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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Brandow war im Begriff zu gehen, als die Hausglocke ertönte, ein schwerer Tritt durch das Comptoir kam und alsbald Herr Wollnow in’s Zimmer trat. Ottilie eilte ihm entgegen und theilte ihm in ein paar Worten mit, wie die Sachen standen. Herr Wollnow begrüßte den späten Gast mit höflicher Kälte. Er sehe noch keinen rechten Grund, besorgt zu sein, wenn es Herr Brandow nicht sei.

„Aber er ist besorgt!“ rief Ottilie.

„Dann würde Herr Brandow schon längst aufgebrochen sein,“ entgegnete Wollnow.

„Ich bin besorgt und bin es auch wieder nicht,“ sagte Brandow. „Die Nacht ist ja dunkel und der Weg an einer und der andern Stelle nicht besonders; aber mein Hinrich Scheel ist ein notorisch ausgezeichneter Fahrer, und – ja, das fällt mir eben ein – Gustav von Plüggen ist denselben Weg gefahren, und zwar wenige Minuten vor unseren Freunden.“

„Was nicht ausschließt, daß der einen oder der andern Partie, oder auch beiden ein Unfall zugestoßen,“ erwiderte Wollnow. „Ich sage Unfall, meine Damen, nicht Unglück; aber auch ein Unfall – das Brechen eines Rades oder dergleichen – ist in einer solchen Nacht kein Spaß; und ich bin allerdings dafür, daß man unseren Freunden entgegengeht. Ich werde Sie begleiten, Herr Brandow, wenn es Ihnen recht ist.“

„Gewiß, ohne Zweifel, aber ich bin beritten,“ erwiderte Brandow.

„So nehmen wir im Fürstenhofe einen Wagen; ist etwas passirt, kann ihnen nur ein Wagen etwas nützen.“

Alma fand es gar nicht artig von den Herren, die Damen in solchem Augenblicke allein zu lassen, während Ottilie ihrem Gatten einen Shawl aufnöthigte und ihm mit einem geflüsterten „Du bist mein braver Emil“ den herzlichsten Kuß gab.

Wollnow hatte verlangt, daß die Damen im Zimmer blieben. Als die Thür geschlossen war, sagte er: „Ich bin überzeugt, daß ihnen ein Unglück zugestoßen ist; und Sie sind es auch, nicht wahr?“

Die schwarzen Augen des Mannes leuchteten in dem Scheine des Lichtes, das er in der Hand trug, so seltsam und blickten so scharf und forschend; – Brandow zuckte zusammen, als wenn ihm vor Gericht eine Frage gestellt wäre, von deren Beantwortung der Ausgang seiner Sache abhing.

„O gewiß nicht, keineswegs!“ stammelte er, „das heißt: ich weiß allerdings nicht, was ich davon halten soll.“

„Ich auch nicht,“ entgegnete Wollnow kurz, das Licht auf einen Tisch in der Nähe der Hausthür stellend und den Riegel zurückschiebend.

Das Licht fiel hell auf die Thür, und als Wollnow die Thür öffnete, gähnte die Nacht schwarz herein. Plötzlich stand in der Thür auf dem schwarzen Hintergrunde der Nacht eine Gestalt, bei deren Anblick selbst der gelassene Wollnow bebte, während Brandow, der unmittelbar hinter ihm ging, mit einem dumpfen Schrei zurücktaumelte – die Gestalt eines Mannes, dessen Kleidung, als sei er eben aus der Erde heraufgestiegen, von Nässe durchtränkt und über und über mit Sand und Lehm beschmutzt war, dessen bleiches, von dunklem Barte umrahmtes und von dem breitkrämpigen Hute überschattetes Gesicht durch eine schmale Blutspur, die von der Schläfe aus über die Wange lief, grausig entstellt war.

„Um des Himmels willen, Gotthold, was ist geschehen?“ rief Wollnow, beide Hände nach dem Freunde ausstreckend und ihn auf den Flur ziehend.

„Wo sind die Damen?“ fragt Gotthold leise.

Wollnow deutete nach dem Wohnzimmer.

„So lassen Sie sie fort; Sellien liegt im Fürstenhofe, wir haben ihn eben verbunden; er ist noch immer ohne Besinnung; Lauterbach zweifelt, daß er durchkommt; ich glaubte, es sei besser, wenn ich die Botschaft brächte. Du hier, Brandow?“

Brandow hatte seine Fassung wiedergewonnen; es war ja lächerlich, daß er sich so ohne Noth geängstigt. Der Schuft hatte ein Katzenleben, und was lag ihm an dem Andern!

„Ich erwartete Euch hier schon seit beinahe zwei Stunden,“ sagte er. „Aber wie ist denn das möglich gewesen? armer Gotthold und der gute Sellien! Ich muß nach ihm sehen. Du bleibst nun doch wohl hier und auch Sie, Herr Wollnow?“

Brandow wartete keine Antwort ab; er stürzte zur Thür hinaus und verschwand in der Nacht.

