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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

darin, daß die eine Hälfte seines Gesichtes, besonders des Mundes, sichtlich etwas verzogen und das Sprechen ihm erschwert war. Wir sprachen wiederholt, im Beisein entweder seines Arztes Dr. Baierlacher, oder seines Bruders Friedrich, oder des Bibliothek-Secretärs des Germanischen Museums, Hektor, oder aller zusammen, und meist in Gegenwart seiner Familie, von den Ereignissen auf dem politischen, socialen und religiösen Gebiete. So schwer ihm das Sprechen fiel, ward er doch nicht müde, den Militarismus, der auf Kosten der idealen Bestrebungen und mit Hülfe der politische Heuchelei sich der Völker bemächtigt, den Materialismus und die Herzlosigkeit der egoistischen Speculation, den Marasmus der Orthodoxie, die Glaubenslosigkeit der Gläubigen, das Herrsch- und Verdummungssystem des Pfaffenthums aller Farben in derbster, energischster Weise zu bekämpfen. Mir persönlich gegenüber äußerte er wiederholt seine große Freude über den Versuch der „freien religiösen Gemeinden“, auf den Trümmern der alten ausgelebten Religion die Religion der Zukunft, deren „Anfang, Mittelpunkt und Ende der Mensch“, aufbauen zu helfen, und zur genauen Kenntniß seines persönlichen Standpunktes ist die Thatsache von Interesse, daß er sich in den letzten Jahren genau erkundigte, in welcher Weise ein Anschluß an die freien Gemeinden zu geschehen habe, wovon ihn nur der äußerliche Umstand abhielt, daß nach dem Buchstaben des Gesetzes er sich in eigener Person zum Pfarrer seines Kirchspiels hätte verfügen und diesem seinen förmlichen Austritt aus der Kirche erklären müssen. Daß ihm eine solche Formalität gegen seine innerste Natur war, ihm, der mit seiner ersten Schrift früh mit kühnem Tellsprung aus der Kirche heraus sich auf den Boden des freien Geistes geschwungen hatte, das leuchtet von selbst ein. Daß er aber trotzdem sich thatsächlich zum Bunde jener Freien rechnete, beweist namentlich seine Betheiligung an der unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges, im Juni 1870, in Nürnberg veranstalteten festlichen Versammlung von Vertretern und Mitgliedern der freien Gemeinden von Süd- und Westdeutschland, wobei er mit hohem Interesse dem Vortrag E. Baltzer’s im alten Kaisersaal und dem heitern Festmahl beiwohnte, bei welchem der Verfasser dieser Erinnerungen einen mit stürmischem Jubel aufgenommenen Toast auf den unter ihnen weilenden „König des Gedankens“ ausbrachte. Feuerbach hat diesen Toast nicht erwidert, er konnte es schon nicht mehr; aber man sah es ihm an, wie er für viele Jahre vermeintlichen Vergessenseins eine hohe, ihn auf’s Freudigste ergreifende Genugthuung darin fand, als Vertreter und Abgeordnete freier Gemeinden aus Nürnberg und Fürth, Ulm und Pforzheim, Heidelberg und Mannheim, Mainz, Wiesbaden, Rüdesheim, Hanau, Offenbach und Frankfurt mit ihren gefüllten Gläsern sich zu ihm herandrängten und sich selbst wieder freuten, dem kühnen Vorkämpfer in’s matter gewordene, und doch noch immer blitzende Auge sehen zu können.

An dieser Stelle mag auch zur Kenntniß Derjenigen, welche in ihrer Opposition gegen den alten Kirchenglauben so weit gehen, daß sie schon am Worte „Religion“ Anstoß nehmen, und welche sich zugleich einbilden, daß gerade Feuerbach es sei, auf dessen Autorität sie sich in diesem Punkte berufen dürfen, es mag hier mitgetheilt werden, daß sich in seinem Tagebuche, mit Bleistift von seiner eigenen Hand geschrieben, das Concept eines Briefes vorfindet, welchen er gerade in jenem Jahre, und zwar am 28. Februar 1870, an seinen Freund in Goisern bei Ischl gerichtet und in welchem er sich diesem gegenüber über den Austritt aus der Kirche ausspricht. Wohl begreifend, daß Derjenige, welcher wie sein Freund in einem österreichischen Dorfe als Einzelner diesen Schritt thun wollte, in Folge der traurigen dortigen Verhältnisse sich auch zu dem Opfer entschließen müßte, sein Dorf und seine Berge der ewigen Anfeindungen wegen zu verlassen, suchte Feuerbach ihn in seinem speciellen Falle über das Verbleiben in der Kirche damit zu beruhigen, daß er ihm unter Anderm schrieb: „Die Religion, wenigstens die officielle, die gottesdienstliche, die kirchliche, ist so entnervt und entseelt, so creditlos, daß es an sich gleichgültig ist, ob man ihre Formen mitmacht oder nicht mitmacht, denn selbst Diejenigen, die angeblich gläubig sie mitmachen, glauben nur an sie zu glauben, aber glauben nicht wirklich, so daß es sich wahrlich nicht der Mühe lohnt, um eines Glaubens willen, der längst keine Berge mehr versetzt, – seine lieben Berge zu verlassen.“ Es sei hier jede Bemerkung darüber übergangen, wie sehr nahe der so Schreibende an jene in der Politik von ihm so unerbittlich und unversöhnlich bekämpfte Unaufrichtigkeit selbst heranstreift, jede Bemerkung über den gar nicht zu berechnenden Verlust an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit im öffentlichen Leben, welchen die officielle Aufrechthaltung des alten Glaubens in den Massen angerichtet, wenn selbst solche Heroen in dieser Weise sich aussprechen! Aber die eine Thatsache sei hervorgehoben, daß Feuerbach hier ausdrücklich einen Unterschied macht zwischen „officieller, gottesdienstlicher, kirchlicher“ Religion und zwischen Religion überhaupt! Ein neuer Beweis, daß er nie daran gedacht hat, diese selbst zu bekämpfen, sondern daß seine Aufgabe nur war, die wahre Religion, die der Vernunft, die im Wesen des Menschen selbst begründete, zum Bewußtsein zu bringen.

