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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

aus frischen Ameisenpuppen bestehende Futter reichlich mit Mehlwürmern beschickt und außerdem noch Fleisch und Zucker in besonderen Näpfen beigegeben, um Fliegen anzulocken. Der erste Laut der Jungen erregte die Aufmerksamkeit der Sprachmeister oder Gartensänger. Sie umflatterten einige Male das Nest und begannen sofort mit der Atzung der Waisen. Aber nicht sie allein – auch zwei Sumpfschilfsänger, eine Bachstelze, ein Trauerfliegenfänger übernahmen gleichzeitig die Pflege, jagten eifrigst auf alle Fliegen, welche in den Käfig kamen, lasen die Mehlwürmer, pickten die Ameisenpuppen auf, sparten sich den Bissen am eigenen Munde ab, kurz erfüllten alle Elternpflichten mit vollster Hingebung. Und im Verlauf von wenigen Tagen thaten die Genossen des Käfigs, Grasmücken, Laubsänger, Roth- und Blaukehlchen, es ihnen gleich; die Jungen gediehen zusehends und verließen rechtzeitig das Nest.

Es leuchtet ein, daß diese Mildherzigkeit dem Liebhaber, welcher sich junge Vögel erziehen, will, zum größten Vortheile gereicht. Auch dem besten Meister in der schwierigen Kunst, Nestvögel groß zu ziehen, will dies nicht immer gelingen, und deshalb eben sieht man einzelne, höchst anziehende Arten so selten im Käfige. Uebergiebt man solche Nestlinge barmherzigen Samaritern der eigenen Classe, so kommt man regelmäßig zum Ziele; denn diese erfüllen ihr Amt mit ungleich größerer Gewissenhaftigkeit und Sorgsamkeit, als der beste menschliche Pfleger, und gewöhnen ihre Ziehkinder unvermerkt an die Gefangenschaft und ihre Entbehrungen.




Ein deutsches Heiligthum und sein Untergang.


„Anmuthig Thal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste!“

Mit diesen Worten begrüßte der Altmeister Goethe die ihm lieb gewordene Gegend von Ilmenau in Thüringen, als er im August 1783 wieder einmal dort

Das Goethehäuschen auf dem Kickelhahn.

Einkehr hielt. Das Gedicht „Ilmenau“, welches mit obigen Worten beginnt und welches dem fürstlichen Freunde Karl August zum Geburtstage, den 3. September 1783 gewidmet war, entstand dort in der zweiten Hälfte des August jenes Jahres. Wir ersehen daraus, wie vielfache und theure Erinnerungen den Dichter an jene Gegend fesselten, in welche er so oft schon „mit wechselndem Geschicke“ zurückgekehrt war. Acht Jahre waren es her, seit er, nach Weimar übergesiedelt, jene liebliche Gegend kennen gelernt hatte, acht unruhige, rastlos durchstrebte, zum Theil in leidenschaftlichem Strudel durchbrauste Jahre. Wohl manchmal während dieses Zeitraumes mahnte der Genius den Dichter zur Einlenkung in andere Bahnen. Schon in jenem ersten Nachtliede vom 12. Februar 1776 „Der du von dem Himmel bist“ seufzte er auf: „ach, ich bin des Treibens müde!“ und sieben Monate, nachdem er in Weimar als Geheimer Legationsrath angestellt worden war, schrieb er in demselben Sinne an Lavater, wie er sich „in dem bunten Treiben der Welt, unter Verdruß, Hoffnung, Liebe, Abenteuern, Haß, Albernheiten, Thorheit, Flachem und Tiefem, unter Festen, Tänzen, Schellen, Seide und Flittern“ bewege. Dazu kam die Sorge um das Gedeihen des jungen Fürsten, der sich ihm ganz hingegeben, und um die schwere Last der Berufsgeschäfte, welche jener auf seine Schultern gelegt hatte.

Da trat am 2. Februar 1783 ein glückliches, ersehntes Ereigniß für Karl August ein, die Geburt eines Erbprinzen, des nachmaligen Großherzogs Karl Friedrich, welches einen wichtigen Wendepunkt auch für Goethe mit sich brachte. Denn wenn Karl-August im Februar desselben Jahres an Merck schrieb: „Sie haben Recht, wenn Sie sich mit mir – (über die Geburt des Erbprinzen) – freuen; wenn je gute Anlagen in meinem Wesen waren, so konnte sich, der Verhältnisse halber, bis jetzt kein früherer Punkt finden, wo sie zu verbinden waren;“ wenn er dann weiter fortfährt, daß er nun einen festen Anhaltspunkt für sein Streben gewonnen habe und „mit Hülfe Goethe’s und des guten Glückes“ womöglich etwas Tüchtiges erreichen werde, wenn er dann schließt: „wünschen Sie mir Glück zu diesem Vorhaben!“ so erhellet klar, wie die Folgen jenes Ereignisses in das Schicksal Goethe’s hineingriffen. Das hochherzige Streben, welches die beiden großen Menschen von jeher verband, wurde fortan durch hohen heiligen Ernst bestimmt. Der Blick richtete sich mehr vom Genusse der Gegenwart ab, dem Gewinn der Zukunft zu.

In der Bethätigung solchen Strebens drang Goethe’s Genius immer mehr hindurch, er sah immer mehr ein, daß er ganz zum Dichter bestimmt sei, diese Erkenntniß aber weckte um jene Zeit schon die stille Sehnsucht nach dem Lande der Kunst, nach Italien, immer mehr und mehr.

In solcher Stimmung ist „Ilmenau“ geschrieben. An Wald und Berg richtet der Dichter die Worte:

„Verjüngt euch mir, wie ihr es oft gethan,
Als fing’ ich heut ein neues Leben an.“

Und er sieht sich erhört:

„Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume;
Sie schmeicheln mir und locken alte Reime,
Mir wieder selbst, von allen Menschen fern,
Wie bad’ ich mich in euren Düften gern!“

„Er fühlte um jene Zeit, daß sein gährendes Dichtergemüth sich zu beruhigen und zu klären begann.“ (Viehoff, Erläuterungen.)

Nächst der glücklichen Wendung in den äußeren Lebensverhältnissen war es die besänftigende, heilende Kraft jener herrlichen Natur, welche solche Wirkung hervorgebracht hatte. Wie ein Kind in seines Herzens Beängstigung, sich vertrauensvoll an die Brust der Mutter wirft und das sanfte Mutterwort Ruhe und Trost in die bebende Seele gießt, so warf sich Goethe in die Arme der Mutter Natur: er eilte in seine lieben Ilmenauer Berge. Und sie waren ihm hold, fern von den Menschen fand er sich selbst wieder. Von Tag zu Tag setzte sich jenes beseligende Gefühl immer mehr in der Dichterbrust fest. Am 7. September 1783 schrieb er das wunderbar schöne, innige „Nachtlied“:

„Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh’.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vögel schlafen im Walde;
Warte nur, balde
Ruhest du auch.“

Klingt es nicht wie süßinniger Ton aus Muttermund, dem beängstigten Liebling zugeflüstert? Welche Zuversicht in dem aus Seelenruhe geborenen Trostworte am Schluß des Liedes!

So kennzeichnet dieses einfache Lied eine bedeutsame Wandlung in Goethe’s Leben und deshalb eine bemerkenswerthe Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. –

Es war, wie erwähnt, in der Nacht des 7. September 1783,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_656.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2018)