Wollnow’s Auge blitzte hinter ihm her; aber er verschwieg das Wort, das ihm auf den Lippen zu zucken schien.

„Und Sie selbst, lieber Gotthold?“ sagte er.

„Ich bin noch so davon gekommen,“ sagte Gotthold. „Aber was soll nun geschehen? Wie wollen wir es der Frau beibringen?“

„Ich möchte ihn erst noch selbst sehen. Man weiß, daß ich Euch entgegen wollte, und wird mich nicht vermissen.“

„So kommen Sie!“

Die Freunde schritten hinaus. Wollnow hatte Gotthold seinen Arm gegeben. „Lehnen Sie sich fest auf,“ sagte er, „ganz fest, und sprechen Sie nicht!“

„Nur noch Eines. Die Zehntausend, die Sellien bei sich trug, sind verloren. Wir merkten es erst, als wir ihm hier den Rock aufschnitten.“

„Wie kann es verloren sein, wenn Ihr ihm den Rock aufschneiden mußtet?“

Gotthold antwortete nicht; das Ohnmachtsgefühl, das er schon unterwegs ein paar Male kaum überwältigt hatte, kam wieder über ihn; er mußte sich nun wirklich sehr fest auf Wollnow’s Arm stützen.

So erreichten sie, nicht ohne Anstrengung, den Fürstenhof, wo Alles in größter Aufregung war, trafen aber bereits Brandow nicht mehr. Er hatte, wie der Wirth erzählte, sobald er die Nachricht von dem Verluste des Geldes erfahren, sein Pferd zu satteln befohlen und war fortgeritten, ohne den Herrn Assessor vorher gesehen zu haben. Da könne er doch nichts nützen, habe er gemeint; das Geld werde aber ohne ihn schwerlich gefunden werden.

„Vielleicht auch nicht mit ihm,“ murmelte Wollnow.

Der Zustand des Assessors war unverändert. „Wenn er nicht bald wieder zu sich kommt, haben wir keine Hoffnung, den Patienten durchzubringen,“ sagte Doctor Lauterbach.

Doctor Lauterbach hatte bald zwei Patienten. Gotthold war an dem Bette Sellien’s in Ohnmacht gefallen.

„Ich sagte es ja,“ sagte der Doctor, „ein Wunder, daß er so lange ausgehalten hat. Es ist wirklich ein böser Zufall.“

„Wenn es ein Zufall ist,“ murmelte Wollnow.




23.


Für Herrn Wollnow und seine Gattin folgten ruhelose Tage und Nächte. Es hatte sich die Möglichkeit herausgestellt, den Assessor trotz seiner schweren Verletzungen in das Wollnow’sche Haus zu transportiren, wo er denn allerdings in jeder Beziehung besser aufgehoben war, während man Gotthold, den man im Vergleich zu Jenem kaum verletzt nennen konnte, in dem Fürstenhofe lassen mußte. Er hatte in starkem Fieber gelegen, stundenlang sogar ohne Besinnung, in heftigen Phantasien; Doctor Lauterbach hatte bedenklich den Kopf geschüttelt und von einer Gehirnerschütterung gesprochen, die nicht unmöglich, von einer inneren Verletzung, welche äußerst wahrscheinlich sei – Herr Wollnow war in großer Sorge gewesen und hatte, was er nur von Zeit erübrigen konnte, an dem Bette des Kranken zugebracht.

„Der Fall des Assessors ist ja eigentlich sehr einfach,“ sagte Herr Wollnow; „er hat den linken Schenkel glatt gebrochen und den rechten Arm regelrecht aus dem Gelenk gefallen; der Arm ist glücklich eingerenkt und das Bein liegt in einem vortrefflichen Gypsverbande – für den Assessor bin ich nicht bange, den werdet Ihr Frauen schon wieder in die Höhe bringen; mit Gotthold ist das etwas Anderes; wir wissen noch immer nicht, woran wir sind; da bin ich unentbehrlich.“

Ottilie meinte, er werde sich immer da für unentbehrlich halten, wo Gotthold sei; im Uebrigen habe sie gar nichts gegen eine Vorliebe, die sie durchaus theile; Gotthold komme ihr schon ganz wie ihr Sohn vor.

Herr Wollnow nahm dieses wunderliche Geständniß lächelnd entgegen; und dasselbe, etwas melancholische Lächeln spielte ein und das andere Mal über sein ernstes Gesicht, während er an dem Bette des Kranken saß und ihm das weiche lockige Haar aus der heißen Stirn strich und das feine, jetzt bleiche, jetzt in Fieber geröthete Antlitz mit einem andern Antlitze verglich, das ihm einst als Vorbild und Ausdruck aller Schönheit erschienen war und dessen Erinnerung seine treue Seele so treu bewahrt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_734.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2021)