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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Das ist richtig. So machen’s alle großen Künstler.“

„Und wie ist in seinem Buch der Karl von Moor zusammengestrichen! Es ist schändlich,“ machte sich ferner unser erster Held mit seinem geliebten falschen Pathos in die Unterhaltung.

„Mir hätte es nicht passiren sollen. Ich würde die Nüance heute Abend doch bringen.“

„Dazu hat er ja die Courage nicht.“

Meine ohnehin nicht brillante Laune wurde durch diese Hetzerei noch verschlimmert, und ein Ausfluß dieser üblen Laune war es, als ich plötzlich rief: „Oho! Der Muth fehlt mir nicht. Ich bringe die Nüance heute Abend!“

Ein allgemeines „Bravo“ beglückwünschte meinen heroischen Entschluß.

Der Abend kam. Die Aufführung schritt vor, und bald fiel das Stichwort zur fragwürdigen Scene. Hinter den Coulissen herrschte eine gespannte Erwartung.

„– – – und meine Erben brechen es auf.“

Langsam und rückwärts schreite ich nach der Thür. Fest halte ich Franz im Auge. An der Thür angelangt, wende ich einen Moment das Auge ab, des Oeffnens wegen. Blitzschnell schlägt Dawison-Franz auf mich an – aber ebenso blitzschnell ist mein Pistol heraus, und Dawison, unvorbereitet nach der Uebereinkunft vom Morgen, zuckt um so überraschter in sich zusammen!

Die Nüance war brillant gelungen. Er winkt zum Abgehen. Kaum habe ich die Thür hinter mir, so erschallt donnernder Applaus. Derselbe ist so anhaltender Natur, daß ich zur Thür zurückkehre und – richtig, Dawison öffnet sie, herrscht mir zu: „Kommen Sie!“ und wir verbeugen uns vor dem hochgeehrten Publicum.

Als Dawison abgegangen war, kam er sofort funkelnden Auges auf mich zu. Alles fürchtete eine Scene. Ich blieb ruhig und ließ ihn dicht heran. Er sah mich an. Es arbeitete in ihm. Alles drängte sich um uns.

„Die Scene ging gut,“ sagte er plötzlich und wandte mir den Rücken.

Während des Abends sprach er kein Wort mehr mit mir. Am folgenden Morgen war er wieder bei bestem Humor und es wurde mit unserem Regisseur, der ihm von früherer Zeit bekannt war, ein Spaziergang nach einem eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Vergnügungsorte verabredet. Herrliches Wetter begünstigte das Vorhaben, und Dawison würzte unser Flaniren durch seinen sprudelnden Witz.

„Sehen Sie,“ sprach er plötzlich zu mir, den er schon mehrmals wieder des Wortes gewürdigt hatte, „sehen Sie dort vor uns das reizende Kindermädchen und das Kind im Wagen?“

„Gewiß.“

„Bemerken Sie auch das Elternpaar, anscheinend der haute volée angehörig, welches dem Wagen folgt?“

„Ebenfalls.“

„Geben Sie Acht, meine Herren! jetzt werde ich Ihnen zeigen, wie man sich populär macht.“

Wir[WS 1] waren ziemlich in der Nähe des Wagens und der muthmaßlichen Eltern des darin befindlichen Kindes.

„Ach, meine Herren,“ begann Dawison uns voraneilend, „sehen Sie doch dieses reizende Kind! Welch bildschöner Knabe! Haben Sie je ein so liebes Kind gesehen?“

Und schnell hatte er, ehe das erstaunte Mädchen es hindern konnte, den kleinen Staatsbürger aus dem Wagen genommen und präsentirte ihn uns unter fortgesetzten enthusiastischen Exclamationen von allen Seiten.

Indessen waren die Eltern in ziemlicher Verwunderung nahe herangekommen.

„Ich täusche mich sicher nicht, Sie sind die Eltern dieses lieben Engels! Gewiß, ich täusche mich nicht! Von Ihnen“ – zum selbstgefällig lächelnden Vater – „hat der Knabe das Auge, von Ihnen, Madame, den Mund und das Kinn – o wie glücklich müssen Sie sein im Besitze eines so schönen Kindes!“ Da der Junge zu schreien begann, so übergab ihn Dawison mit wahrer Ammensorgfalt seiner Wärterin und wir trennten uns von der Familie nach einigen landläufigen Formeln.

