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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

je länger man über dieselbe sprach und je häufiger die dicken kleinen Gläser mit dem grünlichen Liqueur geleert wurden. Herr Peters schaute vergnügt drein; es mochte unentschieden sein, wer von den Debattirenden zuerst nach einer Bowle seines berühmten Glühweins rufen würde; daß dieser Ruf aber innerhalb der nächsten fünf Minuten ertönen werde, war ganz gewiß. Herr Peters hatte schon durch das kleine Fenster, das nach der Küche ging, seiner Tochter, die am Herde stand, das betreffende Zeichen gemacht.

Unterdessen fuhr Gotthold hinein in den sprühenden Regen, der die ganze Landschaft in einen grauen, von Stunde zu Stunde sich mehr verdichtenden Schleier hüllte. Durch die Ritzen des nach der Wetterseite zugezogenen Schutzleders pfiff der Wind; das alte Gefährt krachte und stöhnte, wenn – was nur zu oft geschah – die Räder links oder rechts in die Löcher des ausgefahrenen Weges schlugen; aber die Pferde waren kräftig und der Knecht, dem ein gutes Trinkgeld in Aussicht stand, willig; so ging es verhältnißmäßig schnell vorwärts, wenn auch bei weitem nicht schnell genug für Gotthold’s nagende Ungeduld.

Und doch mußte er sich sagen und sagte sich auch, daß seine Eile einen stichhaltigen Grund gar nicht habe, daß es auf eine Stunde mehr gar nicht ankomme, ja daß ihm eine Stunde mehr, die vielleicht einen bestimmten Entschluß in seiner Seele reife, nur willkommen sein könne. Und während er sich das sagte, bog er sich aus dem Wagen heraus, um dem Knechte zuzurufen, daß der Weg hier ganz glatt sei und daß er schneller fahren möge.

Und dann lehnte er sich wieder in die Ecke seines kleinen dumpfen Gefängnisses zurück und nahm Wollnow’s Brief heraus und starrte hinein, als könne er nicht glauben, daß man mit einer so festen Hand, in so großen klaren Schriftzügen schreiben könne, was hier geschrieben stand. Und er las zum zweiten Male:

„Was ich heute zu berichten habe, lieber Freund, ist so schlimmer Art, daß es durch keine geschickteste Einleitung besser werden würde. Ohne alle Einleitung also: Der Sturz auf der Haide war kein böser Zufall, sondern ein schändliches Verbrechen, dessen moralischer Urheber Brandow ist. Zweitens: das Geld wurde gestohlen. Der moralische Urheber des Diebstahls, welcher sich zum Raubmord qualificiren dürfte, ist wiederum Brandow; er ist sehr wahrscheinlich bei der That zugegen gewesen, oder doch unmittelbar nach der That auf dem Platze erschienen, und jedenfalls ist der Raub in seine Hände gefallen. Ob die beiden Verbrechen gewissermaßen nur Eines sind, ich meine so, daß das erste verübt werden mußte, damit das zweite ausgeführt werden könne; oder ob das zweite noch hinterher ausgeführt wurde, nachdem das erste doch nun einmal verübt war, weiß ich nicht, und wird auch wohl Niemand je wissen, da zu fürchten steht, daß ein drittes Verbrechen die entsetzliche Consequenz jener beiden ersten gewesen ist.

Wer mir diese Gräuel verrathen hat? Der so oft der Verräther des Verbrechens ist: der Zufall.

Ein Zufall, wie er zufälliger nicht sein konnte.

Das Geld in dem Paket bestand aus Hundert-, Fünfzig- und Fünfundzwanzig-Thalerscheinen. Ich selbst habe, wie Sie wissen, das Geld abgezählt und verpackt; ich würde selbstverständlich deshalb noch nicht die Identität irgend eines der Scheine feststellen können, falls derselbe wieder in meine Hände käme. Aber bei einem bin ich es doch im Stande; dieser Schein befindet sich wieder in meinen Händen, und ich kann nachweisen, in wessen Händen er in der Zwischenzeit gewesen ist.

Ich mußte diesen Schein vor zehn Jahren in einer für mich sehr kritischen Zeit ausgeben, – das letzte Geld, das ich in dem Moment besaß; ich bezeichnete ihn in einem Anflug humoristischer Laune mit den Worten ‚Glückliche Reise!‘ und dem Datum des Tages in kleiner, fast mikroskopischer Schrift auf dem Avers in der Ecke oben rechts. Vor vier Jahren kam dieser Schein wieder in meine Casse. Ich ehrte den alten Freund mit dem Worte ‚Willkommen!‘ das ich nebst dem betreffenden Datum in die linke obere Ecke des Revers schrieb, und wies ihm, als würdigem Heckepfennig, einen Platz in meinem Portefeuille an, wo er ungestört liegen geblieben ist bis vor drei Wochen. Sie erinnern sich, daß baar Geld etwas knapp bei mir war, und ich benutzte die Gelegenheit, mich für meine abergläubische Regungen zu strafen, indem ich den Schein zu den übrigen legte.

