Schlosse, in dem schattigen Park von Dahlitz glänzender werden dürfte, als das in einer düsteren Landpfarre. Und ich trat das Herz des armen Studenten unter die Füße, obschon eine Stimme, die nie wieder zum Schweigen gekommen ist, mir schon damals zuraunte: es ist der bessere Mann. Das sollte ich mir vergeben? und daß ich ihn mit halbgebrochenem Herzen in die Ferne ziehen ließ, ohne ein Wort des Mitleids, des Trostes für ihn zu haben, froh, daß seine treuen Augen nicht mehr auf mir ruhten, nicht mehr in meiner eitlen Seele lasen? Und nun, da aus meinem hoffährtigen Traume geworden ist, was werden mußte; nun, da ich so grenzenlos elend bin, wie ich es zu werden verdiente, und er zurückkommt und vor mir steht, ein edler, reiner Mann, der mit gerechtem Stolz auf seine keusche, arbeitreiche Vergangenheit blicken darf und mit freudiger Ruhe in seine Zukunft, die sich immer glorreicher entfalten muß – jetzt soll er seinen Siegerschritt hemmen, die so tief Gefallene aufzurichten; ja, was sage ich! soll sie für alle Zukunft an sich fesseln, um sich selbst zu fesseln, um sich die starken, arbeitfrohen Hände zu binden, den stolzen Geist, der immerdar im Höchsten beschäftigt sein soll, hinabzuzwingen zu der ewigen Betrachtung, zu der täglichen, stündlichen Theilnahme eines elenden, selbstverschuldeten Geschickes?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_849.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)