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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Wohl rollten Jahre auf und nieder,
Und Kind und Enkel nannt’ ich mein –
Sie schieden Alle – ach! der Flieder
Blüht über ihrem Leichenstein.

Nur Du, nur Du bist mir geblieben,
Mein Licht im alternden Gemüth,
Ein Frühlingsbild[WS 1] von meinem Lieben,
Das, blühend einst, nun abgeblüht.

Ich blick’ Dich an – da wird in süßen
Erinn’rungen mein Herz so weit,
Als wollte mich noch einmal grüßen
Der jungen Liebe holde Zeit. –

Du wiegst Dich noch in Dämm’rungsträumen,
Und in Dir schläft es knospenhaft,
Doch kommen wird sie ohne Säumen,
Die stille, süße Leidenschaft.

O Gott! Sie wird Dich tief entzücken;
Bricht sie mit ganzer Macht herein:
Was mich beglückt, wird Dich beglücken
Und selig wirst, wie ich, Du sein.

In höchsten Wonnen wirst Du schweben –
Genieß’ sie ganz, mein Enkelkind!
Denn wie ein Hauch verweht das Leben,
Und all’ sein Glück ist Spreu im Wind.

 Ernst Ziel.




Eine Nichte Klopstock’s.


„Rathen Sie einmal,“ schrieb ich vor einigen Tagen an eine befreundete Dame in Köln, die ich seit Langem als eine große Verehrerin des Messiassängers kenne, „rathen Sie einmal, was für einen Besuch ich diesen Nachmittag gemacht habe! Doch nein, Sie rathen es nie und nimmer und wenn Sie sich den Kopf auch noch so sehr zerbrächen.“

Dieselben Worte kann ich jetzt dem Leser zurufen, und auch er würde sich gleichfalls vergeblich bemühen, wenn es ihm nicht der obige Titel bereits verrathen hätte. Aber er wird mir gewiß Recht geben, daß der Fall interessant genug ist, um ausführlicher darüber zu berichten. Eine wirkliche, leibliche Nichte Klopstock’s, eine Tochter seines jüngeren Bruders, lebt hier in Metz und ist jedenfalls eine der interessantesten Persönlichkeiten, die durch die Eroberung der Reichslande wieder ihre ehemalige deutsche Nationalität gewonnen haben.

Zufällig, wie so oft im Leben, bin ich zu der Bekanntschaft mit dieser Dame gekommen, die noch dazu als Hamburgerin meine nächste Landsmännin ist und die ich jetzt fast als meine Verwandte betrachten möchte, denn meine Großeltern waren mit der Klopstock’schen Familie sehr befreundet. Der Archivar auf der hiesigen Präfectur, dessen Familie ebenfalls deutschen Ursprungs ist und mit dem ich seit einem Jahr täglich verkehre, hatte mir freilich schon früher manchmal gesagt, daß er jeden Sonntagnachmittag eine alte Tante besuche, die er in hohen Ehren halte.

„Sie ist über achtzig Jahre alt,“ erzählte er mir eines Tages, „eine Hamburgerin von Geburt und, was Sie besonders interessiren wird, eine Nichte von Klopstock.“

Im ersten Moment meinte ich, daß der Mann scherzte. „Eine Nichte von Klopstock!“ rief ich verwundert, „wie ist das möglich?“

„Ebenso möglich,“ entgegnete der Archivar lächelnd, „wie Sie der Neffe eines Ihrer Oheime sind … wenn Sie es indeß nicht glauben wollen,“ fuhr er fort, „so begleiten Sie mich, ich stelle Sie meiner Tante gern vor, und Sie werden ihr sehr willkommen sein.“

Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen; ich sagte eine vorher projectirte Spazierfahrt nach den Schlachtfeldern ab, und wir machten uns sofort auf den Weg.

Die Tante des Archivars wohnt in einem Hause am Mosel-Quai, der nach den Lustgärten der Esplanade führt, mithin im schönsten Stadttheile, und die Aussicht von ihrem Wohnzimmer umfaßt das ganze herrliche Thal, mit dem Strom, mit Wäldern und Weinbergen und mit vielen Dörfern auf dem weiten Höhenzuge, wo auch die gewaltigen Forts liegen, was man Alles nie genug bewundern und beschreiben kann. Sie wohnt übrigens nicht allein, sondern mit ihrer gleichfalls verwittweten Tochter, und beide Damen scheinen sich in ihrer stillen, freundlichen Häuslichkeit sehr glücklich zu fühlen. Hier wird es mir aber wohl gestattet sein, nur von der Mutter allein zu reden. Der Archivar stellte mich als Landsmann, das heißt als Hamburger vor, und wir befanden uns bald in einem sehr lebhaften und für mich äußerst interessanten Gespräche. Wie durch einen Zauberschlag stand auf einmal meine ganze Jugendzeit vor mir und mit ihr die frühesten Erinnerungen meiner Kindheit. Aber was waren diese Erinnerungen gegen diejenigen der alten Dame, die fast drei Viertheile eines vollen Jahrhunderts umfaßten! Ich sehe noch das wehmüthige Lächeln in ihren sanften, gealterten Zügen, als ich im Laufe der Unterhaltung bemerkte, daß ich seit bald zwanzig Jahren meine Vaterstadt nicht wieder gesehen. „Ich seit sechszig Jahren nicht,“ entgegnete sie. Aber wie frisch und klar war trotzdem ihr Gedächtniß geblieben, und wie lebendig und getreu schilderte sie zum Beispiel das Klopstock’sche Haus in der Königsstraße und das dicht daranstoßende meines Großonkels, seines langjährigen Freundes.

