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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

oft sehr delicate Aufträge und sind das Factotum der Künstler. Unter ihnen findet man zuweilen höchst komische Figuren, die eine besondere Schilderung verdienen.

Die Pariser Künstlerwerkstätten liefern nicht selten Stoff zu interessanten Romanen, wie folgender Fall beweist.

Eines Tages tritt in das Atelier des berühmten Malers V. eine Frau mit einem jungen Mädchen, das sie ihm als ihre Tochter vorstellt und als Modell anbietet. Das Mädchen hatte kaum das achtzehnte Jahr erreicht und ihre Schönheit war so groß, daß der Künstler sie voll Bewunderung betrachtete und, wie es sich wohl von selbst versteht, das Anerbieten annahm. Die Mutter fand sich nun täglich im Atelier ein und merkte bald die tiefe Zuneigung, die der Künstler zu dem Mädchen gefaßt hatte. Einige Zeit darauf kam sie allein, und nachdem sie lange über die Armuth geklagt, in welcher sie ihr Gatte zurückgelassen, machte sie unter Forderung einer bestimmten Summe dem Künstler Anträge, welche die Ehre ihrer Tochter gefährdeten. Dieser traute seinen Ohren kaum und war empört über die Verworfenheit der Frau. Indessen stellte er ihr die verlangte Summe zu.

Am folgenden Morgen kam das Mädchen ohne Begleitung der Mutter in’s Atelier. Sie sah bleich und angegriffen aus und ihre schönen Lippen preßten sich krampfhaft zusammen. Nach einer für den Maler höchst peinlichen Pause begann sie:

„Mein Herr, ich bin von Allem unterrichtet. Die bittere Noth, in der wir seit Jahren leben –“

Thränen erstickten ihre Stimme.

„Beruhigen Sie sich,“ bat der Künstler tief ergriffen.

„Sie sind Künstler,“ fuhr das Mädchen fort. „Ihr Herz, das dem Gefühl für’s Schöne geöffnet ist, kann unmöglich dem Mitleid verschlossen sein, kann nicht grausam genug sein, zu dem Unglück die Schande hinzufügen zu wollen.“

„Stillen Sie Ihre Thränen,“ sagte Jener. „Sie haben sich in mir getäuscht. Ich habe Ihrer Mutter ein Darlehn geleistet, das sie mir zurückerstatten mag, wenn es ihr beliebt. Sprechen wir nicht weiter davon!“

Marie – so hieß das Mädchen – kam nun wie früher regelmäßig in’s Atelier, jedoch niemals mehr in Begleitung ihrer Mutter. Sie wurde mit jedem Tage ernster, niedergeschlagener. Der Künstler seinerseits fühlte die Fesseln, die er trug, auf’s Peinlichste. Er liebte jetzt Marie, nachdem er einen Beweis von ihrem Sittlichkeitsgefühl und zugleich von ihrem Vertrauen zu ihm gehabt, noch mehr als früher; er durfte jedoch nicht daran denken, sie jemals zu besitzen, denn er war verheirathet, wenn auch nicht glücklich, und er achtete das Mädchen zu sehr, um eine Maitresse aus ihr zu machen. Er sah keinen andern Ausweg als ihre Entfernung. Indessen quälte ihn der Gedanke, daß sie bei dem verworfenen Charakter ihrer Mutter und bei den Verlockungen, denen ein schönes Mädchen in Paris ausgesetzt ist, am Ende doch zu Falle kommen würde. Sein Inneres war heftig aufgewühlt. Er entschloß sich dennoch, bei dem nächsten Besuche Mariens sie von der Nothwendigkeit zu überzeugen, Paris zu verlassen. Er hatte eine Tante in einer kleinen Provinzialstadt. Diese Dame, eine kinderlose Wittwe, war, wenn auch nicht reich, doch in sehr guten Verhältnissen und er konnte mit Sicherheit darauf rechnen, dieselbe würde auf seine Verwendung Marie als Kammermädchen in’s Haus nehmen. Diesen Plan wollte er Marie mittheilen.

Wer vermag aber seine Empfindungen zu beschreiben, als er statt ihres Besuches einen Brief von ihr erhielt, in welchem sie ihm mittheilte, daß sie Paris auf immer verlassen. Sie dankte ihm in den herzlichsten Ausdrücken für die großmüthige Theilnahme, die er ihr bewiesen und die sie niemals vergessen würde. Was ihr Schicksal beträfe, sagte sie zum Schluß, so könnte er ruhig sein; ihre Zukunft sei gesichert und ihre Ehre keinen Gefahren mehr ausgesetzt.