Diesen Schein nun, dessen Identität ich beschwören kann, hat Herr Redebas am Tage nach der Katastrophe von Brandow als einen Theil der am Mittage fälligen Spielschuld erhalten; Herr Redebas hat das Geld, ohne es weiter anzurühren, in seinem Schranke liegen gehabt, bis er mir gestern eine Zahlung leistete, bei welcher sich eben der Schein befand. Ich fragte Herrn Redebas – ohne ihn übrigens in den Zusammenhang einzuweihen – ob er wohl nötigenfalls diese Angabe beschwören könne; er erwiderte einigermaßen verwundert, aber mit großer Bestimmtheit, daß er jeden Augenblick dazu bereit sein würde.

Brandow hatte bekanntlich hier und dort erzählt, das heißt geflissentlich verbreitet, er habe die Fünftausend, welche er Herrn Redebas am Mittage zahlte, am Vormittage von dem hiesigen Productenhändler Jakob Demminer erhalten als Abschlagszahlung auf Siebentausend, für welche er seinen Weizen an jenen verkauft. Diese Angaben hatten an und für sich nichts Unwahrscheinliches, und da Jakob Demminer in dem Rufe steht, jedes Geschäft zu machen, bei dem es zu verdienen giebt, und wäre es selbst das eines Hehlers, so wäre es ja der Schatten einer Möglichkeit, daß der Herr am Morgen für seinen Weizen dasselbe Geld bekommen, welches der Knecht in der Nacht unserm Freunde geraubt und bei dem braven Jakob, mit dem er vielleicht schon längst in Geschäftsverbindung gestanden, vor der Hand sicher untergebracht zu haben glaubte. Ich sage: es ist der Schatten einer Möglichkeit, denn die Zeit war ein wenig kurz bemessen; indessen wir wissen vorläufig nicht, wo und wie Hinrich Scheel den übrigen Theil der Nacht zugebracht hat, und so hätte es ja sein können.

Indessen der brave Jakob hat dieses Geschäft wenigstens nicht auf seinem weiten Gewissen, aber das Geschäft, welches Brandow mit ihm gemacht haben will, hat ebenfalls nicht stattgefunden. Allerdings ist Brandow an jenem Morgen wieder hier und auch in der dunklen Höhle gewesen, welche Jakob sein Comptoir nennt; er hat auch Geld mit fortgenommen, aber nur zweitausend Thaler, und nicht für den diesjährigen Weizen – welchen er bereits Monate vorher an Jakob verkauft hatte – sondern für den des nächsten Jahres. Er mußte à tout prix verkaufen, um sich über das Geld, das er in dieser Zeit zeigte, ausweisen zu können, und er durfte jede Zahl nennen, ohne zu fürchten, daß der biedere Jakob einem Kunden, mit dem man so vortheilhafte Geschäfte machte, widersprechen würde. Auch zur Entdeckung dieses Stückes hat der Zufall mitgewirkt, in Gestalt eines armen Judenjünglings, der mehrere Jahre bereits bei dem braven Jakob gearbeitet und sich das Vertrauen desselben erworben hatte, bis ihn jetzt plötzlich das Gewissen, oder ich weiß nicht was, treibt, mir sein Herz auszuschütten und mich mit Bitten anzugehen, daß ich ihn aus der Lasterhöhle erlösen soll.

Recapituliren wir: Brandow, der am Tage der Katastrophe notorisch von Geld entblößt war, und bis zum Mittag des nächsten Tages zweitausend einnimmt, bezahlt am Mittag fünftausend an Herrn Redebas auf ein Bret, und bei diesem Gelde befindet sich ein Hundertthalerschein, der in dem Pakete lag, das bei der Katastrophe verschwunden ist.

Verschwunden! weshalb nicht verloren, gefunden, und nur nicht zurückerstattet?

So wäre es freilich auch noch immer gestohlen! aber es ist von vornherein gestohlen und geraubt.

Erinnern Sie sich, daß Sie das Paket in der Rocktasche des Assessors noch gefühlt haben, als Sie von Dollan aufbrachen; daß Sie es in der Schmiede nicht mehr fühlten, und der von Ihnen zugeknöpfte Rock noch zugeknöpft war. Das ist freilich kein stricter Beweis; ja der letztere Umstand scheint im ersten Augenblick gegen meine Annahme zu sprechen. Wie wird sich, könnte man sagen, ein im Uebrigen so schlauer Dieb geflissentlich ein Indicium mehr auf den Hals laden! Aber man kann es ja auch zu schlau anfangen wollen, und man wußte ja nicht, daß Sie das Paket während des Abends im Auge behalten und hernach, als Sie dem Assessor den Rock zuknöpften, sogar unter der Hand gehabt hatten. Der Vertheidiger des Angeklagten wird natürlich die Genauigkeit dieser Angaben bezweifeln; wird – aber wir stehen hier nicht vor Gericht; für mich ist es erwiesen: der Assessor hatte das Geld bei sich, als der Sturz erfolgte, er hatte es nicht mehr, als die beiden Prebrows den Aermsten aufhoben,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_766.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)