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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

uns zu Hause als eine Art von Gefängniß erscheinen würde. Einer näheren Beschreibung des Schiffes und seiner Einrichtungen darf ich mich überheben, da gerade die „Thuringia“, auf der ich die Reise machte, vor nicht langer Zeit einer eingehenden Schilderung in diesen Blättern gewürdigt worden ist.

Als uns am Morgen des 11. September ein kleiner Dampfer von Hamburg aus nach dem weiter hinaus in der Elbe ankernden Oceandampfer gebracht hatte, tobten Wind und Regen um die Wette mit dem Geräusch des dem Schlot entströmenden Dampfes und dem donnernden Krachen der Riesenmaschine, welche das Schiff bewegte, und die Gefühle, mit denen die meisten Passagiere bald darnach in die wogende Nordsee hinausfuhren, mögen wohl nicht die angenehmsten gewesen sein. Die gefürchtete Seekrankheit ergriff alsbald ihre zahlreichen Opfer, und der um fünf Uhr stattfindende Mittagstisch fand von der ganzen Bevölkerung der oberen Kajüte nur zwölf, der Abends gereichte Thee gar nur fünf Personen beisammen; unter ihnen ich selbst, der ich trotz starker nervöser Anlage bis jetzt noch nie von Seekrankheit zu leiden hatte.

Der folgende Abend zeigte eine gänzlich veränderte Scene. Der Wind hatte sich gelegt, der Himmel war rein und der zunehmende Mond ergoß sein mattes Licht über die weißen Kreidefelsen der englischen Küste, an der wir mit einer Geschwindigkeit von dreizehn englischen Meilen in der Stunde dahinjagten. Die Stadt Dover sahen wir im vollen Lichterglanze vor uns liegen, auf der andern Seite zeigten sich entfernte französische Leuchtfeuer. Schon Freitag Morgen vor sechs Uhr fuhren wir in den Hafen Havre ein, wo die Hamburger Post-Schiffe vierundzwanzig Stunden liegen zu bleiben pflegen, um Kohlen und neue Passagiere einzunehmen, und suchten wir uns während dieser Zeit beim schönsten Wetter (die Sonne brannte so heiß wie im Juli) die Zeit in der schönen Stadt Havre mit ihrem prächtigen, jetzt in eine förmliche Festung verwandelten Hafen so gut als möglich zu vertreiben. Sonntag Morgens um sechs Uhr war das Schiff schon wieder in Bewegung und begann jene dreitausend englische Meilen weite Reise über den atlantischen Ocean, welche an Einförmigkeit und Langeweile in der Regel nichts zu wünschen übrig läßt und den Reisenden dazu verurtheilt, entweder in sich selbst oder in seiner Schiffsgesellschaft oder in Betrachtung der auf dem Schiffe vor sich gehenden Scenen Befriedigung seiner geistigen Bedürfnisse zu finden. Zum Ersteren lassen Einem das beständige Lärmen des Schiffes und Natur und Menschen wenig Muße, daher man sich um so lieber an die letztgenannten Auskunftsmittel wendet. Bekanntlich dienen die Bremer und Hamburger Schiffe nicht blos als Passagier-, sondern auch als Auswanderer-Schiffe, und die Scenen, welche sich auf und in dem für Auswanderer bestimmten Vordertheil des Schiffes oder sogenannten Zwischendeck abspielen, sind gar mannigfaltiger Art und die bekannten und oft geschilderten.

Natürlich ist hier von dem vielgerühmten Comfort der Kajüten, der übrigens auch schon in der zweiten Kajüte auf ein sehr bescheidenes Maß reducirt ist, nichts zu entdecken, und der Aufenthalt eigentlich nur bei gutem Wetter, wo man sich auf Deck aufhalten kann, erträglich. In der That ist dann auch das Deck der Lieblingsaufenthalt der Zwischendecker, welche sich in nicht zu kalten Nächten, in ihre Bettdecken eingehüllt, wie Wollsäcke, daselbst zum Schlafen niederlegen. Liebende und ihre Verliebtheit offen zur Schau tragende Pärchen, schreiende und sich wälzende Kinder, alte zusammengekauerte Mütterchen bilden die Staffage, während das für die Bewohner der zweiten Kajüte bestimmte Deck ein Mittelding zwischen erster Kajüte und Zwischendeck bildet und die eigentlich lustige Gesellschaft, soweit eine solche überhaupt möglich ist, vorstellt. Man hört bisweilen das Leben auf einer solchen Seereise als ein lustiges und angenehmes schildern; in Wirklichkeit aber leidet es an einer unvergleichlichen Einförmigkeit und Langeweile, und die letzten Tage werden beinahe allen Passagieren zu einer Marter und namentlich den armen Seekranken.

