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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

der lustige Schwank „Ein Billet von Jenny Lind“ erschien zuerst auf den Brettern, welche die Welt bedeuten. Draußen vor den Thoren Berlins, in dem Dorfe Schöneberg, auf einer ärmlichen Sommerbühne feierte Kalisch seinen ersten, so folgereichen Triumph, der über sein Schicksal entschied. Der unerwartete Beifall, den das frische Gelegenheitsstück fand, munterte ihn auf und öffnete ihm zugleich die Pforten des alten Königsstädter Theaters, um das noch die Erinnerungen an die Sontag, Spitzeder und Beckmann, an die heiteren Singspiele Holtei’s, an die lustigen Possen eines Angely schwebten, wenn auch der frühere Glanz im Erlöschen war. Mit und durch Kalisch kam ein neuer Geist in die absterbende Königsstadt, die noch einmal wieder auflebte.

Schon sein nächster Versuch, die einactige Posse „Herr Karoline“, nach dem Französischen, erregte ein ungewöhnliches Aufsehen, während die größere Posse „Hunderttausend Thaler“, eine freie Bearbeitung eines gleichfalls französischen Stoffes, ein epochemachendes Ereigniß in der Theaterwelt war, begleitet von einem nie geahnten Erfolge. Mit einem Schlage war Kalisch der Held des Tages, der erste Possendichter Deutschlands, der moderne Aristophanes, wie er vielfach von enthusiastischen Bewunderern damals genannt wurde. Publicum und Kritik sprachen sich gleich günstig über die neue Erscheinung aus. Die Leiermänner spielten auf der Straße die Melodien seiner Lieder, und die lebenswahren, lebensfrischen Charaktere seiner letzten Posse, besonders „Herr Zwickauer“, erfreuten sich der größten Popularität. Während die Direction des Königsstädter Theaters die glänzendsten Einnahmen erzielte, blieb Kalisch selbst so arm wie zuvor, da er für sein Werk vorläufig nur fünfzig Thaler erhielt, denen die Familie des Theaterdirectors Cerf bei der hundertsten Vorstellung ein freiwilliges Geschenk der gleichen Summe großmüthig hinzufügte.

Dafür entschädigte ihn die allgemeine Anerkennung, die Freundschaft und Aufmunterung, die dem talentvollen Schriftsteller von angesehenen Künstlern und Collegen zu Theil wurde. Selbst die sogenannte Hippel’sche Clique, die sich unter dem Vorsitz des gefürchteten Bruno Bauer in der gleichgenannten Weinstube versammelte, nahm Kalisch freundlich in ihrer Mitte auf, wo er die letzten Ausläufer der Hegel’schen Schule und ihre Alles zersetzende Kritik aus eigener Anschauung kennen lernte. Durch seine beiden ihm nicht nur geistig, sondern auch durch die Bande des Blutes verwandten Vettern Ernst Dohm und Rudolf Löwenstein, welche sich zu derselben Zeit in Berlin aufhielten, kam er mit einem nicht minder einflußreichen Kreis junger, talentvoller Männer in Berührung, die eine zwanglose Gesellschaft, das sogenannte Rütli, bildeten. In dieser Versammlung, zu der außer den Genannten noch Rudolf Gottschall, Titus Ullrich, Eduard Kossak, der geistvolle Zeichner Wilhelm Scholz, der Musiker Truhn, Philosophen, Theologen, Doctoren der Medicin, junge Adelige ohne Beschäftigung und einige gebildete Kaufleute gehörten, herrschte jene übermüthige Heiterkeit, die später sich als der sogenannte „höhere Blödsinn“ proclamirte. Man besprach hier mit kühnem Freimuth die öffentlichen Angelegenheiten, die hervorragenden Persönlichkeiten, die lächerlichen Erscheinungen der Gegenwart in einer eigenen Rütlizeitung, die von den Mitgliedern verfaßt und von dem genialen Scholz illustrirt wurde. Hier fand Kalisch die ersten Keime, die Urelemente des „Kladderadatsch“.

Es bedurfte aber erst des günstigen Augenblickes, der Erkenntniß des richtigen Zeitmoments, der nothwendigen Kühnheit und Schlagfertigkeit, der Ausdauer und eines höheren Gedankens, um diese zerstreuten Witzstrahlen, diese mehr persönlichen und localen Lichtfunken in einem Brennpunkt zu sammeln und ihnen eine universellere politische und sociale Bedeutung zu geben. Dazu war allein Kalisch berufen, der mit wunderbarem Instinct den kühnen Griff that und gleich in den erste Wochen nach der Märzrevolution den „Kladderadatsch“ in’s Leben rief, dessen erste Nummer er ohne jede fremde Beihülfe schrieb. Wie die Gartenlaube (Jahrgang 1867, Nr. 13) in der von ihr erzählten Geschichte des „Kladderadatsch“ ausführlich berichtet, war Kalisch nicht nur der Gründer des „Kladderadatsch“, sondern auch die Seele desselben, der Vater des höheren Blödsinns, der Schöpfer des berühmten „Zwickauer“, der Pathe von „Müller und Schulze“. Er hat außerdem den Quartaner „Karlchen Mießnik“ erfunden; die meisten prosaischen Artikel im Berliner Dialect, fast all die geistreichen Parodien und komischen Novellen, die „Sprüche der Weisheit“ verfaßt, den „Kladderadatsch-Kalender“ in’s Leben gerufen, den „Kladderadatsch zur Industrieausstellung in London“, sowie die ersten Bände von „Schulze’s und Müller’s Reisen am Rhein und im Harz“ geschrieben. Aber vor Allem gebührt ihm einzig und allein das Verdienst, ein Blatt von der großen Bedeutung wie der „Kladderadatsch“ geschaffen und im Verein mit Ernst Dohm, Rudolf Löwenstein und Wilhelm Scholz auf seine jetzige Höhe gebracht zu haben.

