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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

über der Küste steht, werfe ich den Anker aus. Er schlägt tief und fest in eine Düne ein, der „Neptun“ aber fällt blitzschnell auf einen Hügel nieder, zum Schrecken einer Schafheerde, welche hier noch in später Stunde ein paar magere Grashalme suchte.

Wenige Augenblicke darnach nähern sich einige Männer, an ihrer Spitze der unerschrockene Maillard, der Unterwächter des Leuchtthurms auf Cap Gris Nez. Er hat einen Schiffbruch gewittert und eilt der Pflicht getreu den Passagieren zu Hülfe. Was thut’s, daß er seine Füße an dem scharfen Geklipp wund gerissen? Er springt die Düne hinab, stürzt sich auf die Kabel, welche Duruof ihm zuwirft, und zwei brave Fischer, die ihm gefolgt, thun desgleichen. Noch zwar schwankt der Ballon hin und her, denn der Wind weht hier mit voller Kraft. Aber endlich gelingt es der vereinigten Anstrengung, ihn zu fesseln, und indem das Gas vollends ausströmt, gelangen wir wohlbehalten zur Erde. Wir befinden uns bei den sogenannten Mont-Aigufelsen. Es ist Abends acht Uhr dreißig Minuten.

Maillard erzählt uns indessen, daß er schon lange die kleine Birne am Horizonte habe schweben sehen; er habe sie anfangs nur für einen jener kleinen leeren Ballons gehalten, die man ja wohl je zuweilen zur Belustigung steigen lasse. Erst als er uns in der Gondel entdeckt, sei er seinen Irrthum gewahr worden und habe nun geglaubt, wir seien wie Blanchard und Green über den Canal gekommen.

„Erforderlichen Falls,“ sagte der treu- und starkherzige Mann, „werde ich mit dem kleinsten Rettungsboote unbedenklich auf’s atlantische Meer hinaus steuern; aber nicht um eine Million möchte ich in die Gondel Eures Ballons steigen.“

Zugleich erzählte er uns, daß auf der andern Seite des Caps, wenige Hundert Schritte von den Mont-Aiguklippen, das Grabmal eines Luftschiffers sich befinde. Es ist Pilâtre’s Grab, der vor beinahe einem Jahrhundert auf eben diesem Felsen zerschellte. Am andern Morgen besuchten wir es. Am einsamen Strande ein schlichter Stein. Das war Alles und uns doch genug, um mit bewegter Seele des Mannes zu gedenken, welchen Muth und Liebe zur Wissenschaft in den Tod geführt.

Während unserer Landung war es bereits sehr dunkel geworden. Aber eben als wir noch damit beschäftigt sind das Netz des Ballons abzunehmen und diesen selbst zusammenzufalten, erscheint bereits die Behörde in Gestalt eines Zollwächters, welcher nach unseren Pässen fragt und sich anschickt, unsere Gondel und unser ganzes Gepäck zu untersuchen. Es fehlte wenig, so stieg der Dienstbeflissene auch in den Ballon; denn wer kann wissen, ob nicht irgend welche verbotene Waare unter diesen Falten steckt?

Ich lasse Duruof und die Fischer ihre Arbeit im Finstern weiter besorgen und eile nach dem Leuchtthurme, um zur Beruhigung der Unseren eine telegraphische Depesche nach Calais zu schicken. Der Telegraphist schlief schon, stand jedoch sofort auf und fertigte die Botschaft ab. Kaum eine Viertelstunde später erhielt ich auch schon frohe Antwort von den ihrer schweren Sorge enthobenen Freunden.

Ich kehrte sofort zu meinen Gefährten zurück, der Neptun liegt zusammengefaltet in der Gondel, und von Bauern, Seeleuten und Fischern begleitet, wandern wir nun langsam über die Dünen dem bescheidenen Dorfe zu, das uns gastlich aufnimmt. Es heißt Audingham. Nachdem uns zuvörderst von dem Maire ein Zeugniß über Art, Ort, und Zeit unserer Landung ausgestellt worden, und das kleine Gelage, welches unsere biederen Helfer und Führer um uns versammelt, sich bis in die Nacht hinein verlängert hat, suchen wir endlich die wohlverdiente Ruhe. Ein kleines Zimmer mit drei Betten wird uns überwiesen. Draußen braust der Wind, draußen rauscht das Meer; aber hier ist’s heimlich und still, und wir werden nur um so süßer schlafen. Ich besteige das seltsam hohe Lager; es hat gar harten Grund, daß ich glauben möchte, es sei mit Kieseln vom Meeresstrande ausgestopft. Indeß, ich bin müde und werde dennoch schlafen. Vergebliche Hoffnung! Sobald das Licht ausgelöscht ist und ich die Augen geschlossen habe, überfällt mich eine Legion nächtlicher Insecten. Jeder Widerstand ist eitel, denn sie gehören offenbar zu jener Classe sprungfertiger, flüchtiger Parasiten, welche stolz des Flügels entbehren dürfen. Sind sie vielleicht eifersüchtig auf die Luftschiffer?

