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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

einer Fürstlichkeit gebührenden Reverenzen. Doch war der Ton, dessen sie sich in der Conversation oder gar gegen ihre Untergebenen bediente, keineswegs fein, sondern vom gröbsten Dialectschrot und nicht selten mit Zweideutigkeiten versetzt. Das Rückgebäude ihres kleinen Industriepalastes barg einen kostbaren, bereits zur Versteigerung gekommenen Marstall, und ihre Fuhrwerke zählten zu den geschmackvollsten der Residenz. Bei Ausfahrten trug sie ein bis an den Hals geschlossenes dunkles Kleid mit kleinem umgeschlagenen Hemdkragen und eine doppelt gewundene, massive goldene Kette mit einem ditto Kreuz, dessen sich kein Erzbischof hätte zu schämen brauchen. Wenn sie über Land ging, begleitete sie das ihr zum Gefolge dienende Industrieritterthum in mehreren Wagen, um sich draußen mit der Herrin zu einem üppigen, von Champagner überfließenden Gelage zu vereinigen. Doch machte sie auch fromme Ausflüge. Eine Wallfahrt, die sie in geistlicher Begleitung und unter Vorantragung eines Kreuzes zu Fuß nach Altötting unternehmen wollte, ungefähr in der Art, wie die alten bayrischen Kurfürsten zuweilen thaten, wurde vom Ordinariat verboten. Sie begnügte sich also, bis Neuötting auf der Eisenbahn zu fahren; das Opfer bei der schwarzen Muttergottes ist indeß nicht dürftiger und die vorgeschriebene Generalbeichte wahrscheinlich nicht weniger erbaulich ausgefallen. Aber nicht nur dem Glauben huldigte sie, sondern auch dem Aberglauben. Noch wenige Tage vor der Katastrophe wurde beobachtet, wie sie sich die Karten schlagen ließ. Sie rauchte dabei und schien von dem Orakel sehr befriedigt. Zuletzt ging die Kartenschlägerin mit vergnügtem Gesicht von dannen. Die Stümperin! von dem finstern Geiste, der bereits das Haus durchschritt, hatte sie nichts bemerkt.

Zum letzten Mal zeigte sich Adele den Neugierigen am Allerheiligentage, wo sie in einem schwarzen Sammetkleid zum alten Friedhof fuhr und am Eingang desselben einen Kranz kaufte. Sie trug ihn, von einem fürchterlichen Gedränge begleitet, selbst an das Grab ihres Vaters, das sie mit einem neuen pracht- und geschmackvollen Denkmal in gothischem Styl hatte schmücken lassen. Vor dasselbe legte sie den Kranz nieder, gab Weihwasser und verweilte längere Zeit in stillem Gebete. Wahrlich doch keine ganz schlechte Schauspielerin! Zahlreiche Weiber weinten, vernünftige Männer hätten in diesem Augenblick wohl kaum eine Bemerkung gewagt, und doch sagte, wie ich von Ohrenzeugen weiß, ein alter zerlumpter Kerl, dem der Schnaps wohl keinerlei Capitalsanlage gestattet, ganz laut: „Was will s’ denn, die? Da herein kommt s’ ja doch net!“ Was vereinigte sich Alles an diesem Grabe: Gaunerei, Heuchelei, Dummheit und laugenartige, Alles überspritzende Bettlersatire! Armer Joseph Spitzeder, Du hättest bessere Thränen verdient, wenn auch nur vor einem hölzernen Kreuz vergossen!

Der 12. November dieses Jahres war ein düsterer Tag; zum ersten Mal hatte sich der Winter leibhaftig eingestellt. Flüchtiger, mit eisigen Flocken vermischter Regen schlug an die Fenster, machte die Wege schlüpfrig und den Aufenthalt im Freien unangenehm. Das ist der rechte Horizont für eine That, wie sie nun gleich beschrieben werden soll und wozu man warmes, wonniges Bummel- und Revolutionswetter nicht brauchen kann. Etwa um vier Uhr Nachmittags durchschlenderte ein großer Mann mit tief eingedrücktem Hut die Schönfeldstraße. Es war der königliche Polizeiassessor Ries, unser erster, sehr verdienstvoller Sicherheitsbeamter. Er hat sich offenbar nur besehen, wie die Wirthschaft beim „Wilhelm Tell“ florirt und ob das Haus vis-à-vis noch auf dem alten Flecke steht. Beruhigt verschwand er gegen den englischen Garten. Ueber eine kleine Weile öffnet sich am Seitenflügel des Kriegsministeriums eine Pforte und heraus marschirt eine Compagnie Soldaten, die merkwürdiger Weise Niemand hatte hineinziehen sehen; sie theilen sich links und rechts und sperren die Schönfeldstraße nach allen Seiten ab. Stehen gebliebene Vorübergehende werden ersucht, sich schleunigst davon zu machen, und die fröhliche Kneipe verfällt plötzlich in stummes Entsetzen. Am wenigsten weiß sich der Portier am Hôtel Spitzeder zu fassen, denn wie aus dem Boden gewachsen stehen etliche Gensd’armen auf seinem Posten und lassen ihn zu seiner eigenen Thür nicht mehr hinein. Inzwischen theilen sich auf einen Augenblick die militärischen Ketten an den beiden Enden der Straße, um einigen Kutschen Platz zu machen, die alle bei der Spitzeder vorfahren. Der Polizeidirector mit Assessoren und Commissären, ein Untersuchungsrichter mit den nöthigen Actuaren, der Procuraträger des Hauses Riemenschmied als Sachverständiger in der Buchführung und eine weitere Anzahl Gensd’armen steigen aus, obwohl sich das Ganze noch soeben wie ein Hochzeitszug angesehen hatte.

