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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 52.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Schluß.)


Plötzlich tiefe Stille, als wäre ein Blitz vor Aller Augen in die Erde geschlagen. Brandow hatte die Stelle erreicht, von der ein paar Secunden vorher Graf Grieben, sicher gemacht durch seines Gegners Zurückbleiben, abgebogen; und mit einem mächtigen Satze war der Brownlock auf dem Moor, ohne nur eines Haares Breite von der geraden Bahn abzuweichen, mitten über den tiefsten, aber auch schmalsten Theil fliegend, mit einer Schnelligkeit, die mit jedem Moment zuzunehmen schien, während der Reiter nicht Peitsche, nicht Sporn brauchte, als ritte er über glattesten Wiesengrund, und jetzt mit der Hand seinem Nebenbuhler winkte, als er an ihm vorbeijagte, daß das Wasser in hellem Strahl hoch aufspritzte.

Und da hatte er auch schon den diesseitigen Rand erreicht und kam die breite gerade Bahn hinauf, welche auf das Ziel vor der Tribüne zuführte, – nicht mehr in der rasenden Carrière, sondern in langgestrecktem Galopp, als wolle er seinen Gegner verhöhnen, der jetzt, nachdem er den festen Grund erreicht, am Siege verzweifelnd, aus der Bahn gebrochen war; schien es doch, als wolle er der Menge Gelegenheit geben, ihm ihre Huldigung darzubringen.

Und „Hurrah Brownlock! Hurrah Brandow!“ riefen sie, und schwenkten die Hüte und Mützen, und der brausende Ruf pflanzte sich fort und schwoll an zu einem donnernden betäubenden Schall, als jetzt der Sieger an den Tribünen vorüber in demselben langgestreckten Galopp durch das Ziel ritt. Alle Welt stand auf den Fußspitzen, die Herren Hurrah rufend, die Damen mit den Tüchern wehend, – und nun drängte Alles die breite Treppe hinunter auf den Plan, um den Sieger und das herrliche Pferd noch näher zu sehen, wenn er jetzt, wie es der Brauch war, zurückkommen und noch einmal, aber im Schritt, an den Tribünen vorüber auf den Sattelplatz reiten würde.

„Hier gilt kein Recht und nur die Stärke siegt,“ sagte der Fürst, der, ebenso wie Gotthold, von der nachdrängenden Menschenwoge die Treppe hinabgeschoben wurde; „die Stärke des Enthusiasmus, der selbst in dem Schwachen mächtig ist. Sehen Sie doch nur, wie heldenmüthig sich jene zarte Dame durch’s Gedränge kämpft. – Ist es Frau Brandow? ich würde ihr dann den Arm anbieten.“

Der blaue Schleier der Dame wehte Gotthold in’s Gesicht und dann sah er Alma Sellien. Sie sah ihn nicht, trotzdem sie unmittelbar neben ihm stand. Das feine blasirte Gesichtchen seltsam verschönert durch ein stolzes Lächeln, die sonst so matten, lässigen blauen Augen strahlend in Freudenfeuer, blickte sie, harrte sie, auf nichts um sie her achtend, dem Geliebten entgegen, dessen unbedeckter Kopf eben über der wogenden Menge sichtbar wurde. Und jetzt tauchten ein paar rothe Schultern auf und verschwanden wieder, um wieder zu erscheinen, und jetzt der herrliche nickende Kopf eines Pferdes, und jetzt der ganze rothbefrackte Reiter. Die, welche in der ersten Reihe des Spaliers standen, waren, den Fürsten erkennend, auf die Seite gewichen, und er und ein paar andere Herren und Damen, unter ihnen Alma Sellien, in den Vordergrund gedrängt worden, während sich vor Gotthold, der gern zurückstand, die Reihen wieder schlossen. Und schon war Brandow, der, den Hut in der Hand, sich nach rechts und links verbeugend, mit einem paar neben ihm hergehenden Freunden plauderte, in ihre unmittelbare Nähe gekommen, als er den Fürsten sah und an dem Arm des Fürsten Alma Sellien. Ein Lächeln der Verwunderung zuckte über sein Gesicht; er warf, Front machend, den Brownlock in kürzester Wendung herum, und neigte sich tief auf den schlanken Hals des Renners. Schnaubend, in den Zügel knirschend, mit den Hufen ungeduldig scharrend und mit den großen feurigen Augen in die Menge blickend, stand das edle Thier. Plötzlich prallte es, wild erschrocken, auf die Seite und stieg dann, als sein Reiter es wieder auf die Stelle zwingen wollte, jäh in die Höhe. „Zurück!“ schrie der Fürst der Menge zu, die, von allen Seiten herandrängend, sich zu einem Knäuel zusammengeballt hatte. Aber, die weiter wegstanden, und denen keine unmittelbare Gefahr drohte, blieben unbeweglich. „Zurück, zurück!“ schrie der Fürst noch einmal; die Damen kreischten; „springen Sie herunter, Brandow!“ riefen die Herren. Aber Brandow schien seine allbewunderte Reitkunst vergessen zu haben. Einige sagten später, er sei vom ersten Moment betäubt gewesen durch einen schweren Schlag, mit welchem der zurückschnellende Kopf des Pferdes seine Stirn getroffen. Während er erfolglos, in unbegreiflich verkehrter Weise mit dem Pferde kämpfte, hatte er die Augen starr auf einen Mann aus dem Volk gerichtet, der irgend wie – es drängte Alles wild durcheinander – auch in die vorderste Reihe gekommen war, und jetzt unmittelbar vor, ja unter das sich bäumende Pferd sprang, die Arme hoch erhoben; man glaubte, er werde das rasende Thier an dem Zügel herunterreißen.

„Lassen Sie mich durch, um Gotteswillen!“ schrie Gotthold.

Er hatte in dem Manne Hinrich Scheel erkannt, trotzdem er nur den viereckigen, mit krausen grauschwarzen Haaren bedeckten Schädel, von dem die Mütze im Gedränge heruntergestoßen war, gesehen; nicht das brutale Gesicht mit den grünlichen Schielaugen, vor deren dämonischer Macht das geängstete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_847.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)