Nach Klopstock’s Tode lag freilich noch ein ganzes Menschenalter dazwischen, bis ich als Kind in jenem Hause aus- und einging, oft mit schwerem, zagendem Herzen, und zwar aus Furcht vor Madame Meyer. Diese Madame Meyer hatte dort nämlich eine Knabenschule errichtet, und ihr verdanke ich mein erstes Bischen Wissen im Lesen, Rechnen und Schreiben, das sich aber ohne die tägliche Nachhülfe meiner Großmama daheim wohl auf Null reducirt haben würde. Madame Meyer war eine grämliche Alte, die in ihren dürren Fingern stets ein langes Lineal hielt, mit dem sie uns bei dem geringsten Versehen unbarmherzig auf die Hände schlug, mir namentlich bei dem Einmaleins, das mir nicht in den Kopf wollte. Aber wie oft beim Kommen und Gehen schaute ich zu der weißen Marmortafel hinauf, die über der Hausthür prangte und auf welcher mit goldenen Buchstaben eine lange Inschrift stand, von der ich heute nur noch die erste Zeile weiß: „Hier wohnte und dichtete Klopstock.“

Und in eben diesem Hause hatte die alte Dame, die mir gegenüber saß, gleichfalls ihre Kinderzeit verlebt, aber um einige vierzig Jahre früher, also noch im vorigen Jahrhundert. Sie wußte demungeachtet besser Bescheid darin als ich: die enge Treppe mit dem schweren balustradenähnlichen Holzgeländer und der großen spiegelblanken Messingkugel am Ende; oben nach vorn die zwei Wohnzimmer Klopstock’s, beide damals mit grünen Tapeten und Vorhängen; in dem hinteren Zimmer die kleine Thür, die mein Großonkel hatte durchbrechen lassen, um dem Freunde näher zu sein und nicht über die Straße gehen zu müssen, wenn sie des Abends ihre traditionelle Schachpartie machten. Von diesen Schachpartien wußte die Tante (sie heißt eigentlich, nach ihrem Gatten, Madame Kämmerer, aber ich bitte den Leser, mir zu erlauben, den obigen gemüthlicheren Titel beizubehalten) viel zu erzählen. So unter Anderm den Umstand, daß der gute Klopstock, der sonst die Milde und Sanftmuth selbst war, über jede Störung während des Spiels sehr ungehalten wurde, zumal ihm mein Großonkel die meisten Partien abgewann. Dieser hatte schon deshalb leichteres Spiel, weil er leider so gut wie ganz taub war.

Manchmal kam auch noch der alte, fast erblindete Büsch hinzu (eine andere Celebrität Hamburgs), der sich die Stellung der Figuren sagen ließ und dann Klopstock mit seinem Rathe unterstützte, was wieder mein Großonkel nicht hören konnte.

„Wir Kinder,“ erzählte die Tante weiter, „mußten unterdessen unten im Parterrezimmer bleiben und sehr still sein, wenn wir nicht vor der Zeit zu Bette gebracht werden wollten. Einmal, wo wieder die drei Herren oben waren, banden wir einen kleinen Blumenstrauß und hätten ihn gar zu gern hinaufgebracht, aber wir wagten es nicht. Endlich mußte ich als die Jüngste daran. Ich schlich mich leise und auf den Zehen in das Zimmer; Büsch sah mich nicht und Ebeling hörte mich nicht; der Onkel indeß drohte mir mit dem Finger, nahm mir aber doch den Strauß ab und küßte mich. Dann lief ich wieder davon und meinte, eine wahre Heldenthat vollbracht zu haben. Ich war damals sechs Jahre alt.“

„Die Geschichte spielte also im vorigen Jahrhundert,“ ergänzte ich, „mithin vor etwa vierundsiebenzig Jahren.“ (Büsch starb bekanntlich schon Anno 1800.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Flühlingsbild
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_674.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)