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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Und viel seltsames Gedenken, das diese Erinnerung wach gerufen, überkam ihn, während er so saß, in den langen, stillen Stunden, Gedenken, das sich ihm schmeichelnd nahte und das er doch von sich abwehrte, weil es ihn wegzuheben suchte von dem festen Grunde, auf den er sich und sein Haus gestellt und auf dem er fest stehen bleiben mußte, sollte er nicht sich selbst und was ihm anvertraut war, zu einem Spiele der Wellen und der Winde machen. Nein, nein! nicht blos Gott geziemt es, zu sagen, es sei gut, was er gemacht; auch der Mensch muß es von seinem Schaffen sagen dürfen, muß es sagen können, wenn er sich den Muth und die Kraft bewahren soll, die dazu gehört, das Geschaffene nun auch zu bewahren. Er hatte sich sein Theil erwählt; war es das schlechtere, war es das bessere? gleichviel! er hatte es erwählt, und damit war Alles gesagt. Nicht die Besseren – die Schlechteren sind es, die sich noch entscheiden wollen, wenn Alles längst entschieden ist.

Aber für ihn, der den Jahren nach sein Sohn sein konnte – den er so gern – nein, nein! das nicht, so nicht; aber er liebte ihn, weil er so gut und edel war, liebte ihn, wie der ältere Mann den jüngern lieben kann und darf, den er schwanken sieht auf derselben Stelle wirr verschlungener Lebenspfade, die einst sein Herzblut getrunken – für ihn war ja noch nichts entschieden. Konnte die Entscheidung nicht so ausfallen, daß das Herz nicht erst sein bestes Blut vergießen mußte, bis es ruhig genug war, die Lehren der Weisheit zu verstehen? Wie gern hätte er ihm ein Glück gegönnt, das er selbst hatte entbehren müssen! Ein volles Glück war es ja auf keinen Fall mehr – zu viel war geschehen, das seinen schweren Schatten in alle sonnigste Zukunft warf – aber wie diese Stirn nun einmal geformt, wie diese Augen nun einmal geschnitten – für ihn war es vielleicht doch das einzig mögliche Glück. Es lag am Ende in der Race, in der Gewohnheit des Denkens, Fühlens, auf Kind und Kindeskind herabgeerbt von jenen alten germanischen Bärenhäutern, die ihre dürftige Heimath nicht zu verbessern suchten, sondern einfach aufgaben, die in der Schlacht keine andere Strategie kannten, als sich mit Ketten Einer an den Andern zu schließen, und im Spiel sich lieber selbst verspielten, als dem Unglück eine Concession machten. Und nun gar er! der Sohn eines solchen Vaters, einer solchen Mutter, die Beide an diesem Ueberschwange der Empfindung, die nicht mit sich markten und handeln lassen will, zu Grunde gegangen waren! Auch lag der Fall hier doch wesentlich anders; es spielte hier ein Moment herein, das damals gänzlich gefehlt, ein Moment, das, was er sonst als Frevel an der Gesellschaft entschieden verdammen mußte, fast zu einer That der Menschenliebe zu machen schien – zu einer Nothwendigkeit, und die doch immer in seinen Augen eine traurige Nothwendigkeit war!

Freilich war nach dieser Seite fast noch Alles Vermuthung und mußte Vermuthung bleiben, mindestens so lange Diejenigen, welche die Opfer jenes – Unglücksfalles auf der Haide geworden, nicht im Stande waren, zu sagen, was sie selbst wußten, welche Beobachtungen sie etwa vorher und nachher gemacht hatten. Zwar den Aussagen des Assessors war wohl im besten Falle nur ein geringer Werth beizulegen, da aus dem Wenigen, was Gotthold am ersten Abend mitgetheilt, zur Genüge hervorging, daß Jener so ziemlich unzurechnungsfähig gewesen und nun auch wirklich, nachdem er wieder klar denken und sprechen konnte, bei der Behauptung blieb, er wisse von gar nichts und müsse entschieden geschlafen haben, bis die Katastrophe hereinbrach. Aber Gotthold selbst, der ganz gewiß mit seinen offenen feinen Künstlersinnen Alles gesehen, gehört und beobachtet hatte, was überhaupt nur zu sehen, zu hören und zu beobachten war – er konnte ohne Zweifel ein Material liefern, das ein kluger, thätiger Untersuchungsrichter zu schätzen wußte.

