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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Löwe in seinem Käfig und die Hauptaufseher der Anstalt auf dem Hofe uns zu Gesicht gekommen waren.

Ich ließ mich mit unserm Führer über griechische und lateinische Schulbücher der damaligen Zeit in ein Gespräch ein und fand, daß ihm unsere deutschen auch dem Namen nach unbekannt waren. Als ich die Lexika und Grammatiken zu sehen wünschte, die sie brauchten – denn dies hielt ich natürlich für neutralen Boden – wich er aus, und ich erfuhr nicht einmal die Titel und die Namen der Verfasser. Das lebhafte Gespräch mit meinen Begleitern, in welchem er ihnen erzählte, welche vornehme Leute aus allen katholischen Ländern ihnen ihre Kinder anvertraut, war es, worin meine Fragen untergingen.

So erreichten wir mehr erbaut, als unterrichtet unser Empfangszimmer wieder; und hier lag das große Buch aufgeschlagen, in das er uns bat, unsere Namen einzutragen. Glücklicher Weise waren sie ihm ebenso unbekannt, als die deutschen Lexikographen und Grammatiker. Als wir wieder unter uns waren, sagte Schölcher: „Nun wahrlich, die haben uns gerade so weit in die Karten sehen lassen, als es ihnen bequem war, weiter aber auch nicht. Schade, daß die Zöglinge nicht zu Hause waren!“

„Wenn man ihnen einmal zugiebt, daß sie das wahre Christenthum haben, so haben sie gewonnenes Spiel,“ bemerkte der Herr von Ribbentropp, „man müßte denn das wahre Christenthum angreifen wollen.“

Auf dieser Reise kam ich kurz vor Luzern im Coupé der Post neben einen vierschrötigen Zuger zu sitzen. „Es wird bald Krieg geben,“ sagte er, „aber wir haben diese elenden Ketzer noch immer geschlagen, wir Urcantönler, wir werden sie auch diesmal zusammenhauen.“

Der alte General Dufour hat sie freilich eines Besseren belehrt, und als Guizot’s Gesandter in’s Wallis kam, um dem Sonderbunde das Herz zu stärken, konnte er die Regierung nicht finden. Wie Siegward Müller von Luzern und die dortigen Jesuiten, so hatte sich auch die Walliser Regierung vor der eidgenössischen gleich einem Nebelstreif verzogen.

Die glänzende Erziehungsanstalt von Freiburg wurde geschlossen; die Jesuiten wurden vertrieben. Die freie Erziehung hatte über die Jesuitenerziehung gesiegt, und der Sonderbundskrieg bildete den Schluß all der kleinen Putsche für und wider die Freiheit, die ihm voraufgegangen waren.




Blätter und Blüthen.


Jugenderinnerungen eines deutschen Schriftstellers. Ein fremder und doch wohlthuender Hauch weht uns aus einem Büchlein an, das unser beliebter Mitarbeiter, der geistreiche Humorist und Sittenschilderer Ludwig Kalisch in Paris, soeben unter dem Titel „Aus meiner Knabenzeit“ veröffentlicht hat. Das Büchlein erzählt uns nichts aus dem Treiben und Ringen der Gegenwart, nichts von den strahlenden und brausenden Mittelpunkten des modernen Lebens, auf welche Kalisch sonst die Aufmerksamkeit seiner Leser so fesselnd zu lenken weiß. Fernab von den großen Cultur- und Touristenstraßen und über die letzten fünf Jahrzehnte unserer bewegungs- und veränderungsreichen Epoche hinweg, führt es uns in die glanzlose Abgeschiedenheit eines entlegenen preußisch-polnischen Städtchens und mitten unter die eigenthümlich fremdartigen Gestalten und Verhältnisse seiner eben so zahlreichen als orthodoxen – Judengemeinde. In dieser Gemeinde ist der Verfasser geboren worden, hier hat er seine ersten Seeleneindrücke empfangen und bis zu einer gewissen Reife seine Knabenzeit verlebt.

Polnische Judengemeinden vor beinahe sechszig Jahren! Noch heute, wo das verjüngende Culturlicht durch tausend Risse und Lücken in die sprödesten Winkel dringt, mögen diese Gemeinden in der Provinz Posen nicht Stätten der eleganten Sitte und eines feineren Geschmackes sein. Wo aber ist der moderne Weltmann und Civilisationsmensch, den nicht ein unheimliches Grauen überrieselt, wenn seine Phantasie sich vormalt, was er hier und da einmal von den früheren Gewohnheiten und Zuständen jener geknechteten Paria-Genossenschaften gehört oder gelesen hat? Und doch zeigt sich uns hier eine merkwürdige und nicht genug beachtete Thatsache. Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat nämlich eine ganze Reihe von geistig und sittlich hervorragenden Männern aufzuweisen, die gerade aus der abgeschlossenen Welt solcher Judengemeinden hervorgegangen sind.

Wir nennen hier beispielsweise aus dem Orte Polnisch-Lissa, dem auch Kalisch entsprossen ist, und zwar ungefähr aus dem Zeitraum, welchen er uns schildert, den erst kürzlich dahingeschiedenen Königsberger Arzt Dr. Kosch, den langjährigen und so allseitig verehrten demokratischen Landtagsabgeordneten. Wir nennen ferner den gleichfalls in Lissa geborenen und leider schon vor Jahren verstorbenen Berliner Arzt Dr. Abarbanell, den Wiederhersteller und Führer des großen Berliner Handwerkervereins, welchem von diesem Verein noch alljährlich an seinem Todestage eine besondere Erinnerungsfeier gewidmet wird. Solche Persönlichkeiten, wie arbeitsvoll sie auch später an sich gebildet haben mögen, machen und schaffen sich doch nicht allein aus sich selber. Mag der geistige und sittliche Boden, auf dem sie gewachsen sind, uns als ein öder und dürftiger erscheinen, er muß dennoch erwärmende Einflüsse geübt und fruchtbare Stellen besessen haben, die edlen Charakterkeime zu pflegen und den Sinn über das Gemeine zu richten.