„Sehen Sie, meine Herren,“ sagte Dawison, als wir eine Strecke entfernt waren, „so wird man populär! Morgen spricht die ganze Stadt vom Kinderfreunde Dawison!“

Dawison war ohne Frage ein großartig angelegtes Talent. Ein besonderer Reiz seiner Rollen lag in der nervösen Energie, mit welcher er dieselben verkörperte. Besonders ist mir aber eins an ihm aufgefallen. Ich habe ihn verschiedene Male gesehen, natürlich fast immer in denselben Rollen. Ich erstaunte darüber, wie wenig eigentlich Feststehendes Dawison brachte. Nicht blos in Kleinigkeiten, auch in großen Zügen änderte er fortwährend an seinen Repertoirepartieen. Gewiß ist sein Riesenfleiß, der ihn zwang, sich auch in dem beschränkten Rollenkreise, den ihm das Virtuosenthum aufgenöthigt hatte, noch schaffend und bessernd zu zeigen, der maßgebende Factor gewesen. – Daneben scheint es mir aber ziemlich gewiß zu sein, daß der Virtuose doch mehr und mehr den eigentlichen Künstler in ihm lahm legte. Die größeren Städte Deutschlands besuchte er sehr regelmäßig aller zwei, drei Jahre und führte – mit sehr wenigen Ausnahmen – fast immer dieselben Rollen vor. Um in diesen Gestalten nun wieder neu zu sein, mußte er ihnen neue Seiten abgewinnen. –

Ein eigentlicher Verstandesschauspieler à la Seydelmann war Dawison nicht, und trotz seines großen Fleißes möchte ich ihn, seiner ganzen Art nach, zu den sogenannten Inspirationsschauspielern zählen. Für die Inspiration war er das passendste Medium; der Reflexion hat er jedenfalls nie einen durchaus dominirenden Einfluß gestattet, denn wenn man ihm überhaupt einen Vorwurf zu machen hatte, so war es der: nicht überall Maß halten zu können! Ein Beispiel mag dies illustriren.

Im zweiten Acte des Gutzkow’schen „Königslieutenant“ tritt bekanntlich der junge Wolfgang Goethe in das Zimmer Thorane’s, macht seine ehrerbietige Verbeugung, nimmt ein Gemälde von der Wand und will sich nach einer abermaligen Verbeugung ruhig entfernen. Thorane, der dem Vorgange bis dahin ruhig zugesehen, ruft dem Sergeantmajor Mack zu: „Au voleur!“ was dieser mit „Halt den Dieb!“ übersetzt und Wolfgang am Hinausgehen verhindert. Hieraus und hierauf entspinnt sich die große Scene zwischen Thorane und Wolfgang.

Nimmt man nun an, daß Thorane ein hoher Vierziger ist, Wolfgang ein halbschüriger Junge von fünfzehn Jahren, der außerdem stets von einer Dame gespielt wird; nimmt man ferner an, daß Thorane nur im Quartier bei Rath Goethe liegt und daß er Cavalier und Aristokrat ist, dessen erste cavaliere und aristokratische Sorge es sein muß, sich seiner ruhigen Würde nur im Affect der höchsten Leidenschaft zu begeben; nimmt man ferner an, daß Thorane durch Mack weiß, er hat es mit dem Sohne seines Quartiergebers zu thun: so kann man logischer Weise die Worte „au voleur!“ nicht sehr schwer nehmen. Eine gewisse Verwunderung mag sich in ihnen aussprechen, in Flammen aber wird sich Thorane durch den geschilderten Vorgang sicher nicht setzen lassen.

Nun wird mir aber der Ausdruck der Wuth, mit dem Dawison dieses „au voleur!“ herausstieß, unvergeßlich bleiben. Die Wirkung war um so eclatanter, als die vorhergehende Scene sehr ruhig gehalten ist, und die nachfolgende, gefühlsselige mit Wolfgang ist es erst recht. Dieser einzelne Wuthausbruch steht also ganz unvermittelt da und ich habe vergebens nach Gründen dafür gesucht, wenn ich nicht den etwas pessimistischen gelten lassen will: dieser Wuthausbruch frappirt ungeheuer und das Publicum fühlt sich als Folge des Gegensatzes um so angenehmer von den weichen Gefühlsergießungen der folgenden Scene berührt.

Ich nenne den Grund pessimistisch, denn ich verehre Dawison zu hoch, als daß ich glauben könnte, er habe auf so wenig künstlerische Weise Effect gesucht. Oder waren so unvermittelte und widersinnige Nüancen schon Vorboten seiner entsetzlichen Krankheit?

Die letzte Rolle Dawison’s bei seinem diesmaligen Gastspiel war „Hamlet“. Das Stück beansprucht ein sehr starkes Personal, und die Herren der Oper wurden zu einzelnen Rollen herangezogen. Gewöhnlich ist das nun gar nicht nach dem Geschmack unserer Opernsänger, und nur ein gutes Spielhonorar versüßt die bittere Pille. So ging es auch unserem serieusen Baß. Dem war – Organ und Gestalt waren factisch hünenhaft – der Geist von Hamlet’s Vater aufgenöthigt worden, und unser Bassist hatte ihn mit einer gewissen Bärengemüthlichkeit entgegengenommen. Während der Probe entwickelte sich zwischen Dawison und dem ehrenwerthen Grundsänger folgender Dialog:

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wie
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_710.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)