Trotz dieser großen Verdienste und der ihm immer mehr zu Theil werdenden Anerkennung bewahrte sich Kalisch eine seltene Bescheidenheit. Er fühlte die Lücken seiner mangelhaften Bildung, die er durch einen ehernen Fleiß, durch unablässiges Studium und durch den Umgang mit bedeutenden Männern auszufüllen suchte. Er selbst war eine jener tiefer angelegten Naturen, die ihr Bestes vor der Welt verbergen, wie die meisten echten Humoristen ernst und zur Schwermuth geneigt, mißtrauisch gegen sich und Andere, trotzdem ein zuverlässiger Freund seiner Freunde, dankbar für jede ihm erwiesene Gefälligkeit, leicht verletzt, aber eben so leicht versöhnt, reizbar und doch zugleich besonnen, klug und berechnend, aber weich bis zur Sentimentalität, ein seltenes Gemisch von scharfem Verstand und tiefem Gemüth. So erschien er mir im näheren Umgange, der sich mit den Jahren immer vertraulicher gestaltete. Ich war Zeuge seiner inneren und äußeren Kämpfe, seiner Aufregung, die ihm jede Aufführung eines neuen Stückes verursachte, seiner Triumphe, seiner steigenden Popularität, die dem schüchternen Dichter manche Verlegenheit bereitete. Trotz seiner Zurückgezogenheit sah er sich zuweilen gezwungen, aus seiner Verborgenheit hervorzutreten. Es fehlte ihm nicht an Einladungen, die er nicht gut zurückweisen konnte, obgleich sie nicht selten nur in der Eitelkeit der Gastgeber, den vielbesprochenen Theaterdichter bei sich zu sehen, ihren Grund hatten. So lud ein reich gewordener Parvenu den berühmten Verfasser der „Hunderttausend Thaler“ zu einem Diner. Bei Tisch, während der Champagner umhergereicht wurde, erhob sich der neue Kunstmäcen und klopfte an sein Glas, worauf allgemeine Stille erfolgte. Statt des erwarteten Toastes wandte sich der Wirth an seine überraschten Gäste mit den Worten: „Herr Kalisch, der in unserer Mitte weilt, wird jetzt die Güte haben, einen Witz zu reißen.“ Wir entsinnen uns nicht mehr, was Kalisch auf diese Unverschämtheit geantwortet hat.

Am liebsten verkehrte Kalisch mit seinen Büchern und mit einigen intimen Freunden, in deren Gesellschaft der sonst so zurückhaltende und fast schüchterne Humorist eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit, eine hinreißende Heiterkeit entwickelte, die um so schärfer mit seinem gewöhnlichen Ernst und gemessenen Wesen contrastirte. Ebenso fühlte er sich zu dem Volk hingezogen, zu tüchtigen Bürgern, mit denen er gerne bei einer „kühle Weißen“ in schlichter Unterhaltung saß, wobei er seine Studien im Stillen machte, Charaktere beobachtete und manchen Witz in sein stets bereit gehaltenes Notizbuch verzeichnete. Die meisten seiner so lebenswahren Gestalten verdanken diesen Beobachtungen ihren Ursprung und ihre Popularität. Hier fand er die Originale seiner komischen Figuren, die er fast immer der Wirklichkeit entlehnte. Ebenso eifrig sammelte er alle witzigen Redensarten, alle volksthümlichen Ausdrücke und populäre Melodien, um sie bei Gelegenheit anzuwenden. Sein Fleiß ging mit seinem Talent Hand in Hand und sicherte seine Erfolge. Er arbeitete mit einer peinlichen Gewissenhaftigkeit, änderte, strich und that sich nie genug. Er selbst gab den Componisten meist die Melodien zu seinen Liedern an und leitete die Proben seiner Stücke. Er war nicht nur Dichter, sondern zugleich Musiker und Regisseur. Ein feiner Tact, der ihn nur selten täuschte, ein ebenso dramatisch als musikalisch sicherer Geschmack, eine genaue Kenntniß der localen Verhältnisse, ein wunderbares Erfassen der momentanen Zeitrichtung, vor Allem aber sein ursprünglicher Witz, seine meisterhafte Behandlung des Couplets und Liedes zeichneten ihn vor allen neueren Possendichtern aus, obgleich ihm eigentliche Erfindungsgabe und poetische Schöpferkraft fehlte, weshalb er sich meist an fremde Vorbilder anlehnte oder in Gemeinschaft mit Andern arbeitete.

Obgleich sich nach und nach auch die materiellen Verhältnisse des Dichters so günstig gestalteten, daß er seinen eigenen Herd gründen und die Tochter seines bisherige Hauswirths, nach seinem erfolgten Uebertritt zum Christenthum, trotz mancher Schwierigkeiten endlich heimführen durfte, so datirte doch erst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_662.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)