Ohne Zweifel ist in diesem Augenblick irgend ein vertrautes Wesen die Treppen hinangestürzt, um der Herrin das Ereigniß zu melden. Diese mußte sofort wissen, daß ihre Stunde geschlagen habe, und die Größe ihres Verbrechens und die Höhe des unmittelbar bevorstehenden Sturzes bedenkend, konnte sie wohl – gleich einer vor etlichen Jahren vom Schauplatz abgetretenen Großschwindlerin, der sogenannten Schneiderprinzessin – durch einen Schluck dem ganzen Jammer vorbeugen. Die Befürchtung wurde auch gehegt. Aber nein, zur nicht geringen Beruhigung des Herrn Polizeidirectors kam sie diesem heiter und gefaßt entgegen und empfing ebenso die zur Untersuchung der Bücher und Baarbestände eintretende Commission. Die ganze augenblickliche Bewohnerschaft der Anstalt: Stallleute, Köchinnen, Mägde, Ausläufer, Buchhalter, Zahlmeister, Cassirer, Revisoren – ein ultramontaner Augsburger Advocat, der neben der Infallibilität auch das Spitzeder’sche Geschäft vertheidigt, war glücklicherweise eben weggegangen – wurde consignirt. Im Schlafzimmer, wo das Fräulein und ihre Gesellschaftsdame, respective intime Freundin, Rosa Ehinger, zwei nebeneinanderstehende prachtvolle Betten hatten, fand man gegen eine Million in Staatspapieren, welche, als sie sortirt waren, die beiden Lagerstätten vollkommen bedeckten. Baares Geld und Banknoten wurden aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, darunter tausend Gulden Papier in einem Schürloch steckend, die aber schwerlich den Flammentod gefunden hätten, sondern wahrscheinlich, an irgend einer treuen Brust ruhend, hinausspaziert wären. Das Meublement war schön, doch nicht sehr luxuriös, nur in dem etwas stylisirten „Rittersaal“ machte sich ein größerer Aufwand bemerklich. Auch fehlte es nicht an Clavieren, Polyphonien und dergleichen Instrumenten; besonders zog eine große und kostbare Spieldose die Aufmerksamkeit auf sich. Es soll oft vorkommen, daß sich unter den Effecten großer Bankerottirer oder Betrüger solche Spieluhren befinden. Ob das nicht seinen psychologischen Grund hat und diese mechanischen Dinger vielleicht im Stande sind, Verstand und Gewissen momentan einzulullen? Ein Saiten- oder Flötenspiel, in welchem menschliches Leben vibrirt, möchte diesen negativen, dem höheren Zweck der Kunst zuwiderlaufenden Erfolg wohl nicht erzielen.

In den Gängen und Geschäftslocalitäten fehlte es auch nicht an frappanten Placaten, z. B. „Thue Recht und scheue Niemand!“, unterzeichnet A. Spitzeder. Die Gemäldegalerie, von welcher die Gaunerblätter viel Rühmens machten, ist nicht der Erwähnung werth. Inzwischen war Mitternacht herangekommen und der Sachverständige hatte erklärt, daß eine Buchführung vorliege, welche das Einschreiten des Gesetzes nach allen Richtungen provocire. Das consignirte Personal wurde nun entlassen und hastig stürzte die ganze Meute die Treppen hinunter und zum Tempel hinaus. Als man darauf Adelen ankündigte, daß sie in Civilhaft genommen würde, sank sie erblassend zurück. Ihre weitere Behauptung, sie sei so unwohl, daß sie nicht folgen könne, veranlaßte die Herbeiholung des Polizeiarztes Dr. Frank, der aber erklärte, sie sei nach kurzer Erholung transportabel.

Niemand befand sich mehr an ihrer Seite, als die treue Rosa. Diese, ein hübsches Mädchen, war bereits auf dem Hof- wie auf dem Volkstheater ohne sonderlichen Erfolg aufgetreten; ihre Beschützerin wollte mit Gewalt eine Künstlerin ersten Ranges aus ihr machen und dem Lehrer des Fräulein Ziegler, Hofschauspieler Christen, ließ sie fabelhafte Summen bieten, wenn er ihr Unterricht geben wolle, was der berechtigte Stolz dieses Künstlers natürlich zurückwies. So mußte sich Rosa, statt scenische Triumphe zu feiern, mit ihrer Stellung bei Adelen begnügen; es verdient aber Erwähnung, daß sie auch im Unglück nicht von ihr wich, sondern bat, die Herrin begleiten zu dürfen. Man willfahrte ihr. Nachts ein Uhr verließ Adele Spitzeder mit ihrer Freundin die Räume, in denen sie, scheinbar mit Glücksgütern überhäuft, zwei Jahre lang ein herrliches Leben geführt hatte. Von kaltem Schneesturm umtobt, bestiegen sie, begleitet von einem Polizeicommissar, nicht ihre reizende Kalesche, sondern einen officiellen Fiaker, auf dessen Bock bereits ein Diener Platz genommen hatte, aber nicht ein Diener der Betrügerin, sondern einer der Gerechtigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_807.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)