Seite:Die Gartenlaube (1872) 622.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Jetzt wurde das Signal zur Rückfahrt aufgezogen und das Boot steuerte, durch die kräftigen Ruderschläge der wackeren Matrosen bewegt, dem Dampfer entgegen, von dessen Fahnenstange die deutsche Reichsflagge in dem brausenden Winde flatterte, gleichsam andeutend, daß hier unter dem Schutze des deutschen Reiches und in seinem Namen eine edle und heldenmüthige Rettungsthat ausgeführt werde. Aber noch war die Gefahr nicht vorüber, noch waren Retter und Gerettete in der Gewalt der treulosen Elemente, gegen welche die Ersteren mit aller Geschicklichkeit und Kraft ankämpften. Der Dampfer wurde in einer Weise gesteuert, um dem Boote möglich zu machen, auf der Leeseite sich dem Schiffe zu nähern, welches durch seinen Curs dem Boote zugleich entgegenzukommen wußte. Alle Vorbereitungen zum Empfange der mit den Wogen kämpfenden Leute waren gemacht. Die Strickleiter nebst zahlreichen mit Schlingen versehenen Tauen hing über der Brüstung des Schiffes herab, ein Tau, zum Wurf bereit, war in der geübten Hand eines Matrosen, die Flaschenzüge zum Aufziehen des Bootes waren gerichtet, und mit klopfendem Herzen und ängstlichem Blicke beobachteten die Schiffsbewohner jede Bewegung des Bootes. Da erschien es eben auf der Spitze einer haushohen Welle, dann war es wieder hinabgetaucht in das Wogenthal und den Blicken entzogen; aber mochten auch die Wogen kommen, von welcher Seite sie wollten, dem scharfen Auge Eduard Schuster’s entging keine Bewegung des aufgeregten Meeres und mit kundiger Hand lenkte er das Steuerruder, so daß jedesmal die Welle der Spitze des Boots begegnete.

Eine volle Stunde dauerte der Kampf der Bootsmannschaft mit den hochgehenden Wogen, ehe es gelang, dem Dampfer nahe genug zu kommen, denn mehr als einmal, wenn die Zuschauer schon glaubten, daß der Sieg errungen sei, schleuderte eine heranbrausende Welle das Rettungsboot wieder weit zurück in seinem Laufe und der schon einmal zurückgelegte Raum mußte abermals durchrudert werden. Endlich kam das Boot vom Bug des Dampfers her an die Leeseite, und jetzt galt es die vereinigte Kunst und Anstrengung des Steuermannes und des Bootsmannes, das Boot vor dem Anprallen an den Dampfer und so vor Vernichtung zu bewahren. Und es gelang! Mit welcher Hast die geretteten Schiffbrüchigen die herabhängenden Taue um den Leib schlangen und dann die Strickleiter zu gewinnen suchten! Man brauchte nur dieses anzusehen und man konnte fühlen, was diese Armen seit vierundzwanzig Stunden gelitten hatten!

Unter dem lauten Hurrah der Passagiere stieg einer der Geretteten nach dem andern über die Verschanzung des Dampfers; ihnen folgten die Matrosen, und nun wurde das Boot, in welchem sich noch Lieutenant Schuster und Bootsmann Schee befanden, heraufgewunden und auch diese sprangen, herzlich und dankbar begrüßt, auf den Boden des sicheren Dampfers, der jetzt, als wäre nichts vorgefallen, ruhig seinen westlichen Curs wieder aufnahm, ruhig, denn kaum eine Stunde später ließ der Sturm, aus dessen Wuth deutsche Seemannstüchtigkeit fünfzehn Menschenleben gerettet hatte, nach, und schon am nächsten Tage war das Meer so glatt, wie ich es noch nie auf einer meiner Fahrten gesehen habe.

