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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

führte. Todmüde und ängstlich, wie immer, drückte er dem Conducteur, der, wie alle seine Collegen, auch damals schon für landesübliche Münzen eine kleine Vorliebe hatte, einen Thaler mit vielsagendem Blick in die Hand, der mit verständnißvollem Kopfnicken erwidert wurde. Beckmann hatte es sich kaum recht bequem gemacht, die Glocke gab das letzte Abgangszeichen, da schob der Zugführer eine bärtige Riesengestalt zu ihm in’s Coupé, mit den Worten: „Entschuldigen Sie, es ist alles überfüllt, der Herr reist nur bis Leipzig mit!“

Nur bis Leipzig,“ brummte der Komiker, „gerade so weit als ich.“

Mit einem tiefen Seufzer rückte er, in sein Geschick ergeben, in eine Ecke, da zeigte ihm ein Blick auf sein Gegenüber, im schwanken Licht der Bahnhofsbeleuchtung, daß der aufgedrungene Reisegefährte einen breiten Ledergurt um den Leib trug, aus welchem der Handgriff eines gewaltigen Messers emporstieg.

„Die Laterne in unserem Waggon brennt ja nicht,“ rief Beckmann mit gepreßter Stimme aus.

„Wozu brauchen wir denn eine Laterne in der Nacht? man schläft viel besser im Finstern,“ meinte das vis-à-vis im tiefsten Grundbaß.

„Da will ich doch lieber in einen andern Wagen –“

Der schrille Abgangspfiff schnitt die Schlußrede ab, der Zug setzte sich in Bewegung. Sehr gesprächig waren die beiden Reisegefährten nicht. – Der Riese machte sich’s bequem und legte Gurt und Messer über sich in’s Netz.

„Sie haben da ein sehr schönes Messer,“ meinte Beckmann.

„O, ich habe da noch ein besseres,“ murmelte der unheimliche Camerad, indem er ein gewaltiges Mordinstrument aus dem hohen Stiefel hervorholte und zu dem andern legte.

Der entsetzte Fritz rückte weit ab und blinzelte unter scheinbar geschlossenen Augen auf den Nachbar hin, der seinerseits Beckmann anstarrte. – Lange Pause! –

„Sie haben da eine sehr schöne goldene Uhrkette,“ frug der Unbekannte wieder.

„Sie ist falsch, ganz falsch,“ erwidert hastig Beckmann; „denken Sie sich,“ fährt er gezwungen lachend fort, „ich habe heute an einem gewissen Ort meine Uhr an der echten Kette und meine Geldbörse vergessen. Fatal – sehr fatal, aus einem Thaler besteht mein ganzes Reisegeld.“

Mit diesen Worten verbarg er die schwere Kette in die Tasche, und als er den mißtrauischen Blick seines Gefährten bemerkte, gab er ihm die Versicherung, das habe nichts auf sich, in Leipzig sei er sehr bekannt, dort bekomme er wieder Geld geliehen. – –

„Station Zwickau!“ rief der Conducteur.

„Herr Conducteur,“ rief Beckmann, herausspringend und ihn am Kragen fassend, „lassen Sie mich in ein anderes Coupé, wenn es auch mehr besetzt ist.“

„Nich das kleenste Plätzchen, mein gutes Herrchen, uf der nächsten Station, in Werdau, will ich Sie anders placiren, wenn Sie durchaus wollen, dort is Abgang! – Aber Herrjemersch, Sie sitzen ja ganz gut, warum wollen Sie denn wechseln?“

„Weil in dem Wagen kein Licht brennt, ich kann auf der Eisenbahn nicht im Finstern schlafen.“

„I du meine Güte, das will ich Sie gleich anzünden, steigen Sie nur ein, wir fahren gleich ab.“

Bei der nun brennenden Laterne kommt ihm die riesige Gestalt seines unheimlichen Reisegefährten noch gefährlicher vor als früher.

„Wozu brauchen Sie denn Licht?“ fuhr er ihn an.

„Weil ich nicht gerne im Dunkeln schlafe.“

„So, warum haben Sie denn in einem andern Waggon fahren wollen?“

„Weil ich im Schlafe so stark schnarche und Sie nicht geniren will.“

„Dummheiten!“ brummte der Fremde, und legte sich wieder in der Ecke zurecht.

