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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Possendichter, der Begründer und Hauptmitarbeiter des ersten Witzblattes in der preußischen Residenz geworden. Ich war natürlich neugierig, meinen Freund wiederzusehn und aus seinem eigenen Mund diesen wunderbaren Schicksalswechsel zu erfahren. Zu diesem Zweck suchte ich ihn in seiner damaligen Wohnung auf, die vor dem Thor in dem sogenannten „Albrechtshof“, einer Besitzung seiner nachmaligen Schwiegereltern, lag. Mit alter Herzlichkeit kam er mir entgegen, und bald saßen wir in seinem comfortabel eingerichteten Arbeitszimmer und sprachen, während wir eine gute Cigarre rauchten, von unseren Erlebnissen, seitdem wir uns getrennt. Während ich nur wenig Bemerkenswerthes zu erzählen hatte, bot seine Vergangenheit eine Fülle der seltsamsten Begebenheiten und merkwürdiger Abenteuer, die er mir theils bei diesem ersten Besuch in Berlin, theils im ferneren Verlauf unseres intimen Verkehrs mittheilte.

Einige Monate nach meiner Abreise von Ratibor wurde die dortige Commandite aufgelöst und Kalisch von seinen Principalen nach Breslau in ihr Geschäft zurückberufen. Obgleich er Procurist desselben wurde, konnte er, an Selbstständigkeit gewöhnt, sich nur schwer mit der Stellung eines Untergebenen und, da er auch den Tisch im Hause hatte, noch schwerer in die Ordnung desselben finden, so daß er die Herrin von Neuem erzürnte, bis er sich endlich mit seinen Collegen feierlich von dem verhaßten Abendbrod lossagte. Dazu kam noch die alte Sehnsucht und der Wunsch, die Welt kennen zu lernen, jener unbewußte jugendliche Drang, das Glück zu suchen, vor Allem das instinctartige Bedürfniß nach bedeutenderen Eindrücken und Anregungen, als er in seinem Stande und in seiner schlesischen Heimath fand. So reifte in ihm der Entschluß, in Gesellschaft eines Freundes nach Paris zu gehen, eines jener zahlreichen Projectenmacher, der Rothschild einen neuen Finanzplan vorlegen wollte, während Kalisch seine zärtlich geliebte und um ihn besorgte Mutter durch die Erklärung zu beruhigen suchte, daß er in Paris die Fabrikation der französischen Luxusartikel studiren würde.

In Wahrheit lockten ihn ganz andere Wünsche und Hoffnungen; es war im Jahre 1844, wo während der letzten Regierungsjahre Louis Philipp’s Paris noch als die Metropole der Welt, als das Asyl der Freiheit, als der Mittelpunkt aller großen politischen und socialen Bewegungen, als das Pantheon aller großen Männer, als das Eldorado der Schriftstellerwelt, als der große Freudentempel aller Nationen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die deutsche Jugend übte, welche, angewidert von den beschränkten Verhältnissen, von der kleinlichen Polizeiwirthschaft des eigenen Vaterlandes, dort Freiheit, literarischen Ruhm und die höchsten Genüsse des Daseins zu finden hoffte.

Mit ähnlichen Aussichten und Gedanken kam auch Kalisch nach Paris, wo er anfänglich von seinen bisherigen Ersparnissen lebte, in der Absicht, später ein Engagement in irgend einem deutschen Handelshause anzunehmen. Vorläufig aber stürzte er sich in den Strudel des Pariser Lebens; er schlenderte auf den Boulevards umher, besuchte die Cafés und Vergnügungslocale, vor Allem die kleinen Theater, wo Kalisch so leicht bei keiner ersten Vorstellung fehlte. Hier legte er den Grund zu seiner bewunderungswürdigen Bühnenkenntniß; angeregt von dem verwandten Geist, eignete er sich fast unbewußt die Leichtigkeit, den schlagfertigen Witz, den glänzenden Esprit seiner französischen Vorbilder an, erwarb er jene Meisterschaft, womit er die eigenthümlich feine Grazie des Chansons, die scharfen Pointen und zugeschliffenen Spitzen des Couplets zuerst auf unsere deutschen Verhältnisse übertrug.

Zugleich erweiterte sich sein politischer Horizont, seine ganze Gedankenwelt, indem er im Verlauf der Zeit durch den Breslauer Socialisten Wolf mit verschiedenen deutschen Flüchtlingen und Parteiführern, wie Marx und Karl Grün, mit Dichtern, wie Herwegh und Heine, bekannt wurde und selbst dem unzugänglichen Proudhon näher trat. Leider aber wurden seine unbedeutenden Mittel schnell erschöpft, so daß er ernstlich mit Mangel und Noth zu kämpfen hatte, da die gehofften Hülfsquellen ihn im Stich ließen oder nicht lange vorhielten. Alle Bemühungen, als deutscher Correspondent oder in sonst einer angemessenen Branche ein Unterkommen zu finden, scheiterten meist an seiner unansehnlichen Persönlichkeit. Zuletzt sah er sich genöthigt, seine entbehrlichen Kleidungsstücke zu verkaufen, um nur das Leben zu fristen. Gerade in dem Augenblick, wo er einem Trödler das letzte seidene Taschentuch anbot, fuhr ein glücklicher College, den er in besseren Tagen gekannt, der Fürst Pückler-Muskau, in eleganter Equipage, mit Mohr und Jäger auf dem Bock, an ihm vorüber. Oefters hatte Kalisch den Fürsten, der ein Kunde seiner Breslauer Principale war, bedient und mit ihm gesprochen; jetzt wollte er ihn anrufen, ihm seine Noth klagen, um Hülfe bitten, aber der Muth fehlte ihm, die Scham hielt ihn zurück, und bevor er einen Entschluß faßte, war der Wagen mit dem Fürsten verschwunden. Dagegen wandte sich Kalisch an den berühmten Heine und fand bei dem vielfach verkannten, menschenfreundlichen Dichter die erwartete Theilnahme und Unterstützung, für die er seinem edlen Collegen bis zum Tode dankbar war.

