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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

etwas von der Tagsatzung zu hoffen war. Die Millionärs und die Pfaffen der großen Stadt hatten die Söldner und ihre Kanonen immer in Bereitschaft; „wenn das Volk es wagen sollte, sich zu rühren, so wollte man Klein-Genf eher mit glühenden Kugeln in Brand schießen, als nachgeben.“ Nun, glücklicher Weise steht die herrliche Stadt noch unverletzt und die glühenden Kugeln sind nur in der Phantasie geheizt worden.

Wir fuhren mit dem Dampfer nach Lausanne, das seine Revolution schon gemacht hatte, und hatten uns mit einer Empfehlung von Galère versehen, einem Freunde Fazy’s, an den Tagsatzungsgesandten des Waadtlandes, der an der Spitze der seit 1845 siegreichen freien Partei stand. Als wir ankamen, war er schon nach Zürich abgereist, wo wir ihn dann trafen, und wo ich mich mit ihm und Schölcher über den Staatszweck, den sie mir zu antik, zu ungünstig für den einzelnen Bürger auffaßten, nicht vereinigen konnte.

Schölcher und er nahmen ganz kühl mein Beispiel an, „der Einzelne werde also nach ihnen wie ein Schuh von seinem Träger aufgebraucht, und es sei Patriotismus, sich darein zu ergeben.“

„Allerdings! das freie Gemeinwesen ist der Zweck, und seiner Verwirklichung hat sich der einzelne Staatsbürger zu opfern,“ erwiderten sie; „dies drückt die Grabschrift der dreihundert Spartaner, die nach Herodot bei den Thermopylen zu lesen war, vortrefflich aus:

‚Wand’rer, bringe dem Volk der Spartaner die Botschaft, wir liegen
     Hier begraben, getreu seinem Gesetz und Gebot.‘“

„Der Krieg,“ erwiderte ich, „ist ein Nothstand. Er kann ein solches Opfer fordern; aber der freie Staat ist kein Nothstand und der Bürger kein todter Schuh, den er aufträgt; des Einzelnen Freiheit und sein Wohl ist ebenso gut Zweck des Gemeinwesens, als das Gemeinwesen und dessen Freiheit und ehrenvolle Existenz Zweck des einzelnen Bürgers ist.“

Der Lausanner Gesandte und Victor Schölcher gaben das nicht zu. Kriegszustand sei immer.

„So haben wir in Lausanne eben erst gesiegt,“ sagte der Lausanner, „und warum? nur um den Krieg gegen die Jesuiten mit Nachdruck führen zu können. Und wohin würden wir wohl kommen, wenn nicht jeder Einzelne sich diesem großen Zwecke ganz hingeben und, wo es sein muß, sich dafür opfern wollte?“

„Sie wollen den Krieg abschaffen,“ fiel Schölcher gegen mich gewendet ein, „darauf kenn’ ich Sie. Der Krieg ist ja aber gerade die Probe auf den Frieden, wie sich denn auch die gefallenen Spartaner auf das Gesetz und Gebot der Republik berufen. An ihnen sah man, daß es mit dem Staate Sparta Ernst war, so wurde seine Idee realisirt.“

Und es half mir nichts, daß ich ihnen zeigte, dies käme auf Eins heraus mit dem Grundsatze der Jesuiten, der Einzelne sei willenlos in der Hand seiner Oberen; so werde der Staat zu einer Armee und die Disciplin trete an die Stelle der Freiheit. Sie behaupteten, es käme auf den Inhalt des Ganzen an, und wenn die Jesuiten die Freiheit zum Zwecke hätten, so hätten sie ebenso gut Recht als eine republikanische Armee.

Die Freiheit hat doch sicherlich der Staat nicht zum Zwecke, der alle Bürger unter militärischen Befehl stellt. Das kann nur im Nothstande des Krieges, nicht im normalen Zustande des Friedens erlaubt sein. Aber ich galt meinen beiden politischen Berühmtheiten damit für einen unpraktischen Traumwandler, der die wahre Republik und ihre Tugend, den aufopfernden Patriotismus, nicht wolle.

Da wir in Lausanne unsern geselligen Zweck verfehlt hatten, so hielten wir uns an die Natur und stiegen so hoch am Ufer des Sees hinauf, bis wir das ehrwürdige runde Schneehaupt des Montblanc über die gegenüberliegenden Vorberge auftauchen sahen.

Es war der einzige Tag, wo unser Freund Schölcher die leuchtenden Hochalpen erblicken sollte; all’ die übrige Zeit der Reise lagen sie im Regen und Nebelschleier. Er bemerkte aber auf mein Bedauern ganz vergnügt, diese grünen Berge gefielen ihm ebenso gut als die weißen, wenn nicht gar besser, die grünen seien das Lebendige, die weißen das Todte.

Diese Todten sind die Lebensspender.

Bis Freiburg, wo wir uns an den vielbesprochenen mysteriösen Jesuiten erholen wollten, verloren wir freilich nicht viel durch den Regen.

