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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Derselbe. Brandow’s Bereiter und, wie Sie sehen, gelegentlicher Kutscher, auch Verwalter, mit einem Worte: Factotum.“

„Factotum, sehr gut,“ sagte Wollnow. „Thue-Alles, im Gegensatze von Thue-Recht; nur daß sich dieser Signor Thue-Alles ebenfalls vor Niemand und vor Nichts zu scheuen scheint. Wenigstens hat er den Eindruck auf mich gemacht. Was halten Sie denn von dem Mann?“

„Daß er ein merkwürdiger Mensch ist, insofern, als man ihn wohl schwerlich wieder vergißt, wenn man ihn einmal gesehen. Ich erinnerte mich seiner von früher her mit vollkommener Deutlichkeit: des viereckigen, platten Schädels mit der kurzen, zurückfliegenden Stirn der großen Raubkatzen, an die auch seine grünen Schielaugen erinnern, während ihn die breiten Schultern, die stämmige, untersetzte Figur mit den plumpen, auswärts gekrümmten Beinen eher in das Hundegeschlecht weisen – eine Kreuzung von Dachs und Bulldogge etwa – mit denen er denn auch die Zähigkeit und die Treue gemein hat. Ich glaube, daß er für seinen Herrn durch Feuer und Wasser geht.“

„Und Wasser geht,“ sagte Wollnow; „vortrefflich, wie so ein Künstler sieht! wie das Alles Hand und Fuß hat! Und da hätten wir denn nun dieses liebenswürdige Ungeheuer, diesen treuen Caliban vor Ihnen auf dem Wagen, in die Nacht hineinfahrend. Wie war denn die Fahrt?“

„Ich habe, offen gestanden, bis kurz vor der Katastrophe wenig oder gar nicht auf Das geachtet, was um mich her vorging. Doch erinnere ich mich jetzt, daß wir, wahrscheinlich weil der Sturm so gegen uns drückte, nur mit Mühe den Hügel hinaufkamen und Hinrich Scheel, grausam wie er ist, auf die armen Pferde heftig losschlug, die ihr Schicksal zu ahnen schienen und nicht von der Stelle wollten, so daß Hinrich zuletzt von dem Wagen herabsprang.“

„Von dem Wagen herabsprang,“ wiederholte Wollnow; „sehr gut! sehr à propos! denn gleich darauf erfolgte der Sturz? nicht wahr?“

„Er muß in demselben Moment erfolgt sein.“

„Sagen wir, ein paar Momente später, sonst hätte doch der treue Caliban die Partie mitmachen müssen. Den Sturz haben Sie mir neulich Abend schon geschildert, so weit Sie sich der einzelnen Momente bewußt waren, und es ist staunenswerth, wie weit die Beobachtung eines Künstlers reicht, bis in die Pforte, ja ich möchte sagen, bis über die Schwelle des Todes. Und wie lange mag dieser schauerliche Augenblick, wo Sie dem Schicksal so nahe waren, gedauert haben?“

„Ich wußte es schwer zu sagen; die Bewußtlosigkeit war über mich gekommen, ohne Kampf, ja ohne Uebergang, schnell, unmerklich, wie das Lid über das Auge sinkt; und so erwachte ich wieder ohne Uebergang und lag da, das Gesicht nach oben, das Auge auf den Mond gerichtet und beobachtend, wie die gelbbraunen Wolken unter ihm dünner und dünner wurden – als hätte ich auf der Welt weiter nichts zu thun – bis er plötzlich in voller Klarheit aus dem letzten durchsichtigen Schleier hervortrat. In demselben Moment kam ich, und zwar mit einem Schlage, zum vollen Bewußtsein meiner Situation und wußte, als ob es mir Jemand gesagt hätte, daß ich ungefähr in halber Höhe der Böschung auf einem Vorsprung liegen geblieben war, während alles Uebrige, die Böschung hinab bis an den Rand des Moores gleitend, dort unten in einem schauerlichen Durcheinander lag, an welchem ich etwas Einzelnes nicht mehr unterscheiden konnte. Dann aber muß ich doch wieder, nicht in Bewußtlosigkeit, aber in einen hallucinirenden Zustand verfallen sein. Ich hatte nämlich die ganz deutliche Vision eines Reiters, der mit einer Schnelligkeit, wie sie eben nur in Visionen vorkommt, von mir fort in der Richtung nach Neuenhof über das Moor flog. Er hatte sich als richtiger Gespensterreiter bei der rasenden Carrière tief auf den langen dünnen Hals des weitausgreifenden Thieres gebeugt und hatte einen hohen Hut auf. Ein Gespenst mit einem hohen Hut, ist das nicht lächerlich?“

„Sehr lächerlich! in der That!“ sagte Wollnow. Er hatte sich wieder erhoben und war an das Fenster getreten, seine Erregung vor Gotthold zu verbergen. Was hatte vorhin der Hausknecht von der Vortrefflichkeit des Pferdes gesagt, das Brandow in jener Nacht geritten? und in der Richtung nach Neuenhof war der Gespensterreiter gejagt, nach Neuenhof, über das Brandow gekommen! Brandow, der seltsamer Weise in jener Nacht einen hohen Hut getragen; und der hohe Hut war mit Schlammwasser bespritzt gewesen!