In jener Zeit, wo er wie ein Ertrinkender nach jedem Strohhalme griff, las oder hörte er von einem wohlhabenden Herrn, der einen der Landessprache kundigen Reisebegleiter nach Spanien suchte. Kalisch meldete sich bei ihm, in der Hoffnung, bis zum Tage der Abreise noch so viel Spanisch zu lernen, um zur Noth als Dolmetscher dienen zu können. Leider war sein Wille besser als sein Talent, sich die fremde Sprache in so kurzer Zeit anzueignen, so daß er schon an der Grenze das erste Examen so schlecht bestand, daß seinem Begleiter nichts übrig blieb, als ihn wieder zu entlassen. Endlich blieb ihm keine andere Wahl, als mit blutendem Herzen nach Deutschland zurückzukehren, nachdem er noch in Straßburg ein vorübergehendes Engagement gefunden. Mit dem letzten Thaler in der Tasche langte Kalisch eines Tages in Baden-Baden an, außer Stande, seine Reise fortzusetzen. In dieser verzweifelten Stimmung, dem Selbstmord nahe, machte er die zufällige Bekanntschaft eines reichen Russen, der sich langweilte und ihm deshalb vorschlug, bei einer Partie Ecarté ein Glas Wein mit ihm zu trinken. Da sich Kalisch schämte, seinen Mangel an Geld einzugestehen, so nahm er das Anerbieten an, ohne jedoch nach der Höhe des Einsatzes zu fragen. Nachdem Beide mehrere Partien gespielt und einige Flaschen geleert, erklärte der im Verluste befindliche Russe, aufhören zu wollen, indem er zugleich fünf Napoleonsd’or auf den Tisch legte, die Kalisch anzunehmen zögerte, bis er zu seinem Schrecken erfuhr, daß der Einsatz für jede Partie einen Gulden betragen habe. Berauscht von seinem Glücke und dem genossenen Weine, folgte Kalisch seinem Begleiter zur Bank im Cursaal, wo er sich verführen ließ, ein Goldstück im Trente-et-un zu setzen. In kurzer Zeit gewann er hier eine verhältnißmäßig große Summe, die ihn aus aller momentanen Verlegenheit riß und ihn noch in den Stand setzte, eine ihm höchst drückende Ehrenschuld abzutragen.

Bald jedoch sah er sich von Neuem gezwungen, ein Unterkommen zu suchen, das er zunächst in einem Berliner Speditionsgeschäfte fand, wo er einige Zeit wieder Ballen verlud, Kaufmannsgüter expedirte und Rechnungen schrieb. In den Mußestunden bearbeitete er französische Vaudevilles für die deutsche Bühne, die jedoch kein Theater aufführen wollte. Immer entschiedener machten sich seine literarischen Neigungen geltend, so daß er sich veranlaßt fand, seine bisherige Stellung wieder aufzugeben und als Hülfsredacteur dem bekannten witzigen Schriftsteller Eduard Oettinger in Leipzig beizustehen. Bald jedoch trat er wieder unschlüssig in die Wechselstube eines jungen, mit ihm noch von Breslau her befreundeten Banquiers, der sich mit äußerst geringen Mitteln damals erst etablirt hatte. Während der zukünftige Rothschild die von seinen Kunden gewünschten Werthpapiere, die sein eigener Geldschrank leider nicht enthielt, bei einem benachbarten, besser situirten Collegen sich borgte, hatte Kalisch die Aufgabe, den Wartenden durch seine Unterhaltung die Zeit zu vertreiben. Da er auch als Banquier nicht seine Rechnung fand, so kehrte er wieder zu den verlassenen Musen zurück. Er bezog mit dem durch seine Reise nach Japan bekannten volkswirthschaftlichen Schriftsteller Dr. Maron zusammen eine Wohnung, und Beide, die sich in gleich trauriger Lage befanden, vereinten ihr Talent, um ein Trauerspiel zu dichten, wobei sie sich durch den Genuß von starkem schwarzem Kaffee und heißem Rum anfeuerten, um die gräßlichsten und blutdürstigsten Scenen zu erfinden.

Aber nicht die ernste Melpomene, sondern die heitere Thalia sollte endlich seine Wünsche krönen. Nicht jene blutige Tragödie, welche die undankbaren Theaterdirectoren zurückwiesen, sondern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_659.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)