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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

vorigen Jahrhundert förmliche Schauspieler- und Sängergeschlechter. Die Dynastien der Le Brun, Moralt, Kramer, Schröder, Devrient blühten bis in unsere Tage hinein. Welche Gottheit auch diesen Segen zu spenden hat, dem Stamme Spitzeder ist er nicht zu Theil geworden. Adele sollte sich allerdings der Bühne widmen, aber Dingelstedt, durch den ungünstigen Eindruck ihrer äußeren Erscheinung abgeschreckt, verweigerte ihr seine Arena. Erst unter der folgenden Intendantur, im Jahre 1860, gelang es der Kunstnovizin, als „Deborah“ einen theatralischen Versuch durchzusetzen, der aber gänzlich mißlang. Sie ist zwar von stattlichem Wuchs, aber die geschlitzten Augen, deren blaßblaue, fast farblose Pupillen nur stechende Blicke versenden, sowie auch ein unverhältnißmäßig vorstehendes und nicht einmal dem Colorit nach bescheidenes Riechorgan hinderten sie an jeder wirksamen, zum Herzen sprechenden Mimik. Ueberhaupt zeigt die ganze Physiognomie, namentlich jetzt in ihren vorgerückten Jahren, eine Energie, daß man das Fräulein, zumal mit ihrem kurzgeschnittenen, kühn toupirten Haupthaar, für einen verkleideten Mann halten könnte, wenn nicht die dünne Stimme wieder an das Weibliche erinnerte. Die Volkssage ergeht sich denn auch in den kühnsten Combinationen, die wir hier unerwähnt lassen.

Ziemlich gepäckfrei und namentlich mit Lorbeeren nicht beschwert, ging sie von München nach Zürich in’s Engagement, wo sie Schulden im Betrage von etwas über zweitausend Franken contrahirte, gewiß eine Kleinigkeit, die man einem jugendlichen Wesen, das sich mit voller Seele der Kunst hingiebt und, ohne es zu wollen, den holden Leichtsinn dieser Berufssphäre eingesogen hat, gerne verzeiht. Vielleicht in der Vorahnung ihres künftigen Sternes verließ sie die Stadt Zwingli’s ohne Gewissensbisse, überzeugt, daß ihren Gläubigern einst Alles doppelt und dreifach werde vergolten werden. Richtig soll auch ein später nach Zürich gekommener Agent sich mit denselben auf eine Zahlung von – fünfzig Procent verständigt haben.

Adele war also wieder zu Hause, in Armuth und Garderobe fast auf ihre Debütrolle Deborah zurückgekommen. Da inserirte sie eines Tages in den Münchener „Neuesten Nachrichten“, die ihr glückbringend und verhängnißvoll werden sollten, daß Jemand ein Darlehn gegen hohe Verzinsung aufzunehmen wünsche. Man nennt allgemein einen Packträger Namens Wagner, der durch eigenthümliche Inspiration sich gedrungen fühlte, der Inserentin baare fünfhundert Gulden zu bringen. Und siehe: dabei blieb es nicht! Wahrscheinlich durch das hohe Zinsenangebot gelockt, erschien ein zweiter und dritter Biedermann und eine vierte und fünfte Helferin, und so soll sich die Bedrängte innerhalb vierzehn Tagen in dem Besitze von zwanzigtausend Gulden befunden haben.

Die Schleußen des Glückes schienen geöffnet; Adelen selbst aber war plötzlich ein Licht aufgegangen über die Kunst, reich zu werden. Mit großer Schlauheit hatte sie gleich die ersten Wechsel, die sie noch mit schüchterner Hand unterschrieb, so „auseinander datirt“, daß sie im Stande war, die hohen Interessen, sowie auch die wenigen Summen, auf deren Heimzahlung bestanden wurde, mit den in wachsender Proportion nachrückenden Einlagen zu decken. Das Wort des Zauberlehrlings war gefunden. Unaufhörlich schleppten die Eimer Geld herbei und wieder Geld, so daß die bescheidene Wohnung beim „Stangl im Thal“, einem uralten Münchener Wirthshause, in welchem viel Landvolk verkehrt, besonders aus der Gegend von Bruck und Dachau – daher der Name „Dachauer Bank“ – verlassen werden mußte. Sie acquirirte das dreistöckige Haus Nr. 9 an der in die classische Ludwigsstraße einmündenden Schönfeldstraße, sowie auch die gegenüberliegende Kneipe zum „Wilhelm Tell“, die restaurirt und, was Küche und Keller betrifft, flott ausgestattet wurde. Eine etwas entferntere Lage, sowie der doppelte Zugang, östlich von der am englischen Garten sich hinziehenden Königinstraße und westlich vom Kriegsministerium, respective der Ludwigsstraße her, waren dem „Geschäft“ nur günstig, da nicht jeder Liebhaber eines hohen Zinsfußes sich gern begaffen läßt. Auch hatten die Droschkenkutscher und Fiaker, deren immer einige entweder vor der „Bank“ oder vor der Kneipe zu sehen waren, eine schöne Losung, wenn auch die meisten Bauern an prügelartigen Stöcken ihre schweren Reisesäcke auf dem Rücken tragend, zu Fuß hinabkeuchten. Das Weibervolk trug seine Capitalien und Zinsen in Körbchen hin und her, und jeder vernünftige Vorübergehende hatte tagtäglich Gelegenheit, an dem vergnügten Lächeln dieser dummen Geschöpfe sein Aergerniß zu nehmen.