Das Wetter begünstigte übrigens unsere Reise mehr, als man es im Monat September erwarten konnte, und so liefen wir schon am 24. September in die Bai von New-York ein, deren malerische Umgebung schon so oft geschildert worden ist. Man sieht die berühmten amerikanischen Flachboote nach allen Seiten umherschießen, um den ungeheuren Verkehr zwischen dem von zwei Meeresarmen umströmten New-York und den dasselbe an den gegenüberliegenden Uferseiten umgebenden Städten oder Vorstädten zu vermitteln, und sieht sich alsbald selbst durch ein solches Boot von dem in Hoboken gelegenen Landungsplatz der Hamburger Dampfer nach der Riesenstadt versetzt, deren aller Beschreibung spottendes Getöse und Gedränge uns sofort den Eindruck der Weltstadt macht und uns erkennen läßt, daß wir uns inmitten eines der großen Centralpunkte des Weltverkehrs befinden. Selbst das vielbeschriebene Gedränge der Londoner City scheint durch das unbeschreibliche Treiben in den unteren Theilen des New-Yorker Broadways übertroffen zu werden. Im Uebrigen unterscheidet sich New-York in seinem äußeren Anblick nicht viel von dem Ansehen europäischer Städte und verräth seinen jugendlichen Ursprung und seine rapide Entwicklung vielleicht nur dadurch, daß die großartigsten Prachtbauten, welche jeder Metropole zur höchsten Zierde gereichen würden, in der Regel flankirt sind von kleinen, unansehnlichen Häuschen oder Baracken, wie man sie sonst nur in Landstädten zu sehen gewohnt ist. Auch seine quadratische Bauart unterscheidet es wesentlich von alten, aus allmählicher Agglomeration entstandenen Städten. Endlich giebt ihm die fast auf jedem Schritt sichtbare Mischung von deutschem und amerikanischem Wesen ein eigenthümliches Gepräge. Die Zahl der in New-York lebenden Deutschen ist bekanntlich eine so große, daß New-York als die drittgrößte deutsche Stadt bezeichnet zu werden pflegt. Was übrigens die Deutschen hier treiben, wie sie leben und bemüht sind, deutsches Wesen und deutschen Geist zu pflegen und unter sich aufrecht zu erhalten – davon werde ich den Lesern der Gartenlaube in einem meiner nächsten Briefe berichten.




Der Meister an die Lehrlinge.


Zur Beherzigung für Viele.


Die Jugend ist die lebendige Poesie. Sie liest darum auch am liebsten Gedichtetes, sie dichtet selbst am liebsten, und wir halten es für ein Unrecht, wenn der reife, im Laufe der Jahre welterfahrene Mann auf diesen seltsamen Trieb der Jugend, unermüdlich und begeisterungsvoll Vers an Vers und Reim an Reim zu reihen, mit überlegener Selbstironie als auf eine „lyrische Jugendsünde“ herabsieht. Hippel, der geistvolle, menschenerfahrene Denker, der auch heute noch umsomehr gelesen werden dürfte, je ärmer die Gegenwart an echten, wahrhaft hervorragenden Humoristen ist, schrieb einmal: „Wer nicht in seiner Jugend Verse gemacht hat, ist wenigstens kein Kopf.“ Aber mehr noch: liegt nicht in jedem auch selbst unbedeutenden Menschen im Grunde ein tieferer und edlerer verborgen, wenn der wirklich erscheinende nicht viel taugt?

Dieser edlere Mensch ist es, welcher unruhvoll von Zeit zu Zeit immer wieder an die Oberfläche drängt, scheu, geheim, in der Einsamkeit, und in diesem schönen Gefühl, das um so mächtiger aufzuwallen pflegt, je reicher begabt und – wir möchten sagen – je zarter und unbefleckter die Seele sich erhalten hat, formt die Jugend ihre Verse – Blüthenzweige, die sie sich um ihre Stirn schlingt und deren Duft, deren Farbe sie entzückt.

Wir halten diesen poetischen Trieb der Jugend nicht nur für harmlos und unschädlich, er ist sogar eine der köstlichsten Gaben, die der Jugend mit in’s Leben gegeben worden, so lange – diese nur auch die Blüthenzweige lediglich für solche, nicht aber schon für Fruchtzweige ansieht. Unsere Leser wissen, von welcher Fluth lyrischer Gedichte wir Jahr aus, Jahr ein überschüttet werden. Wir weisen dieselben mit unermüdlicher Geduld immer und immer wieder zurück und ertragen es selbst mit Seelenruhe, wenn einer dieser jugendlichen Dichter – sie stehen gewöhnlich im Alter von sechszehn bis achtzehn Jahren und im Begriff, eben die Universität oder Realschule zu beziehen – uns für die Nichtbeachtung, die wir ihm schenken, einen groben Brief schreibt. Mit dieser Nichtbeachtung strafen wir ihn aber nicht, weil seine Verse etwa schlecht sind – sie sind in dem gegebenen Falle vielleicht sogar wirklich gut; auch nicht darum, weil sie voll schwarzer und finsterer Nachtgedanken sind – schweben doch der Jugend, wie Jean Paul sagt, die Gottesäcker als hangende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_726.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)