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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

die ihm vorhin der Schmerz ausgepreßt, hatte die Scham längst aus dem starren Auge getrocknet; die Scham, durch seine Haltlosigkeit diese Scene hervorgerufen zu haben, in der er nach acht langen qualvollen Tagen nun zuletzt doch die würdelose Rolle des Dritten gespielt hatte, um zu erfahren, daß sie diesen Mann noch immer liebe, daß ihr Unglück darin bestehe, sich von diesem Manne nicht so geliebt zu wissen, wie sie ihn liebte, wie sie geliebt sein wollte. „Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“ Mit welch verzweifeltem Tone sie das gerufen! wie die Angst, ein Ja zu hören, ihr schönes Gesicht entstellt hatte! – „Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“ Ja wohl, seine Freundschaft, mit der er ihr vor Jahren schon lästig gewesen war, mit der er ihr heute noch ebenso lästig fiel, nur daß er sich nicht mehr wie damals hinter der Maske der Freundschaft bergen konnte, nur daß er nicht einmal mehr den armseligen Trost hatte, unbemerkt und unbeachtet sich davonschleichen zu können, wie er in jener Nacht davongeschlichen war.

Hier am Waldesrande, im Dunkel der Nacht unter der großen Buche hatte er gelegen und das Moos zerrauft und sich und die Welt verflucht, weil er im blassen Schein des Mondes zwei glücklich Liebende gesehen! Jetzt schien die Sonne grell auf das Schmerzenslager, als wollte sie ihm zeigen, wie kindisch damals seine Schmerzen gewesen und daß er seine Verzweiflung bis zu dieser Stunde hätte aufsparen sollen. Sie war ja glücklich gewesen! Gotthold wollte lachen, aber es war nur ein Schrei, der aus seiner gequälten Brust kam, ein dumpfer, stöhnender Schrei wie eines verwundeten Thieres. So hatte er geschrieen, als er in jener Nacht auf demselben Wege durch den schwülen Wald schwankte und die Bäume im Dämmerschein des Mondes wie höhnende Gespenster ihn umtanzten. Jetzt standen sie in eherner sonnegetränkter Ruhe da und schienen zu sagen: was geht uns Dein selbstgeschaffener Jammer an, Du Thor!

Und was geht mich Dein Elend an! sagte das Meer, das jetzt, als er aus dem Walde auf die Uferhöhe trat, in schwärzlicher Bläue vor ihm sich hindehnte, regungslos, wie erstarrt in unnahbarer Majestät. So hatte er es einst gesehen an einem Nachmittage über die Felsenklippen von Anacapri und es hatte ihm zu einem seiner besten Bilder das Motiv gegeben; aber jetzt dachte er daran nur flüchtig, wie durch die brennende Stirn eines sonnegequälten Wanderers auf staubiger Landstraße die Erinnerung schießt des kühlsten Waldesschattens und des murmelnden Quells, an dem er unlängst gesessen.

Unter ihm in der kleinen, mühsam in den steinigen Strand gegrabenen Bucht lagen die Boote, die dem Gute gehörten. Er hatte das kleinere in diesen Tagen wiederholt zu Ruderfahrten an der Küste hin benutzt und trug den Schlüssel zu der Kette, mit welcher sie an die Pflöcke befestigt waren, in der Tasche.

Breiter und breiter wurde der Schatten, der vom Ufer her auf die See fiel, und überholte Gotthold, während er mit kräftigen Schlägen quer über die weite Bucht zu rudern begann, an deren äußerstem südlichen Haken das Strandhaus, in diesem Augenblick hell von der Sonne beleuchtet, lag. Aber der Schatten kam nicht vom Ufer, sondern von einer schwarzen Wolkenwand, die über dem Ufer gleichmäßig breit, langsam heraufstieg, und deren scharfer oberer Rand in unheimlichem Feuer glühte und glänzte. Es war ein schweres Gewitter, das vom Lande her heraufzog. Mochte es kommen! Gotthold sehnte sich, aus dieser Gewitterschwüle seiner Seele aufathmen zu können im Sturm der Elemente. Da zuckte ein rother Flammenstrahl über die schwarze Wolkenwand hin und noch einer und ein dritter; und mit unheimlicher Eile steigt und steigt die Wolkenwand, alles Licht vor sich her auslöschend am Himmel und am Ufer und auf dem Meere, über das jetzt in pfeifenden Stößen der Wind saust, die bis dahin spiegelglatte Fläche furchend und bald in schäumenden Wellen zerwühlend.

Wellen und Wind trafen Gotthold’s kleines Boot von der Seite und trieben es wie im Spiel vor sich her, seewärts, auch als er jetzt, die Gefahr wohl erkennend, nach dem Ufer hielt. Er bemerkte es nach wenigen Schlägen, daß seine einzige Hoffnung darin lag, es werde das Gewitter so schnell vorübergehen, wie es heraufgekommen.