Wollnow wandte sich wieder zu Gotthold. „Sie halten es für unmöglich, daß Jemand, ich meine Jemand in Fleisch und Knochen, und wäre es mit dem besten, schnellsten Pferde, das Dollaner Moor passiren kann?“

„Aber wie kommen Sie darauf?“ fragte Gotthold erstaunt.

„O, nur, weil Brandow überall erzählt, daß eines der beiden Pferde, das losgekommen war und sich über das Moor hatte retten wollen, bei der Gelegenheit ertrunken ist.“

„So haben Sie ja den besten Beweis der Unmöglichkeit.“

„Freilich!“ entgegnete Wollnow; „und nun müssen Sie durchaus Ruhe haben; Lauterbach wird so wie so schon sehr unzufrieden sein. In zwei Stunden bin ich wieder hier; bis dahin müssen Sie unbedingt schlafen.“

Wollnow verbrachte die zwei Stunden in einer Unruhe und Ungeduld, deren sich der gelassene Mann nicht mehr für fähig gehalten. Er erwartete den Referendar, welcher ihm versprochen hatte, bei der Rückkehr von Dollan in Prora anzuhalten und ihm das Resultat seiner Recherchen mitzutheilen. Herr von Pahlen war zwei Stunden vor ihm von B. abgefahren und konnte um diese Zeit seine Mission ausgeführt haben. Wirklich kam denn auch der Erwartete, aber ohne den Gensd’arm, den ihm sein Chef beigeordnet, um der Sache den rechten Anstrich zu geben.

„Das ist ein seltsamer Handel,“ sagte Herr von Pahlen. „Sie wissen, daß ich doch nur eigentlich hingefahren bin, um den Kunden, der die Herren kutschirt, den Hinrich Scheel, zu Protokoll zu nehmen; wenigstens war dies die Hauptperson, und nun denken Sie sich –“

„Der Mann war verschwunden,“ sagte Wollnow.

„Woher wissen Sie es?“

„Ich dachte es mir nur. Aber erzählen Sie weiter.“

„War in der That verschwunden,“ fuhr Herr von Pahlen fort, „nachdem er eine halbe Stunde vor unserer Ankunft noch von den Leuten auf dem Gute gesehen, auch von Herrn Brandow, der vor kurzer Zeit nach Hause gekommen. Er war verschwunden und blieb verschwunden, trotzdem Herr Brandow die Freundlichkeit hatte, nach allen Richtungen Leute auszusenden, die, wie Herr Brandow selbst sagte, ihn hätten finden müssen, wenn –“

„Sich der Mann hätte finden lassen wollen.“

„Ganz richtig; aber nun bitte ich Sie, welche Dummheit von dem Kerl, den doch schließlich weiter keine Schuld trifft, als daß er auf seine eigene Faust, um die Kutschpferde zu schonen, die beiden schlechtesten Gäule, die er unter so vielen guten hat auftreiben können, zu der Fahrt genommen hat! Denn daher, sagt Brandow, sei, so wie er die Sache bis jetzt angesehen, das ganze Unglück gekommen. Nun freilich, wenn der Kerl wirklich flüchtig geworden sein sollte – ich habe vorläufig Rüterbusch dagelassen, der ihn beim Kragen nehmen wird, falls er sich noch etwa einstellt –, nun freilich nimmt der Handel ein ganz anderes Aussehen an. Der Kerl provocirt ja geflissentlich die Unterstellung, daß er das Geld, Gott weiß wie, gefunden, oder gar dem Assessor während seiner Ohnmacht aus der Tasche gezogen und nun, im Bewußtsein seiner Schuld, als er uns kommen sah – und man kann ja ein gutes Stück über die Haide sehen –, das Weite gesucht hat. Brandow, der sehr betreten war, sagte, daß er jedem Andern eher ein solches Verbrechen zutraue, als dem Menschen, der schon bei seinem Vater in hohem Ansehen gestanden und ihm von jeher treu und ehrlich gedient habe; gab aber dann doch zu, daß das plötzliche Verschwinden des Mannes in der That räthselhaft, und schließlich Alles möglich, jedenfalls die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen sei, daß der arme Teufel der schweren Versuchung, mit einem Schlage ein reicher Mann zu werden, erlegen ist.“

„Ein Teufel fühlt sich immer zum Bösen versucht, auch wenn er eben nicht arm ist,“ sagte Wollnow.

„Sie meinen also, er hat es gestohlen?“ fragte der Referendar eifrig.

„Ich habe hier weder ein Amt, noch eine Meinung,“ erwiderte Wollnow ausweichend, während dabei aus seinen dunkeln Augen ein Blitz schoß, der dafür zu sprechen schien, daß er in dieser Sache denn doch eine Meinung, und eine sehr entschiedene Meinung hatte.




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