Die berühmte Jesuitenschule ist ein wahrer Palast und hat eine dominirende Lage. Welche Mittel mußten der Gesellschaft zu Gebote stehen, um diese prächtige Anstalt gegründet zu haben, und wie entschieden bezeichnen sie mit einer solchen großartigen Leistung den Hauptzielpunkt ihres Systems, die Erziehung!

Bei dem Pförtner gaben wir uns als Reisende zu erkennen, die um die Erlaubniß bäten, die berühmte Anstalt besehen zu dürfen. Dies hatte nicht das geringste Bedenken, man fragte nicht einmal nach unseren Namen oder Karten; ein Blick auf unsere Haltung genügte.

Wir traten in ein Empfangszimmer, das einen Balcon auf den Hof hatte. Während wir hier warteten, sahen wir eine Gruppe von schwarzen Männern in lebhafter Unterhaltung vor uns, auf die der Pförtner zuging, um unser Gesuch vorzubringen.

Wir interessirten uns für einen hervorstechenden Kopf in der Gruppe mit Adlernase und schwarzen Haaren; denn gerade so hatten wir uns die Herren immer gedacht und wünschten, daß Dieser sich herbeilassen würde, uns herumzuführen. Das that er aber nicht, sondern sandte uns einen Andern aus der Gruppe der Väter, der einen leichten „Verdruß“ hatte, aber darum nicht minder schlau dreinschaute und den man leicht für einen Juden hätte ansehen können.

Wir kamen überein, daß wir uns der Opposition möglichst zu enthalten und vielmehr Belehrung entgegenzunehmen hätten. Denn eine Discussion sei ja nur auf gleichem Boden möglich.

Zu unserer nicht geringen Ueberraschung begann der ehrwürdige Herr nach einer freundlichen Begrüßung sogleich mit der Unterbreitung dieses gemeinschaftlichen Bodens. Er freute sich, daß er uns mit der Einrichtung und den Vorzügen der Anstalt bekannt machen könne; vielleicht hätten wir Gelegenheit, in Paris und Zürich empfehlend von ihr zu reden – wir hatten ihm sagen lassen, daß wir daher kämen – die Anstalt sei zur Verbreitung des Christenthumes gegründet worden, eine innere Mission, und wolle den Vorurtheilen, die seit Jahrhunderten gegen das Christenthum aufgetaucht wären, durch systematische Erziehung im wahren Glauben begegnen. „Sie sehen diese reiche Büchersammlung. Wir haben sie sorgfältig der Aufgabe unserer Anstalt angepaßt, und es schien uns weniger wünschenswerth, die Irrthümer hervorzuheben, als sie bei Seite zu lassen, damit die Wahrheit zu allererst das ganze Gemüth erfülle und Jedem selbst die Waffe gegen den Irrthum in die Hand gebe. Der Schüler findet daher in dieser Büchersammlung überall die reine ungetrübte Quelle.“

„Sie lassen doch nicht Jeden sich hier selbst unterrichten?“

„O nein, nur die, welche die Classen durchgemacht haben und sich dann noch weiter entweder für die Welt oder für den Orden vorbereiten wollen. Hier ist das Cabinet eines solchen jungen Mannes.“

Er öffnete uns die Thür, und wir sahen einen Hoffnungsvollen an seinem Arbeitstische. Er nahm nicht die geringste Notiz von uns und gab uns nicht einmal Gelegenheit, ihm unsere Verbeugung zu machen. Es war ein hübscher, schlanker, schwarzäugiger junger Mann.

Der Pater erzählte uns von ihm, von seinen Studien, seiner Familie, seinen Aussichten, als nähmen wir das entschiedenste Interesse daran; denn was in der Welt konnten wir Besseres wünschen, als die Ausbreitung des wahren Christenthums in dieser gottlosen Welt?

Darauf schloß er die Thür des Cabinets, die seinen Eleven wieder ganz seiner ungestörten Andacht übergab; denn allerdings war er uns mehr als ein Betender erschienen.

„Hat jeder Eleve sein eigenes Studirzimmer?“

„Nur die Vorgerücktesten, die eigene Studien unternehmen,“ erwiderte er; „die Uebrigen arbeiten unter Aufsicht und Anleitung.“

Er führte uns durch die Schlafsäle, die eigenthümlich eingerichtet waren. Jeder war mit seinem Bette durch ein hohes Drahtgeflecht von dem Bette des Nachbarn abgesperrt, so daß er zugleich in Gesellschaft und doch für sich war. Den eigentlichen Zweck dieser Einrichtung erfuhren wir nicht. Unser Führer setzte voraus, wir wüßten ihn, und wir getrauten uns nicht, unsere Unwissenheit zu bekennen. Nur die Geräumigkeit und Luftigkeit der Schlafsäle ließ er uns anerkennen.

Da die ganze Gesellschaft, unter die sich diese Schlafsäle vertheilten, auf einer Ausflucht in die Umgegend begriffen war, so entging uns der Anblick des ganzen Erziehungsmaterials der Schüler und wir hatten noch von Glück zu sagen, daß der Eine


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_715.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)