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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

mögen hierfür Zeugniß ablegen. Als Componist erscheint Rietz als Schüler und Jünger Mendelssohn’s, ohne sich jedoch in erfindungslose, sclavische Nachahmung zu verlieren. Im Besitze vollständiger Beherrschung aller Formen- und Kunstmittel, wußte er aus jeder seiner bedeutenderen Compositionen ein Product einer durchempfundenen, selbsterlebten Seelenstimmung zu machen, so daß dieselben deshalb sämmtlich als wahr und tiefgefühlt erscheinen. Viele seiner Schöpfungen sind völlig populär geworden, worunter die Concert-Ouverturen, die Lustspiel-Ouverturen, der „Schlachtgesang“, die „Dithyrambe“ Schiller’s, das „Lied vom Wein“ und andere zu rechnen sind.

Rietz steht mit vollem Mannes- und Künstlerbewußtsein auf „classischem Boden“, ohne jedoch in starrer Abgeschlossenheit sich den Schöpfungen der Gegenwart zu verschließen; dafür sprechen die Programme der Concerte, welche er in Düsseldorf, Leipzig und Dresden dirigirte; dafür spricht seine Thätigkeit als Opern-Dirigent, insbesondere in der sächsischen Residenz, wo er Wagner’s „Tannhäuser“, „Fliegenden Holländer“ und „Die Meistersinger“ mit gewissenhaftester Objectivität und entschiedenem Interesse leitet. Charakteristisch bezeichnet das Ehren-Doctordiplom der Universität Leipzig ihn als Mann, „dessen Streben in der Theorie wie in der Praxis, im selbstständigen Schaffen wie im Leiten der Ausführung fremder Tonwerke unverrückt dem Hohen und Schönen zugewandt ist und sich dem Echten in jeder Kunst ebenbürtige Ziele setzt“.

Der Meister erschien bis jetzt als weißer Rabe unter seinen Capellmeistercollegen: er hatte keinen Orden. Leicht wäre es ihm gewesen, durch Widmung seiner zahlreichen Compositionen an fürstliche Personen ein oder das andere Bändchen zu erlangen; ihm fehlte dazu alles und jedes Zeug. Der sonderliche Mann hat die Marotte, seine Compositionen nur guten Freunden zu widmen. Erst in neuester Zeit hat ihm König Johann bei Gelegenheit seiner goldenen Hochzeitsfeier das Ritterkreuz des Albrechtsordens verliehen.

Daß Rietz niemals um Fürstengunst gebuhlt hat, ist ein Umstand, der ganz von selber von dem Künstler Rietz auf den Menschen Rietz hinüberweist. Hut ab vor ihm, in letzterer Beziehung nicht weniger als in ersterer! Dort wie hier sind Lauterheit, Biederhaftigkeit und Ueberzeugungstreue seine vornehmlichsten Charakteristica. Was Rietz im Leben wie in der Kunst einmal für wahr und gut erkannt hat, das vertritt er mit Mannhaftigkeit und edlem Eifer, und wiederum was ihm im Lichte der Verwerflichkeit und Schädlichkeit erscheint, das hat in ihm den unerbittlichsten Gegner, einen Gegner, der vom feigen Temporisiren und Vermitteln nichts wissen will und der von Scheingründen, seien diese auch noch so blendend aufgetischt, sich nicht beirren läßt. Daß er ferner auch durch den Köder materieller Vortheile sich nicht zum Abweichen von der Bahn seiner Ueberzeugung hat verlocken lassen, ist nach allem Vorhergesagten eigentlich selbstverständlich, wie auch dafür sein ganzes Leben und Wirken den schlagendsten Beweis giebt. Ist nun somit Rietz ein im wahrsten Sinne des Wortes nobler Charakter, so verbindet sich auch mit dieser Eigenschaft die einer liebenswürdigen Persönlichkeit. Aber die Liebenswürdigkeit liegt nicht gleich auf der Oberfläche; sie will zu ihrer Entfaltung erst den richtigen Boden haben – den der Gleichartigkeit der Gesinnung und der längern Bekanntschaft. Rietz muß sich erst für Jemanden in irgend einer Weise interessiren, oder dieser Jemand muß mit dem Geistes- und Gefühlsleben Rietz’s Verwandtes offenbaren; erst dann thaut er gewissermaßen auf und verscheucht das Vorurtheil, das man anfänglich vielleicht gegen ihn als Schroffen und Unzugänglichen haben mochte, erst dann spendet er mit freigebigster Hand aus dem reichen Schatze seines Wissens, seiner Erfahrungen und – seines Witzes. Namentlich kennzeichnet letzterer ihn als echtes Berliner Kind, und zwar als ein Berliner Kind, das trotz des langjährigen Fernseins von der heimathlichen Brutstätte des Witzes und Sarkasmus an Schärfe und Schlagfertigkeit keine Einbuße erlitten hat.