Duruof und Barret wenigstens ergeht es nicht besser als mir. Wir zünden Lichter an und plaudern, und nach einem neuen, gleich fruchtlosen Versuche zu schlafen, räumen wir unsere Betten, um draußen unter den steilen Strandklippen von Gris Nez den Tag zu erwarten. Und wohl lohnt es sich um einen solchen Gang. Denn der großartige Bau dieser phantastisch übereinander gethürmten Felsenmassen gehört jedenfalls zu den imposantesten und malerischsten Küstenbildern Frankreichs. Hierauf begeben wir uns an den Bergungsort des Ballons, und um fünf Uhr Morgens führt ein Miethkarren den Neptun nach dem Bahnhofe von Marquise, so daß wir gegen zwei Uhr Mittags in Calais wieder anlangen, wo eine zahlreiche Menschenmenge uns erwartet. Da jedoch der Schnellzug nach Paris erst um Mitternacht abgeht, so bleibt uns hier noch ein halber Tag, und wo könnten wir denselben besser beschließen, als auf dem Hafendamme, einem der längsten und schönsten, die es in Frankreich giebt! Das Meer ist aufgeregt, und der Boden zittert unter den Schlägen der heranstürmenden Wogen. Aber dort strebt muthig das Schiff hinaus, hier zu unseren Füßen schlüpft ein keckes Boot vorüber, und da wieder am Horizont verkündigt die aufwirbelnde Rauchsäule die Ankunft eines langerwarteten Dampfers. Wie das Abenddunkel herabsinkt, entfalten sich andere Scenen. Das Meer phosphorescirt. Es hat sich in eine Zauberschale verwandelt, in der ein märchenhaftes Licht auf- und abwogt. Die Wellen säumen sich mit feurigen Streifen, und wo der Kiel das Wasser tiefer aufwühlt, folgt ihm eine lange strahlende Schleppe.

Man weiß, daß es Myriaden mikroskopischer Thiere sind, welche den Ocean mit diesem wunderbaren Schimmer erfüllen. Aber warum kommen diese organisirten Atome heute an die Oberfläche herauf, während sie sich gestern in den Tiefen verborgen hielten? Besteht in der That, wie manche Beobachter glauben, eine gewisse Wechselwirkung zwischen ihrem Erscheinen und der Veränderung des atmosphärischen Drucks? Sind sie wirklich, wie Decharme vermuthet, Vorboten der Stürme? Ich glaube nicht, daß bis jetzt hierauf eine verlässige Antwort gegeben werden könne. Jedenfalls aber bergen jene unermeßlichen flüssigen Regionen nicht weniger Geheimnisse, als der luftige Ocean über uns.

Während der Eisenbahnfahrt nach Paris erwog ich in Gedanken noch einmal meine erste Luftreise; denn sie war mir wenigstens lehrreich genug. Wir hatten das seltene Glück gehabt, auf unzweideutige Weise uns zu überzeugen, daß in der Atmosphäre zwei völlig entgegengesetzte Strömungen unmittelbar übereinander vorhanden sein können, und es war uns gelungen, diesen Doppelstrom mit Erfolg zu benutzen. Hatte uns der eine hinaus auf die See getrieben, so führte uns der andere wieder zum Lande zurück, und in dem kurzen Zeitraume von drei Stunden war ein Weg von fünfundzwanzig Lieues oder fünfzehn geographischen Meilen glücklich zurückgelegt worden.

Wird man es übereilt nennen, wenn ich hieraus folgere, daß in Bezug auf Erforschung und Benutzung der Windströmungen noch ein weites Feld zu erobern bleibt, und daß diese Eroberung wiederum vor Allem der Luftschifffahrt vorbehalten ist? Ich wenigstens bezweifle nicht, daß die Atmosphäre sehr häufig auf die vorher beschriebene Weise in gewisse Schichten geschieden ist, deren jede ihre eigenthümliche Richtung verfolgt, und daß der Luftschiffer so gut wie der Vogel, wenn er steigend und sinkend die günstige Strömung sucht, seine Bahn zu bestimmen vermag. Hätte uns bei Calais nicht die Nacht überrascht und wäre es uns somit möglich gewesen das dort ausgeführte Manöver öfter zu wiederholen, so würde vielleicht der Neptun, nach Art eines Segelschiffs, je nach den verschiedenen Höhen zwischen zwei entgegengesetzten Richtungen lavirend, allmählich die Küste Englands erreicht haben. Die Frage der Luftströmungen ist die Lebensfrage der Aëronautik. Was wissen wir über den großen Mechanismus des atmosphärischen Kreislaufs? In Wahrheit fast nichts, und wie kann es anders sein, so lange die Meteorologie sich darauf beschränkt, die Bahn der Winde unmittelbar über der Erdoberfläche zu verfolgen, wo tausend örtliche Störungen die große Aufgabe verwirren? Wer darf es für eine Unmöglichkeit erklären, daß die Aëronautik auch in dem Luftmeere ein wirkliches System der Circulation mit ihren Venen und Arterien, ihren periodischen Fluthen, ihren Golfströmen nachweist, und daß das Luftschiff dann ihrem Gange ebenso sicher folgen werde, wie das Boot, welches auf der Welle eines Flusses dahingleitet?




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