Ein stämmiger Portier, wie man sagt mit zwölfhundert Gulden jährlich besoldet, bewachte die Pforten des Wundertempels, nur immer Drei bis Vier auf einmal hineinlassend, während sich die Wartenden einstweilen im „Wilhelm Tell“ vergnügen mußten, aus dessen immer gefüllten Räumen ein tolles Gesumme dem Vorübergehenden an die Ohren schlug. Hatte ja doch Jeder Grund, sich einen guten Tag aufzuthun, sowohl wer die dem eingelegten Capital fast gleichkommenden Monatszinsen erhob, als auch der Neuling, dem von seiner Opfergabe gleich die erste Rate zurückvergütet wurde. Neben den habsüchtigen Betrogenen vereinigte der „Tell“ – schade um die Firma! – auch das Gaunercorps der Zutreiber und Agenten, die hier ihre Rapporte austauschten und die Pläne zu wohlstandsmörderischen Expeditionen auf das flache Land entwarfen. Unermüdlich und offenbar zum Ergötzen dieses Gesindels streifte die Gensd’armerie an der Wirthschaft wie an der Räuberhöhle selbst vorüber, eine lebendige Mahnung an die tödtende Eigenschaft des Buchstabens, der die Justiz zwang, den Geist der Gesetze unbefriedigt zu lassen und dem schändlichen Treiben müßig zuzusehen. Die Codices wurden nach allen Richtungen durchstöbert, das Strafgesetzbuch, das Wechselrecht, das Handelsgesetz, die Gewerbeordnung, der Civilproceß – nichts bot einen Angriffspunkt, so lange Adele Spitzeder zahlte! Wechsel, welche allenfalls Advocaten in Händen hätten, erbot sie sich wiederholt, schon vor der Verfallzeit, zu honoriren, armen Leuten aber ihr Guthaben jeden Augenblick, wenn sie es wünschten oder bedurften, zurückzuzahlen. Aus den immer neu und immer stärker zuströmenden Einlagen ließ sich ja Alles leicht machen.[1] Sie war so übermüthig, fällige Summen, die von mißtrauischen Bauern zur Probe verlangt wurden, aber sogleich respectvollst wieder angelegt werden wollten, unter Grobheiten zurückzuweisen, so daß die ihr unverdientes Glück gar nicht ahnenden dummen Teufel beschämt abzogen. Die ultramontanen Kreuzerblätter beeilten sich jederzeit, dabei Vorkommnisse auszuposaunen, wodurch natürlich das Ansehen der Schwindlerin nicht wenig gehoben wurde.

Einem Bauern aus der Traunsteiner Gegend, der fünfhundert Gulden in eine Schweinsblase verpackt hatte, um sie des andern Tags zur Dachauer Bank zu befördern, nahm seine von Befürchtungen geplagte Bäuerin hundert Gulden heraus, ohne ihm etwas davon zu sagen. Der Bauer kommt nach München und wird gefragt, wie viel er bringe. „Fünfhundert Gulden!“ antwortet er, worauf die ganze Blase in eine Mulde geschüttet und der Wechsel, unter Ausbezahlung der ersten Monatszinsen, ihm eingehändigt wird. Darüber stellen sich bei der Bäuerin Gewissensbisse ein, sie entdeckt ihrem Manne, was sie gethan, und dieser reist abermals nach München, um die fehlenden hundert Gulden nachträglich zu entrichten. Adele, gerührt von der Ehrlichkeit des Mannes, erläßt die Nachzahlung vollständig und schenkt ihm noch eine Hand voll Thaler dazu. Wessen Herz sollte durch solche Züge nicht vollständig gewonnen werden?

Bei günstiger Witterung pflegte die Schwindlerin häufig, ihre Cigarre rauchend und einen Zwicker auf der kartoffelförmigen Nase, vor ihrem Hause auf- und abzuspazieren. Die Gäste des „Wilhelm Tell“ eilten dann heraus, ihr theils in erheuchelter, theils in aufrichtiger Unterwürfigkeit die Hand küssend. Kein bäuerliches Individuum hätte gewagt, das Haupt zu bedecken; sie acceptirte auch, im Uebrigen gnädig und herablassend, alle

  1. In welch verlockender Weise, die namentlich auf die Masse des Volks berechnet war, dies geschah, darüber werden jetzt haarsträubende Thatsachen laut. Um sich das Zuströmen der Capitalien zu sichern, gewährte sie ungeheure Zinsen und zahlte diese in dem Augenblick, wo bei ihr das Capital angelegt wurde, gleich baar aus. Zu einer Zeit, in welcher man in München zu 4½ % jährlich überall Hypotheken haben konnte, in der jede Bank nur 5 % für das Jahr rechnete, gab die Spitzeder 10 % monatlich. Brachte ihr also Jemand 100 fl. auf ein Jahr, so zahlte sie gleich 30 fl. = 10 % Zinsen auf drei Monate im Voraus. Nach Verlauf von drei Monaten zahlte sie abermals 30 fl., nach einem Jahr hatte also der glückliche Darleiher an Zinsen schon 120 fl. zurückempfangen und war außerdem noch im Besitz eines Wechsels von Fräulein Adele Spitzeder, welche Wechsel allezeit prompt honorirt wurden. Da alle ihre Wechsel auf sie lauteten und nicht weiter übertragen werden konnten, so war sie vor jedem äußern Eingriff in ihr „Geschäft“ geschützt. Freilich sollen dieselben auch die böse Eigenthümlichkeit haben, daß die Gläubigernamen durchweg ungenau und meist ganz falsch geschrieben, ja viele Wechsel sogar mit fingirten Namen versehen, also gleich von vornherein ungültig sind. Vor der Hand genüge unsern Lesern diese Andeutung über den sogenannten Geschäftsbetrieb eines Schwindels, der zu den entsetzlichsten „besonderen Kennzeichen“ unsers Jahrhunderts gehört.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_806.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)