Der deutschen Jugend Weihnachtsbüchertisch.


Von Gustav Wustmann.


II.


Was man als Kind schlechtweg Lesebücher nennt, darin haben wir die poetische Literatur der Jugend wiedererkannt. Wir werfen nun zunächst einen Blick auf ihre wissenschaftliche Literatur, also auf die Lehrbücher, und beginnen hier mit der Geschichte. Eine genaue Detailkenntniß, einen klaren Einblick in den ursachlichen Zusammenhang der Ereignisse, eine plastische Anschauung von Personen und Sachen wird man, wie die menschliche Fassungskraft einmal beschaffen ist, immer nur von einzelnen Abschnitten der Geschichte sich aneignen können. Diese einfache Wahrheit hat sich mehr und mehr auch beim Geschichtsunterrichte der Jugend Geltung verschafft. Auch die Jugend schon soll aus dem großen Nebelgrau, als welches ihr die Weltgeschichte zunächst erscheinen muß, wenigstens eine Anzahl starkbeleuchteter Bergkuppen hervorragen sehen; auch sie soll nicht mit einem fleischlosen Gerippe von Namen und Zahlen abgespeist werden, sondern sie soll sich zuerst in eine Reihe besonders glänzender und hervorragender Partieen der Geschichte völlig hineinleben und darin heimisch werden, und später erst sollen zwischen diese farbenglänzenden Bilder die mangelnden Bindeglieder eingeschoben werden, die immerhin dann matter gezeichnet sein mögen. Dies erreicht man aber nicht, wie man sich gewöhnlich einbildet, indem man die Vorgänge der Geschichte lediglich um hervorragende Personen gruppirt und so die ganze Darstellung in künstlichster Weise und oft mit größter Mühe und Noth in die biographische Form hineinzwängt, sondern dadurch, daß man auch die Jugend schon geraden Weges an die sogenannten Geschichtsquellen hinanführt. So frisch und anschaulich, mit einer solchen Fülle belebenden Details zu erzählen, so mitten in die Dinge hineinzuversetzen, daß man sie Schritt für Schritt mit zu durchleben meint, das vermag nimmermehr die straff concentrirte Biographie, noch weniger ein systematisches Lehrbuch der Geschichte, dessen Aufgabe es ist, eine abgerundete, zusammenfassende, in allen Partien möglichst sorgfältig ausgeführte Darstellung zu geben, sondern einzig und allein die Geschichtsquelle. Nicht den modernen Biographen oder Historiker darf die Jugend erzählen hören, sondern jene Alten, die die Ereignisse selbst mit durchlebt und sie in schlichter, treuherziger, naiver Weise mit behaglichster Ausführlichkeit aufgezeichnet haben.

Auf diesem Felde hat sich wieder die Buchhandlung des Halle’schen Waisenhauses Verdienste erworben. Dort erscheinen schon seit einer Reihe von Jahren gute Bearbeitungen von Quellenschriftstellern zur Geschichte des classischen (d. h. des griechischen und römischen) Alterthums, und auch mit der deutschen Geschichte ist wenigstens ein guter Anfang gemacht, bei dem es hoffentlich nicht bleiben wird. Da liegt die Geschichte Karl’s des Großen vor, nach Einhardt, dem Mönch von St. Gallen, wiedererzählt, die Geschichte Heinrich’s des „Städtegründers“ und Otto’s des Großen nach Widukind von Corvey und manches Andere. Jede Buchhandlung kann ein Verzeichniß der bisher erschienenen Bände, deren Preis je nach ihrer Stärke sehr verschieden ist, zur Auswahl vorlegen; daher können wir uns auf diese Andeutungen beschränken. Natürlich ist auch außerhalb des genannten Verlags mancherlei Gutes in dieser Richtung geleistet worden; wir nennen nur noch für die deutsche Geschichte ein viel zu wenig bekanntes Buch und wieder ein solches, das die Eltern wahrscheinlich mit Interesse mitlesen werden, wenn es die Kinder nur erst besitzen, nämlich O. Klopp’s „Geschichten charakteristischer Züge und Sagen der deutschen Volksstämme aus der Zeit der Völkerwanderung“ (Weidmann, 21/4 Thlr.).

Es versteht sich von selbst, daß es mit diesen Geschichtsdarstellungen an der Hand der Quellen nicht abgethan ist. Zusammenfassende systematische Lehrbücher müssen sich daran anschließen. Und da wüßten wir denn für die alte Geschichte nichts besseres als Jäger’s „Griechische“ und „Römische Geschichte“ (Bertelsmann, 2 Thlr. 8 Sgr. und 2 Thlr. 4 Sgr.) und für die vaterländische Geschichte ein prächtiges Buch, das wir nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 821. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_821.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)