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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gebiet. Ihre Mutter – wer brauchte einen Commentar zu dem Namen der eminenten schöpferischen Frau, die sich in dem reichen Schatz ihrer dramatischen Dichtungen einen weitschattenden Gedächtnißbaum gepflanzt hat, welcher trotz aller Anfeindungen auf der deutschen Bühne fort und fort grünen wird, so lange dieselbe ihren wahren Zwecken nicht ganz entfremdet ist? Wer die Freude hatte, mit den beiden liebenswürdigen Alten in nähere persönliche Berührung zu kommen, der erkennt in der Tochter das echte Kind ihrer Eltern, der erblickt zahlreiche Darwin’sche Erbwurzeln, welche aus dem reichentfalteten Wesen der Tochter tief in den Boden der väterlichen und mütterlichen Natur hineinreichen.

Wilhelmine Birch ist ein Münchner Kindel. Bereits im ersten Lebensjahre wurde sie nach Zürich verpflanzt, wohin ihre Mutter zur Uebernahme der Direction des dortigen Stadttheaters übersiedelte. Es war eine freudeleere, trübselige Kindheit, welche Wilhelmine in Zürich verlebt. Getrennt vom Vater, welcher in München zurückgeblieben, unfreiwillig abgeschlossen von der Mutter, welche unter einer Ueberlast von Sorgen ihre ganze bewunderswerthe Arbeitskraft Tag und Nacht der Durchführung ihrer mißlichen Aufgabe und der literarischen Thätigkeit widmen mußte, fast ausschließlich auf die treue, aber ernste, pädagogisch und diätetisch strenge Pflege einer von schwerem Siechthum heimgesuchten Tante angewiesen, ohne Gespielinnen, wuchs das schwächliche, nur mühsam durch die liebevolle Sorgfalt des damals in Zürich weilenden Schönlein körperlich aufrecht erhaltene Kind in stiller Monotonie heran. Aber vielleicht war gerade diese düstere Einförmigkeit der äußeren Lebensoberfläche in vieler Beziehung einer gedeihlichen inneren Entwicklung günstig; vielleicht klingen in der heutigen Originalität des reifen Geistes theilweise noch die Nachbilder einer nothgedrungen selbstständigen unbefangenen Verarbeitung der ersten Eindrücke nach. Eine gänzliche Umkehrung dieser Verhältnisse trat ein, als Wilhelmine im achten Lebensjahr mit der Mutter, welche einer ehrenvollen Berufung als königliche Hofschauspielerin folgte, nach Berlin überwanderte, welches ihr zur eigentlichen Heimath wurde.

Hier trat die Freude in ihr Leben, hier begann ein warmer Verkehr mit Vater und Mutter, die Grundlage des innigsten Pietätsverhältnisses, welches ungetrübt bis zum Tode der Eltern fortbestand und der Mutter gegenüber später durch die zweifache Berufsgemeinschaft auf der Bühne und am Schreibtisch eine besondere Weihe erhielt. Hier traten der bildsamen Seele in bunter Fülle die mannigfachsten und einflußreichsten äußeren Anregungen entgegen, welche sie im Verein mit einem gründlichen, vielseitigen Unterricht für die Erfüllung ihrer Bestimmung schulten. Es erinnert sich wohl so Mancher noch der gemüthlichen grünen Stube an der Ecke der Friedrichs- und Krausenstraße in Berlin, des Schlaf-, Arbeits- und Empfangscabinets der „Mama Birch“, in welchem sie, vor dem chaotisch beladenen Schreibtisch sitzend, Jedem, der sie suchte, trauliche Audienz gab, in welchem allezeit Künstler, Dichter, Gelehrte von bestem Namensklang fröhliche Einkehr hielten. Das war in der That auch die Hochschulstube für Wilhelmine. Dort in dem zwanglosen lebendigen Verkehr mit leuchtenden Vorbildern schuf sie sich ihre Ideale, schmückte sie mit den Originalfarben der eigenen Natur und übte gleichsam spielend die Schwingen zum Flug nach den idealen Höhen. Wie gern und dankbar weilt heute die Erinnerung der Frau v. Hillern bei dieser gesegneten Frühlingszeit, wie getreulich berichtet sie ihren Freunden von dem Einfluß, welchen eine Jenny Lind oder ein Prediger Sydow, v. Putlitz und zahllose andere bedeutende Persönlichkeiten auf ihren Entwicklungsgang gewonnen, der eine in dieser, der andere in jener Richtung! Und wen sie so in die kostbaren Reminiscenzen aus der Mutterstube eingeführt hat, den geleitet sie sicherlich auch hinüber in die stille Stube des Vaters und erzählt mit aufrichtiger Rührung von der sorgsamen Pflege des Verstandes und Herzens, die sie dort von dem mit innigster Liebe an ihr hängenden Mann empfangen.