Als einen solchen konnte man freilich den Justizrath von Zadenig in der benachbarten Hauptstadt der Insel, in dessen Sprengel der Fall gehörte, kaum bezeichnen. Herr Justizrath von Zadenig sah in dem Falle nach keiner Seite etwas Außerordentliches. Daß Wagen an mehr oder weniger gefährlichen Stellen umgeworfen werden könnten und Brieftaschen oder dergleichen dabei verloren gingen, müsse Jeder zugeben, und daß der Weg über die Dollaner Haide dergleichen Stellen aufzuweisen habe, sei bekannt, zum Mindesten ihm – dem Justizrath von Zadenig –, der die Geschichte der beiden Vettern Wenhof, die ja zum Theil auf der Dollaner Haide spiele, sehr genau kenne, wie sie Jeder kenne, der, wie er, aus einer alten Familie der Insel stamme. Die Brandows seien keine alte Familie und die Weise, wie sie seiner Zeit zu Dahlitz gekommen, wohl nicht vollständig zu rechtfertigen; aber Dahlitz hätten sie ja nicht mehr, und Karl Brandow wegen des Zustandes der Dollaner Wege zu chicaniren, auf denen drei oder vier Generationen der Wenhofs unbelästigt hin- und hergefahren seien – das halte er – der Justizrath von Zadenig – denn doch für unerlaubt, um so mehr, als die Spitze der Chicane sich gar nicht gegen Brandow, sondern vielmehr gegen seinen eigenen Schwager, den Herrn Landrath von Swantewit auf Swantewit, richten würde, der allerdings in letzter Instanz für den Zustand der Communal- und Vicinalwege verantwortlich sei. Wenn indessen Herr Wollnow, vor dessen Respectabilität und Klugheit er die höchste Achtung habe, meine, daß die Sache an Ort und Stelle untersucht werden müsse, so wolle er sofort den Referendar von Pahlen hinschicken und ihm sogar einen Gensd’arm mitgeben, was immer noch besonders officiell und feierlich aussehe – und damit würde Herr Wollnow doch gewiß zufrieden sein.

Herr Wollnow war es, weil er von dem indolenten, im Uebrigen vortrefflichen alten Herrn erreicht hatte, was erreicht werden konnte, und kehrte, nachdem er noch einige Geschäfte abgewickelt, nach Prora zurück, um in der Thür des „Fürstenhofs“ Karl Brandow zu begegnen, der heute, wie alle vorhergegangenen Tage, hereingeritten war, sich persönlich Nachricht über das Befinden der Kranken zu holen.

„Es steht vortrefflich!“ rief er Herrn Wollnow entgegen. „Seit einer Stunde ist sein Kopf vollkommen klar; ich habe nicht versucht, bis zu ihm zu dringen, da ich mir sage, daß trotzdem noch jede kleinste Aufregung sorgfältig vermieden werden muß; aber ich sprach Lauterbach, der ganz betrübt ist. Er hatte sich auf eine Gehirnentzündung vorbereitet und sieht nun, daß er darum kommt. Auch Sellien geht es, den Umständen entsprechend, gut; ich kann heute mit leichterem Herzen zurückreiten, als die Tage vorher. Wie wird sich meine Frau freuen! Ich bringe sie morgen vielleicht mit. Die Erlaubniß Ihrer Frau Gemahlin habe ich. Also auf Wiedersehen morgen, Herr Wollnow, auf Wiedersehen!“

„Ein fesches Pferd, der Fuchswalach,“ sagte der Hausknecht, dem Davongaloppirenden nachschauend, „aber gegen den Hengst, den er Sonntag Nacht ritt, ist er doch nichts, das war ein Capitalpferd.“

Auch Wollnow’s Blicke waren dem schlanken Reiter, der so bequem und sicher im Sattel saß, gefolgt. „Wenn er der Schurke ist, für den ich ihn halte, so wird ihm auf alle Fälle schwer beizukommen sein. Und ich darf Gotthold nichts merken lassen, es würde ihn furchtbar aufregen und vorläufig ohne Grund. Zum Wenigsten will ich ‚einen Grund, der sicherer ist‘. Ein Schauspiel thäte es freilich nicht; die Schlinge, die den Buben fängt, müßte etwas feiner sein.“

Gotthold streckte dem Freunde, als derselbe bei ihm eintrat, eine bleiche fieberfreie Hand entgegen.

„Da,“ sagte er, „fühlen Sie selbst; und nun, lassen Sie sich in diesem Händedruck danken für Ihre Güte, für Ihre Liebe. Ich bin nicht so ganz von Sinnen gewesen, daß ich nicht durch alles phantastische, wirre Zeug, mit dem ich mich gequält, von Zeit zu Zeit deutlich Ihr Gesicht gesehen hätte, und immer mit demselben schönen, mitleidsvollen Ausdruck, dessen ich mich erinnern werde, und für den ich dankbar sein werde, so lange ich lebe.“

Gotthold’s Stimme zitterte, und seine Augen glänzten feucht. – „Es ist nicht die Schwäche der Krankheit,“ sagte er; „ich will es nur gestehen: es ist die Macht einer für mich neuen Regung. Ich habe so wenig Gelegenheit gehabt, für Dienste der Liebe dankbar zu sein. Die, welche anderen Menschen zeitlebens das Vorbild uneigennütziger, aufopfernder Liebe ist – die Mutter starb mir so früh – ich habe sie kaum gekannt; von dem Vater trennte mich eine, wie ich glauben muß, unübersteigliche Kluft, und seit zehn Jahren irre ich in der Welt – durch tausend Verhältnisse, tausend Beziehungen, fortwährend in lebhaftem Verkehr, in der Mitte und manchmal sogar der Mittelpunkt einer großen Freundesschaar, und doch im tiefsten Grunde meiner Seele einsam – einsam und nach einer Liebe schmachtend, die mir so spät von einem Manne wurde, der mich, den ich vor wenigen Tagen zum ersten Male sah, zwischen welchem und mir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_735.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)