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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Eifer auf die drei Fahrzeuge, welche in der That, während sie bisher in großen Abständen hinter einander den Curs nach Norden gehalten hatten, plötzlich Alle auf einmal Re machten und direct auf das Land zu kamen. In demselben Augenblicke aber tauchten hinter dem Wiessower Ort zwei Fahrzeuge, die dort versteckt gelegen haben mußten, auf und es war bald ersichtlich, daß sie zwischen der Küste und den drei Booten nach Norden hin entkommen wollten, während ihnen das vorderste der Boote den Weg abzuschneiden suchte. Aber schon jetzt war es zweifelhaft, ob es seine Absicht erreichen würde, da es bis zu dem Punkte, wo sich die Bahnen schnitten, die längere Strecke zu durchlaufen hatte und die Schmugglerboote mindestens ebenso gut segelten, überdies hart vor dem Winde lagen. Wirklich zeigte denn auch schon nach den nächsten zehn Minuten ein kleines graues Wölkchen, das von dem verfolgenden Boote aufstieg und dem in immer kürzeren Pausen andere und andere graue Wölkchen folgten, daß die Steuerofficianten an dem Gelingen der Jagd zu verzweifeln begannen, und bald bewies das Einstellen des Feuers, daß die Jagd mißlungen war. Die Schmugglerboote erschienen nur noch als Punkte am dunkeln Horizonte; das verfolgende Boot hatte umgelegt und kreuzte nach dem Wiessower Ort zurück, an welchem die beiden anderen mittlerweile längst angekommen waren, „vermuthlich, um mit den von der Landseite Herzueilenden gemeinschaftlich constatiren zu können, daß sie das Nest wieder einmal leer gefunden,“ meinte Gotthold.

„Die verdammten Kerls!“ sagte Jochen Prebrow.

Sie hatten, auf der Spitze einer der höheren Dünen stehend, eifrig das aufregende Schauspiel verfolgt, von welchem jede einzelne Phase den beiden Söhnen der Küste so klar war, als wären sie inmitten der Action gewesen. Dabei hatte ihnen freilich das vortreffliche Fernrohr die wesentlichsten Dienste geleistet; es war von Hand zu Hand gegangen und eben hatte es Gotthold. Er meinte, daß, wenn Jochen’s Angaben richtig wären, sie, wenigstens auf den ferneren Dünen, einzelne Gestalten der Steuerofficianten sehen müßten, und er suchte, langsam von Hügel zu Hügel weiterrückend, das vor ihnen liegende, bereits im Abendgrau versinkende Terrain ab, als er plötzlich einen leisen Ausruf hören ließ. In demselben Moment hatte er aber auch schon das Teleskop sinken lassen und Jochen mit sich fort von der Spitze der Dünen herabgerissen, daß ihre Köpfe hinter dem wehenden langhalmigen Grase versteckt waren.

„Was giebt’s?“

„Hinrich Scheel! ich habe ihn mit vollkommenster Deutlichkeit gesehen. Er stand ungefähr tausend Schritte von uns, oben auf der Düne dort, mit dem Rücken hierher.“

„Wie ist das möglich?“

„Ich weiß es nicht; aber er war es; ich würde ihn unter Tausenden herauskennen; da ist er wieder.“

Aber es war nicht mehr auf derselben Düne, sondern etwas weiter rechts und, wie es Gotthold schien, näher als vorhin; auch stand der Mann, in welchem Jochen ebenfalls durch das Fernrohr Hinrich zu erkennen glaubte, nicht mehr aufrecht, sondern lag hinter dem Dünenrande, ganz in derselben Weise wie die beiden Gefährten, nach der Richtung des Rahnke’schen Hauses spähend, aus welchem er gekommen war. Wenigstens zweifelte Gotthold nicht daran. Die ganze Situation war ihm mit einem Schlage klar. Hinrich Scheel war, so oder so, an der Fortsetzung seiner Flucht verhindert worden und hatte in dem Hause Rahnke’s, das ja nach Jochen’s Schilderung nichts Besseres als eine Diebeshöhle war, eine Unterkunft gefunden, aus welcher ihn eben der Ueberfall der Steuerbeamten vertrieben. Nun hatte er sich vor denselben in die Dünen geworfen und hatte alle Aussicht, zu entkommen, selbst wenn man ihn verfolgte, da die hereinbrechende Nacht und das unendlich zerklüftete Terrain seine Absichten so sehr begünstigten.

Jochen theilte vollständig Gotthold’s Meinung; aber was sollten sie jetzt thun? Abwarten, ob Hinrich, der noch immer unbeweglich auf derselben Stelle lag, seine Flucht in derselben Richtung fortsetzen und ihnen also nahe und näher kommen werde, oder den Versuch machen, sich an ihn, der augenscheinlich von dieser Seite keine Gefahr ahnte, heranzuschleichen? Unsicher war Beides in fast gleichem Maße. Die Dunkelheit nahm jetzt sehr schnell zu; bald konnte, bei der noch immer großen Entfernung, der Mann dort nur noch als ein dunkler Punkt auf dem hellern Sande erscheinen und mußte in kurzer Zeit ganz verschwinden; andererseits brauchte er sich nur einmal umzusehen, wenn sie nicht eben vollständig gedeckt waren, und dann war er sicher in der nächsten Secunde die Düne, auf welcher er lag, hinabgerutscht, und an ein Einholen durfte man selbstverständlich nicht denken.