Dem Kriege gegenüber, der unmittelbar nach der oben erwähnten Festversammlung der freien Gemeinden losbrach, ist Feuerbach stumm geblieben. Schon im Juli 1870 traf ihn der zweite Schlaganfall. Nach diesem war es ihm nicht mehr möglich, in irgend zusammenhängender Weise seine Gedanken auszudrücken; er gab sich oft unsägliche Mühe, aber vergebens, und fing sogar schon an, die Worte miteinander zu verwechseln. Von jetzt an blieb er mehr als bisher zu Hause, am liebsten in seinem Studirzimmer, das ihm mit der Zeit, so schwer ihm anfangs die Angewöhnung gewesen, ein wahrhaft heiliges Asyl geworden war. Geschrieben hat er seit diesem Anfalle nicht mehr; aber die Zeitungen nahm er noch oft zur Hand, deutsche, französische und amerikanische, durchblätterte sie, in seinem Arbeitsstuhle sitzend oder auf seinem kleinen Divan ausgestreckt – ob er sie wirklich gelesen? mit wieviel Verständniß? wer vermöchte dies zu sagen! Ich persönlich erinnere mich, so oft ich auch versuchte, ihm eine Aeußerung, namentlich über den letzten Krieg, zu entlocken, so oft ich auch dieses oder jenes Ereigniß ihm mittheilte, ich erinnere mich nicht, auch nur eine Silbe von ihm darüber vernommen zu haben. War es ihm physische Unmöglichkeit? Oder war es die Trauer seiner Seele, daß heute noch, im neunzehnten Jahrhundert, zwei Völker, deren eines seinen Pierre Bayle, Montesquieu, Voltaire, Rousseau und seine große Revolution gehabt, das andere seinen Leibnitz, Lessing, Kant, Fichte und seine unsterblichen Dichterheroen, beide an der Spitze der Civilisation stehend, kein anderes Mittel wußten, um sich zu verständigen, als daß sie gegenseitig Tausende ihrer Söhne in den Tod schickten? Das Einzige, was während jener Zeit als eine annähernde Kundgebung seiner innersten Gesinnung betrachtet werden könnte, das ist der Brief, den im Januar 1871 seine Tochter Leonore, wie sie erklärte, im Sinne ihres Vaters, an den Herausgeber des „Libero Pensiero“ in Florenz schrieb und in welchem Feuerbach’s persönliche Ansicht dahin angedeutet war, „daß er dem Gange des Krieges bis zum Sturze Napoleon’s mit patriotischer Sympathie gefolgt sei, die Fortsetzung desselben nach dieser Katastrophe aber vom Standpunkte der Humanität aus verurtheilt habe.“

Seit jener Zeit stellte er seine gewohnten Abendgänge nach Nürnberg ganz ein; am liebsten machte er mit den Seinen noch einen kleinen Spaziergang ganz in der Nähe seines Hauses, oder setzte sich Stunden lang, ein Buch in der Hand, droben auf dem Rechenberge auf die einsame Ruhebank, hineinschauend in die Berge.

Eine Klage über seinen Zustand ist ihm nie über die Lippen gekommen, und doch schien er ein ganz klares Bewußtsein desselben zu haben. Nur ein einziges Mal, als ich ihm von einem meiner Freunde, Prediger Elßner, der ihn auch während seines Hierseins öfters aufgesucht, einen schmerzlichen Vorfall in dessen Familie erzählt, da stieß er, vor mir auf einem Stuhle sitzend, die Hände ineinander gelegt und seinen Kopf zu Boden senkend, als Antwort die einzigen Worte heraus: „Ja, das Leben!“ In diese wenigen Worte aber legte er den ganzen markerschütternden Ausdruck des sein Innerstes erfüllenden, durch seinen eigenen Zustand hervorgerufenen Schmerzes. Und ein anderes Mal, als ihn der langjährige Freund des Hauses, Hektor, besuchte und nach seinem Zustande sich erkundigte, da that er die sein unsagbares Unglück und sein Bewußtsein davon bezeichnende Aussage: „Ich bin nicht mehr, ich bin todt!“

Als wolle er den ihn Besuchenden – deren es freilich, mit Ausnahme seiner Verwandten, von Nürnberg aus mit seinen achtzigtausend Menschen, sehr wenige waren: sein Arzt, Hektor und ich –, als wolle er ihnen das Mitleid mit seinem Zustande ersparen, als scheue er sich, in so ruinenhafter Gestalt ihnen entgegenzutreten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_747.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)