Aber es schien, als hätten Dämonen der Finsterniß sein frevles Wort gehört und wollten nun ihr Opfer haben. Immer breiter deckte sich nächtiger Schatten über die brausende See; nur am fernsten Horizonte glänzten noch ein paar weiße Segel und jetzt tauchten auch sie in die Nacht; immer höher schäumten die Wellen auf, und immer schneller trieb das Boot vom Ufer ab, auf dem bereits für Gotthold’s scharfes Auge das weiße Kreideufer mit dem dunklen Wald, der es krönte, in einen grauen Streifen zusammenlief. Es war gar kein Zweifel mehr, daß er in die offene See hinausgetrieben wurde, wenn nicht, was jeden Augenblick geschehen konnte, eine Welle das Boot kentern machte; ja, es mußte als ein Wunder erscheinen, daß dies nicht bereits geschehen war.

Gotthold that kaltblütig, was er zu seiner Rettung thun konnte; er beobachtete sorgsam das Heben und Sinken jeder heranrollenden Welle und hielt, bald mit dem rechten Ruder, bald mit dem linken, bald mit beiden kräftig ausgreifend, das schaukelnde Boot scharf in dem Wind. Schlug es um, so kam Alles darauf an, ob es zugleich sank, oder auf der Oberfläche blieb. Im letzteren Falle war seine Lage noch nicht ganz verzweifelt; er konnte sich dann vielleicht noch stundenlang halten, um, wenn der Wind umsprang, entweder an das Land getrieben, oder draußen von einem vorübersegelnden Schiff aufgefischt zu werden; sank aber das Boot, so war er nach menschlichem Ermessen verloren. Er konnte jetzt keinen Moment die Ruder aus der Hand lassen, sich seiner Kleider zu entledigen, und in vollem Anzug bei solchem Seegang lange zu schwimmen, durfte er, ein so guter Schwimmer er war, nicht hoffen, umsoweniger, als er bereits zu spüren begann, daß seine Kraft, wie sorgsam er sie auch zu Rathe hielt, allmählich abnahm.

Allmählich anfangs und nun schneller und schneller. Er hatte vorhin die complicirtesten Ruderbewegungen mit Leichtigkeit ausgeführt, jetzt wurden sie den erstarrenden Händen, den erlahmenden Armen schwerer und schwerer. Enger und enger wurde es ihm um die Brust, dumpfer und dumpfer schlug das Herz, das Athmen wurde zum Keuchen, die Kehle war wie zugeschnürt; die Schläfen hämmerten, er mußte, kam, was wollte, eine Minute ruhen, die Ruder einziehen und das Boot treiben lassen.

Sofort fing das kleine Fahrzeug an, Wasser zu schöpfen; Gotthold hatte es vorausgesehen. „Es kann nun nicht mehr lange dauern,“ sprach er bei sich, „und was ist es denn auch? Wenn du für sie leben könntest, da verlohnte es sich der Mühe; aber so – wem stirbst du als dir? Da kann doch das Sterben nicht so schwer sein. Sie wird freilich denken: er hat den Tod gesucht, und er hätte mir das ersparen können. Es ist sehr ungalant von mir, so, als unbequeme Leiche an’s Land zu treiben, sehr ungalant und sehr dumm; aber es geht in einen Kauf mit dem Andern; und schließlich kann man doch eine Dummheit nicht theurer bezahlen als mit dem Leben.“

Immer wirrer drängten sich die Gedanken durch das betäubte Gehirn, während er, todesmatt, vornübergebeugt dasaß, auf die Ruder stierend, die er mechanisch mit den erstarrten Fingern umklammert hielt, und auf den schwankenden Bord des Bootes, der sich jetzt scharf von dem grauschwarzen Himmel absetzte und jetzt fußtief unter dem weißschäumenden Kamme der vorüberbrausenden Welle lag. Und dann sah er das Alles nur noch wie einen verschwimmenden Hintergrund, von dem sich in voller Klarheit ihr Gesicht abhob, aber nicht mit dem schmerzzuckenden Munde und den starren Medusenaugen, sondern verklärt von holdselig schalkhaftem Lächeln, wie es immer aus den köstlichen Tagen der Jugend in seiner Erinnerung gestanden und wie er es vorhin für einen Augenblick wiedergesehen hatte.

Und plötzlich ergriff ihn unendliche Wehmuth, daß er aus dem Leben scheiden solle, ohne gelebt zu haben, ohne von ihr geliebt zu sein; aus dem Leben, das, wenn er sie nur weiter lieben durfte, schon ein unaussprechliches Glück war; aus dem Leben, das ihm nicht gehörte, das er ihr, so oder so, schuldig war, für das er um ihretwillen bis zum letzten Hauche kämpfen mußte.

Und die starren Finger legten sich wieder fest um die Rudergriffe, und die erlahmten Arme regten sich und parirten mit mächtigem Drucke den Schlag der hoch heranbrausenden Welle; das ermüdete Auge blickte wieder über die schäumenden Wogen nach Rettung, und aus der gepreßten Brust drang ein freudiger Schrei, als jetzt, wie herbeigezaubert, ein Segel aus dem Wasserdunste, mit dem die Atmosphäre angefüllt ist, auftaucht. Im nächsten Moment kommt es herangeschossen, ein größeres Fahrzeug, mit dem Backbord so tief im Wasser, daß Gotthold den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_616.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)