Und so war es auch, man muß nur die Binde des Vorurtheils und der anerzogenen Abneigung von den Augen nehmen, um gegen solche gesellschaftlich uns doch naheliegende Erscheinungen nicht ungerecht zu sein. Auch in der Christenheit hatte ja bekanntlich das Mittelalter sammt den darauffolgenden Zeiten nicht lauter reine und liebliche Früchte gezeitigt. Zerzaust aber und athemlos, in verwilderter und verknöcherter Aeußerlichkeit war das zerstreute jüdische Element aus den wüsten Verfolgungen und Mißhandlungen finsterer Jahrhunderte hervorgegangen. So stand es herabgedrückt, betroffen und verschüchtert da, als es vor kaum sechszig Jahren endlich sein Joch erleichtert und sich von dem hellen Lichte eines milderen Tages beleuchtet sah. Dennoch ist es Thatsache, daß sich hier unter einer fast undurchsichtigen Kruste bizarrer, barocker und ästhetisch mannigfach abstoßender Lebensformen ein weicher und warmer Kern zarter Gemüthsinnerlichkeit, edler Gesinnung und ehrenhafter Gesinnung, zugleich aber eine scharfe und schwungkräftige Empfänglichkeit für geistiges Streben erhalten hatte.

Leopold Kompert hat uns dieses Judenthum auf der Grenzscheide zweier Zeiten mit allem Farbenschmelz ergreifender Poesie geschildert, A. Bernstein hat es uns in seinen Novellen „Vögele der Maggid“ und „Mendel Giborr“ mit humor- und seelenvoller Drastik vorgeführt. Von Ludwig Kalisch aber ist es in dem oben bezeichneten Buche nunmehr auch ohne dichterischen Schmuck so scharf und treu gezeichnet worden, wie es aus der Knabenzeit des Verfassers noch fest in seiner Erinnerung lebt. Der besondere Werth seines Buches liegt in dem Umstande, daß es keine Dichtung, sondern eine durchaus ungezwungene memoirenartige Mittheilung ist. Es verschweigt das Häßliche und Verkehrte, das Unverständige und Abenteuerliche in den Einrichtungen und Anschauungen nicht, aber es zeigt uns unter der seltsamen Hülle auch das kernhaft Tüchtige, Gute und Schöne im vollen Glanze seiner immer charakteristischen Eigenart. So führt es die Kirche und die Schule, das Familien- und Straßenleben, die Männer-, Frauen- und Kinderwelt der polnischen Judengemeinde, ihre Sitten und Gebräuche, die Originalität ihrer Charaktertypen, ihrer Heiligen und Humoristen in treuester Schilderung und wechselnder Bilderfülle an uns vorüber.

Und erwärmend wirkt dabei vor Allem die ernste und innige Pietät, mit welcher der weltmännische, auf den Höhen moderner Bildung stehende Schriftsteller von dem glänzenden Paris aus auf die scheinbar so dürftigen Wurzeln zurückblickt, aus denen sein geistiges und sittliches Dasein sich entfaltet hat. Gewiß, es ist eines der liebenswürdigsten, unterhaltendsten und belehrendsten Bücher, die wir seit längerer Zeit gesehen haben, anziehend auch durch stylvolle Eleganz der Darstellung und Sprache. Die jüdischen Leser wird es an Dinge erinnern, die zum Theil in derartigen Formen nicht mehr vorhanden sind, viele christliche aber werden sich gern durch diese culturgeschichtlich so interessanten Genrebilder aus dem inneren Leben einer verfolgten Confession zur Ablegung herber und absprechend inhumaner Urtheile ermuntert sehen.

A. Fr.




Die Lazarethcameraden. (Mit Abbildung, S. 705.) Wiederum ein Bild, das keiner Erklärung bedarf. Der Achtundsiebenziger hat wahrscheinlich in den Kämpfen bei und um Metz sich seine Armwunde geholt, denn sein Regiment gehört zur neunzehnten Infanterie-Division des zehnten Armeecorps und dieses zur zweiten Armee, also der des Prinzen Friedrich Karl. Den Franzosen fehlte es dort nicht an Gelegenheit, als Verwundete in Gefangenschaft zu gerathen, und so ist es eben gar nichts Besonderes, zwei solche Lazarethcameraden beieinander zu sehen. Aber das zeichnet dieses Bild dennoch aus, daß Jeder von Beiden ein echter Vertreter seines Volksthums ist. Auch das eben überstandene Schicksal beider Nationen konnte in ihren Vertretern nicht sprechender sich in Antlitz und Haltung abspiegeln. Wenn sie sich in Reimen unterhalten hätten, würde ohne Zweifel unter Anderm Folgendes an den Tag gekommen sein:

„Und nix caput sein uns’re gloire!
Revanche! Das heißen uns Victoire!
Revanche! Da zeig’ Prüssiens sein’ Courage!“
„„Männeken, det jiebt eene neue Blamage!““
La France in neue Glanz partout!
„„Ja Glanz, und wir liefern die Wichse dazu.““




Gekrönte Preisschrift!


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:


Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes


nebst einem Anhang: Ueber künstliche Zähne
von Dr. W. Süersen (senior),
Königl. preuß. Hofrath und Hofzahnarzt in Berlin.
Herausgegeben vom Central-Verein deutscher Zahnärzte.
Sechste neu durchgearbeitete Auflage. Elegant broschirt. Preis 20 Ngr.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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