Gotthold schlug das Herz zum Zerspringen, während er das überdachte und mit Jochen im Flüsterton durchsprach. Hing doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, sein und ihr Schicksal davon ab, daß er den Menschen dort in seine Gewalt bekam! Er hatte bis vor wenigen Minuten kaum den Schatten einer Hoffnung gehabt, es werde ihm das jemals gelingen; nun schien ihm ein fast wunderbarer Zufall dazu verhelfen zu wollen. Da war der Mann, hier er mit seinem treuen Jochen, die Entfernung, die sie trennte, so gering, in ein paar Minuten zurückzulegen, und ein Augenaufschlag, ein Windhauch, ein Nichts konnte ihm die Beute entreißen, als hätte er dies Alles nur geträumt, als sei dies Alles nur eine Täuschung seiner aufgeregten Sinne, und er brauche sich nur die Augen zu reiben, und der dunkle Fleck da drüben, der ein Mensch zu sein schien, war verschwunden.

Er war verschwunden. Hatte er die Verfolger von jener Seite auf sich zukommen sehen und seine Flucht fortgesetzt; hatte er gemeint, daß die Luft nun rein sei und er seinen Rückzug antreten könne – die Stelle, wo er eben noch gelegen, war leer. Ein Irrthum war unmöglich; trotz der tiefen Dämmerung setzte sich der Rand der Düne noch scharf genug von dem dunklen Himmel ab. Würde er wieder auftauchen? und dann näher oder ferner?

Ein paar Secunden verrannen, in welchen die Beiden nicht zu athmen wagten. Da! da war er wieder und näher – bedeutend näher; er schien gerade auf sie zuzukommen, und jetzt konnte darüber kein Zweifel mehr sein. In wenigen Minuten hatte sich die Entfernung um die Hälfte verringert; sie wagten schon kaum noch durch das wogende Riedgras zu lugen, so nothwendig es auch war, die Bewegung des Mannes, die ja noch im letzten Augenblicke eine andere Richtung nehmen konnte, zu verfolgen. Und jetzt schlüpfte er durch die Senkung zwischen zwei Hügeln der nächstgelegenen Kette und kam gerade durch die tiefe, von allen Seiten eingeschlossene Mulde auf die Düne zu, hinter deren Rande sie lagen. Es war die höchste in der ganzen Umgebung, und er wollte vermuthlich von derselben herab noch einmal eine kurze Umschau halten, um sich zu vergewissern, daß von keiner Seite mehr Gefahr drohe.

Sie waren ein paar Fuß hinabgeglitten und hatten sich so tief wie möglich in das Riedgras gedrückt. In wenigen Momenten mußte Hinrich Scheel’s Kopf vor ihnen auftauchen; sie hörten deutlich, wie er sich drüben die ziemlich steile Böschung hinaufarbeitete und vor sich hinfluchte, wenn der Sand unter seinen Füßen wegrutschte.

Jetzt.

Sie sprangen empor, hinauf, hinüber. Mit blitzschneller Wendung war Hinrich unter Gotthold’s Händen weggeschlüpft, aber, indem er sich nach links wandte, Jochen gerade in die Arme gelaufen; und die Beiden rutschten, rollten, kugelten, zu einem Knäuel geballt, die Düne hinab, schneller, als Gotthold im Stande war, hinabzuspringen. Jochen hatte ihn mit starken Armen festgepackt; aber er war bei der letzten Umdrehung unten zu liegen gekommen; mit einer verzweifelten Anstrengung hatte sich Hinrich frei gemacht und holte mit dem langen Einschlagmesser, das er aus der Tasche gezogen, zu einem wüthenden Schlage aus, als Gotthold ihm in den erhobenen Arm fiel und das Messer entwand. Da war auch Jochen bereits wieder in die Höhe; Hinrich Scheel lag seinerseits auf dem Dünensande, das Gesicht nach unten, und Jochen kniete auf seinen Schultern, im Begriff, mit einem dünnen Strick, den er aus alter Kutschergewohnheit immer bei sich trug, ihm die Ellenbogen zusammenzuschnüren.

„Wenn Ihr mich bindet, könnt Ihr mich nur gleich zertreten,“ keuchte Hinrich Scheel; „ich stehe nicht auf.“

„Laß ihn los!“ sagte Gotthold.

„Aber das wollen wir wenigstens an uns nehmen,“ sagte Jochen, indem er dem nahe am Boden Liegenden eine Pistole aus der Tasche zog und die Waffe an Gotthold gab. „So!“

Hinrich Scheel stand wieder auf den Füßen. Aus dem wuthverzerrten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_799.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)