Der Künstler las den Brief zu wiederholten Malen und fühlte sein Herz von den verschiedensten Gefühlen bewegt. Wenn er sich auch einerseits darüber freute, daß Marie, wie sie selbst versicherte, einer ruhigen Zukunft entgegensehen konnte und ihn also von einer schweren Sorge befreite, so war er doch darüber mißgestimmt, daß sie einen Entschluß ausgeführt, ohne ihm denselben mitgetheilt zu haben. Er sah darin ein Mißtrauen und fühlte sich verletzt. Warum hat sie ihm ihren künftigen Aufenthalt verschwiegen? Warum hat sie ihm über ihren künftigen Beruf kein einziges Wort gesagt? Diese Fragen, die er sich nicht zu beantworten vermochte, quälten ihn unaufhörlich. Er hatte keine Ursache, an der Wahrhaftigkeit Mariens zu zweifeln; dennoch aber konnte er sich der Eifersucht nicht erwehren. Während mehrerer Monate war er zu keiner Arbeit aufgelegt.

Ein Künstler von Ruf wird indessen in Paris nicht nur von seiner Kunst, sondern auch von der Gesellschaft so sehr in Anspruch genommen, daß er nicht lange einer schwermüthigen Herzensregung nachzuhängen vermag. In der emsigen Thätigkeit und in den Zerstreuungen der Pariser Welt erbleichte das Bild Mariens immer mehr im Herzen des Malers.

Mehrere Jahre vergingen. Nur selten dachte V. an Marie, als sie ihm eines Tages auf eine unerwartete Weise in’s Gedächtniß zurückgerufen ward. Unter seinen vielen Verehrern befand sich auch der liebenswürdige Herzog von Orleans, der, von Algerien zurückkommend, sich beeilte, das Atelier V.’s zu besuchen.

„Ich komme diesmal nicht blos, um Ihnen die Hand zu drücken und Ihre neuen Werke zu bewundern,“ sagte der Prinz, „sondern auch, um mich eines Auftrags zu entledigen. Die jüngste Expedition gegen die Kabylen,“ fuhr der Prinz fort, indem er sich in einen Sessel an der Seite des Künstlers niederließ, „war blutiger als sonst. Wir hatten sehr viele Verwundete. Unter den Frauen, die sich der Pflege derselben mit der edelsten Selbstaufopferung widmeten und darin die einzige Genugthuung für die Entsagung aller irdischen Freuden finden, zeichnete sich wie immer Marie Du….er aus –“

„Marie Du….er?“ rief der Künstler lebhaft.

„Hören Sie mich ruhig an,“ ermahnte der Prinz und fuhr dann fort: „Sie hatte sich während ihres fast vierjährigen Berufes durch unermüdliche, vor keiner Gefahr zurückschreckende Wirksamkeit so sehr hervorgethan, daß ich ihr mehrere Male meinen Dank persönlich abstattete. Unsere Truppen verehrten sie wie eine Heilige. In der letzten Expedition leistete sie fast das Unmögliche. Die unausgesetzte Anstrengung, die schlaflosen Nächte, die sie am Lager der Verwundeten und Kranken zubrachte, warfen sie endlich selbst auf’s Krankenlager. Ich fand sie, als ich sie besuchte, schon so erschöpft, daß sie kaum im Stande war, sich aufzurichten. Ihr bleiches Gesicht war schon halb verklärt. Ich überreichte ihr das Kreuz der Ehrenlegion, indem ich versicherte, daß ich durch diese so wohlverdiente Auszeichnung nicht nur meine eigene, sondern auch zugleich die Dankbarkeit Aller ausdrücke, die sie dem Siechthume, dem Tode entrissen, und daß ihr mildes Walten die allgemeinste Bewunderung erregt habe.

Sie lächelte und küßte das Kreuz.

Ich heftete dasselbe, als sie es wieder aus der Hand gelegt, an den Mousselinvorhang ihres Bettes, unter die Skizze einer Madonna, an der ich Ihre Meisterhand zu erkennen glaubte. Ich hatte mich nicht getäuscht.

Als Marie von mir erfuhr, daß ich Sie persönlich kenne und Ihr seltenes Talent hochschätze, erheiterte sich ihr Antlitz. ‚Monseigneur,‘ sagte sie, ‚Sie kehren bald nach unserm theuren Vaterlande zurück, das ich nicht mehr wiedersehen soll. Meine Stunden sind gezählt. Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?‘

‚Von ganzem Herzen!‘ rief ich.

‚Lassen Sie, Monseigneur, sobald ich die Augen geschlossen, dieses Kreuz und dieses Bild in meinem Namen dem Künstler V. zustellen,‘ bat sie. Lassen Sie ihn wissen, mein Prinz, daß das Gebet einer Sterbenden ihn nicht vergessen.‘ –

Am andern Morgen brachte man mir die Nachricht von ihrem Tode. Ich ließ das Kreuz und das kleine Madonnenbild vom Vorhange nehmen und bringe Ihnen selbst die Angedenken.“

Der Prinz zog ein Portefeuille aus der Tasche und überreichte es dem Künstler, der seine Thränen nicht bewältigen konnte. Er erzählte dann dem Herzoge, was dem Leser bereits über Marie mitgetheilt worden.

„Und die Mutter?“ fragte der Herzog.

„Ich habe sie niemals wieder gesehen,“ antwortete der Maler.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_778.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)