Mit welchen Gefühlen mag der Capitain von der britischen Bark „Lady Love“ noch einen Blick auf sein von den Wogen umhergeschleudertes, dem Untergang geweihtes Fahrzeug geworfen haben? Das Schiff war, mit Welschkorn geladen, von Montreal in Canada nach Liverpool bestimmt. Durch den Sturm war das Getreide auf die eine Seite des Schiffes geschoben und dadurch das Gleichgewicht zerstört worden. Die wüthende See schlug über Bord, und die einzige Rettung schien in dem Kappen der Masten zu liegen. Aber auch dieses Mittel half nicht, die Barke wieder aufzurichten. Die wüthende See ging über sie hinweg, drang in Cabine und Matrosenhaus, setzte die Nahrungsmittel unter Wasser und versperrte den Zugang zu dem Trinkwasser, so daß die armen Leute während achtundvierzig Stunden keinen Tropfen zu trinken und nur ein wenig Brod zu essen hatten. In diesem Zustande wurden sie aufgefunden. Durchnäßt wurden sie aus dem Meere gezogen und in das Boot aufgenommen, wo sie stundenlang verbringen mußten, naß, hungrig, durstig, immer noch in Lebensgefahr schwebend, von einem kalt und schneidend blasenden Winde durchschauert und mehrmals von einem heftigen Regen überschüttet, bis sie endlich ihren Fuß auf den sicheren Boden des Dampfers gesetzt hatten. Der Capitain der „Holsatia“ ließ in liberalster Weise den Schiffbrüchigen deutsche Gastfreundschaft zu Theil werden, und die Passagiere thaten auch das Ihrige, um diese Unglücklichen mit dem Nöthigsten zu versehen. Den wackeren Männern aber, welche ihr Leben so muthig daran wagten, ihren schiffbrüchigen Brüdern Hülfe und Rettung zu bringen, und die durch ihren Heldenmuth die dreifarbige Flagge ehrten, welche ihnen bei ihrem Rettungswerke aufmunternd zuwehte, ein anerkennendes Denkmal in allen denjenigen Theilen des Erdenrundes zu setzen, wohin die Gartenlaube gelangt, das war die Absicht des Verfassers dieser Zeilen.




Pariser Bilder und Geschichten.


Vier Häuser.


Von Ludwig Kalisch.


In Paris ist man zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß man sich um seine Nachbarschaft bekümmern könnte. Jeder geht hier seinen eigenen Gang, oder vielmehr: Jeder rennt hier seinen eigenen Weg, ohne nach rechts oder links zu blicken, und kämpft unablässig den Kampf um das Dasein. Man wohnt hier oft jahrelang in einem Hause, ohne den Nachbar zu sehen, von dem man nur durch eine dünne Wand getrennt ist, und es ereignet sich häufig genug, daß man in einer Abendgesellschaft die Bekanntschaft eines Mannes macht, mit dem man, ohne es zu wissen, seit Jahren dasselbe Stockwerk bewohnt. Indessen ist doch eine Weltstadt ebensowohl wie eine Provinzialstadt aus Straßen zusammengesetzt, und wer längere Zeit eine und dieselbe Straße bewohnt, sieht doch immer dieselben Gesichter und kennt nach Jahr und Tag, wenigstens der Physiognomie nach, die Nachbarn und die von ihnen bewohnten Häuser. Dies gilt freilich nur von kleinen, wenig belebten Straßen, wie der Rue St. Georges, wo ich über ein halbes Menschenalter wohne. So klein indessen diese Straße ist, so ist sie doch in jüngster Zeit viel genannt worden. Auch kann sie sich rühmen, den bedeutendsten Mann Frankreichs zu ihren Bewohnern zu zählen, oder wenigstens bis vor Kurzem gezählt zu haben. Bis zum Ausbruch des letzten Krieges verließ er täglich sein freundliches Hôtel an der Ecke des Platzes Fontaine St. Georges, um seine Visiten zu machen. Der kleine Alte mit dem klugen Gesicht und dem schaukelnden Gange durchschritt niemals die Straße, ohne jeden Augenblick einem Bekannten zu begegnen und mit ihm zu plaudern. Oft sah man ihn mit seinem Jugend- und Busenfreund Mignet im Gespräch begriffen, und die Nachbarn riefen, so oft sie ihn erblickten, mit einem gewissen Stolze: „Voilà Monsieur Thiers!“

Thiers bewohnt nicht mehr die Rue St. Georges und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ihm die Communards sein Hôtel eingerissen. Ueber den Trümmern des Hôtels liegt jetzt eine betheerte Decke von Segeltuch, um dieselben vor Fäulniß zu schützen, und statt der glänzenden Equipagen, die sonst vor dem Eisengitter des Hauses hielten, sieht man jetzt gaffende Fremde und unter ihnen besonders Engländer, die auf den Continent kommen, um die „Ruins of Paris“ in Augenschein zu nehmen. Die blonden Söhne und Töchter Albions besuchen jetzt die Hauptstadt Frankreichs fast ausschließlich, um die hinterlassenen Werke der Communards zu besichtigen.

Das Hôtel des Herrn Thiers ist in einen Schutthaufen verwandelt; aber die Bäume im Garten des Hôtels grünen und blühen wie ehedem. In diesem Garten, wo der Besitzer sich so gern erging, wurden im Mai vorigen Jahres blutige Schauspiele aufgeführt. Hier fiel nämlich gar mancher Communard von den Kugeln der racheschnaubenden Versailler. Das Blut der Hingerichteten bespritzte die Blumen und Blüthen, und statt des Amselschlages hörten die Nachbarn das Knattern der Chassepotgewehre und das Geröchel der Sterbenden. Die Nachbarschaft sah von den oberen Stockwerken die furchtbaren Scenen in diesem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_622.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)