Daß die Tochter dieses Hauses in der Kindheit schon kein anderes Lebensziel, als die Bühne, sich setzen konnte, ist selbstverständlich; es hätte so kommen müssen, auch wenn jeder innere Beruf dazu gefehlt hätte. Es begreift sich, daß diese Prädestination anfangs in den gewöhnlichen kindischen Formen Ausdruck erhielt, bei dem heißtemperirten Kinde in extravaganterer Weise als sonst, daß an die Stelle der todten Puppe die eigene kleine Person als Theaterpuppe trat, die in jeder unbelauschten Minute in heimlichen Winkeln ihre Bühne aufschlug und mit einer aus Schürzen und Tischtüchern improvisirten königlichen Garderobe in freien Impromptus sich erging, oder den leeren Wänden die Rolle vordeclamirte, die sie selbst unter dem Schreibtisch, auf welchem die Schulhefte als Attrape lagen, heimlich verfaßt. Es begreift sich aber auch, daß das Verlangen nach den Weltbretern mit jedem Tage der wachsenden Reife und des Bewußtwerdens der innewohnenden Begabung an Ernst und Inbrunst gewann, daß der energische Widerstand, welchen die Mutter der Realisirung desselben entgegensetzte, nur dazu diente, den Strom noch mächtiger anzustauen, bis er seine Dämme durchbrach. Erst als Wilhelmine bereits dreizehn Jahre alt war, gestattete ihr die Mutter, ein Theater zu besuchen, und dieser Besuch war entscheidend. Kein Wunder: Dawison, der gewaltige Heros, war die erste Erscheinung, welche auf dem Stadttheater zu Hamburg als „Pfarrherr“ und als „Hamlet“ mit dem ganzen unwiderstehlichen Zauber seines Genies als Verkörperung ihrer Ideale Wilhelmine entgegentrat. Da war kein Halten mehr, im Sturm wurde der Consens der Mutter erobert, und nun ging es in athemloser Hast hinweg über alle Hindernisse, leider auch theilweise hinweg über eine methodische, technische Dressur, dem ersehnten Ziele entgegen.

Im siebenzehnten Lebensjahr betrat Wilhelmine Birch, mit einem Debut als „Julie“, unter dem Schutze des ihrer Mutter befreundeten kunstsinnigen Herzogs von Coburg-Gotha die Bühne, erfüllt von heißer priesterlicher Hingebung für den erwählten Beruf, erfüllt von kühner Zuversicht auf die Tragkraft ihres in zügelloser Freiheit aufgewachsenen Talents, erfüllt von stolzer Hoffnung, eine glänzende Sonnenbahn zu ziehen, während in den Sternen geschrieben stand, daß es nur ein flüchtiger Meteorlauf werden sollte. Das hochtragische Rollenfach war unbestreitbar das Terrain, welches die Natur ihr zugewiesen. Wenn auch in dieser Hinsicht die zart construirte Novize nicht alle Ansprüche befriedigte, so vergaß man doch gern die damalige nicht ganz heldenmäßige Schmächtigkeit der Gestalt über der Fülle und dem Wohllaut des für alle Stimmungen modulirbaren Organs, und die kleinen Abweichungen der Gesichtszüge vom Schulbegriff des classischen Typus über dem Adel, welchen eine von glühender Begeisterung inspirirte Mimik ihnen aufprägte. Zwei charakteristische Grundzüge kennzeichneten die dramatischen Darstellungen von Wilhelmine Birch: einerseits eine von tiefem Verständniß geleitete, bis in’s feinste Detail durchgearbeitete Auffassung, welcher sie durch Sprache und Action einen in allen Nüancen treuen Ausdruck verlieh, und andererseits eine unbändig aus der innersten Tiefe hervorfluthende, in den tragischen Culminationspunkten zum Dämonischen sich steigernde Leidenschaftlichkeit, mit welcher sie ihre Hörer, selbst ihre kritischen Feinde, fortriß.

Es mag wahr sein, daß diese Leidenschaftlichkeit sie verführte, häufig Licht und Schatten allzu grell zu markiren, zuweilen sogar die Grenzen des Schönen und der möglichen Wahrheit zu überschreiten. Allein auf der andern Seite war gerade diese Eigenthümlichkeit das Pygmalionsfeuer für alle ihre Gestaltungen, und das Uebermaß wurde gedämpft durch solide Lehrmeister, wie Eduard Devrient in Karlsruhe und Frau Glaßbrenner in Hamburg, bei denen sie nachträglich in die Schule ging. Nie hat Wilhelmine Birch einem hohlen Pathos gefröhnt, nie sich zu wohlfeiler Schablonenarbeit herabgewürdigt, im Gegentheil war bei ihr eine strenge Opposition gegen allen herkömmlichen Schlendrian leitendes Princip. Sie war, wie v. Putlitz mit vollstem Recht sagt, bestimmt, eine deutsche Rachel zu werden, und hätte dieses hohe Ziel ihres Ehrgeizes erreicht, wenn nicht besagte Sterne auf Anstiften der Venus ihr zugerufen hätten: Bis hierher und nicht weiter!

Nachdem sie den größten Theil ihrer kurzen Bühnenlaufbahn gastirend in Gotha, Braunschweig, Karlsruhe, Frankfurt a. M., Magdeburg, Hamburg, Posen und Berlin zugebracht und endlich ein festes Engagement in Mannheim angenommen hatte, gelang es einem der begeistertsten Kunstmäcene, Herrn v. Hillern, damals Hofgerichtsrath in Mannheim, sie dem Theater zu entwenden und als seine Gattin in das bürgerliche Leben zu verpflanzen. Welcher Nachruf konnte der scheidenden Künstlerin ehrenvoller sein, als der Ausspruch Dawison’s: er beklage in ihrem Abschiede von der Bühne den Verlust der letzten echten Tragödin Deutschlands!

Seit ihrer Verheirathung lebt Frau v. Hillern in Freiburg im Breisgau, wo ihr Gemahl gegenwärtig die Stelle eines

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_590.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)