Während der Zeit zog Beckmann sein Notizbuch hervor und schrieb bei dem unsicheren Scheine des Wagenlichtes folgenden Zettel:

„Vorstl ist nicht mein Mörder! Ein großer starker, mit zwei Messern bewaffneter Mann, mit vollem Bart, hat mich im Coupé meuchlings überfallen. Vorstl ist in München bei seinen Geschwistern und unschuldig an meinem Tod. Fritz Beckmann.“

Das Blatt schob er vorsichtig unter die Kissen seines Sitzes.

„Haben Sie Feuer?“

„Nein, ich rauche nicht.“

„Sie haben auch gar nichts, kein Geld, keine Uhr, kein Feuer!“

„Ja, ich bin schon so! Sie sind wohl sehr bekannt in dieser Gegend?“

„In dieser Gegend? Das will ich meinen. Jeden Baum, jeden Stein hier im Wald kenne ich. Meine Leute sind auch hier vertheilt.“

Der Geheimnißvolle zog eine kleine Metallpfeife hervor, und auf einen schrillen Pfiff tönten rechts und links ähnliche durchdringende Laute durch den Wald herüber.

Beckmann war mehr todt als lebendig.

„Station Werdau!“ klang es wie Paradiesesruf.

„Station Werdau, ich werde wohl hier über Nacht bleiben,“ rief Beckmann leichten Herzens, seine Reisetasche ergreifend. „Leben Sie recht wohl, es war mir sehr angenehm Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.“

„Adjes, Herr Beckmann!“

„Sie kennen mich?“ rief der Komiker ganz erstaunt.

„I, wo werd’ ich nich! Ich komme alle Woche ein Mal nach Wien. Ich bin der Hofschlächter L. … und lasse eben eine Herde Ochsen nach Leipzig bringen. Sie haben mir wohl vor eenen Spitzbuben gehalten?“

„I, wo werde ich!“ rief der über diese Lösung des Mißverständnisses hocherfreute Beckmann. „Na, denn is es nix mit Werdau! Wenn Sie erlauben, lieber Freund, so fahre ich mit Ihnen bis nach Leipzig!“

„Thun Sie das, mein lieber Herr Beckmann, und morgen trinken wir bei Redslob eene feine Pulle zusammen!“ –

Beckmann war, wie viele Künstler, etwas eitel und sehnte sich sehr nach einem bunten Bändchen in sein verwaistes Knopfloch. Er hatte einst einem Freund mit Gefahr seines eigenen Lebens das seine gerettet und von Sr. Majestät dem König von Preußen ausnahmsweise die Erlaubniß erhalten, die Rettungsmedaille am Bande des rothen Adlerordens zu tragen. Der wirkliche rothe Adlerorden war das Ziel seiner Sehnsucht, vor der Hand trug er das Band ohne Medaille. „Wollen Euer Majestät denn wirklich dies naturgemäße Verhältniß trennen?“ frug er bei der Audienz den König von Preußen, auf das ordenslose Band zeigend. Als ihm Se. Majestät auf der Promenade in Karlsbad begegnete und ihn frug, warum er hier sei und was ihm fehle, antwortete er mit einem schüchternen Blick auf das leere Knopfloch seines Rockes: „Ja, Majestät, ich habe schreckliche Kreuzschmerzen!“

Beckmann’s Frau, geborene Muzarelli, war eine der hübschesten und liebenswürdigsten Bühnenerscheinungen, eine höchst talentirte Sängerin und Tänzerin, eine humorreiche Soubrette. Ihr winziges Füßchen und ihre reizende kleine Hand galten als Merkwürdigkeit in der Theaterwelt. Director Carl extemporirte einmal auf der Bühne, und sagte, sie wäre eine Mißgeburt, denn sie habe nur ein Stückchen Fuß.

Bei einem Gastspiel in Triest trat sie in der Titelrolle der Oper „Die Stumme von Portici“ auf. Als sie nun tanzend die Bühne betrat, hatte die Künstlerin unglücklicher Weise ein über dieselbe gespanntes Seil übersehen, welches zur Befestigung der Versetzstücke angebracht war, und die Stumme stürzte mit dem Schreckensschrei: „Jesus, Maria und Joseph!“ der Länge lang auf den Boden hin. Die drastische Wirkung dieser Heilung und Lösung der Sprachwerkzeuge kann man sich denken, das Haus erdröhnte von nicht enden wollendem Gelächter.

Eine wahrhaft herzerquickende, jetzt leider gänzlich verschwundene Cameradschaft herrschte damals in der Theaterwelt. Ich komme wohl ein Mal auf eine Reihe heiterer und rührender Züge aus dem Zusammenwirken der Bühnenangehörigen aus meiner Zeit zurück, jetzt sei nur eines solchen Erlebnisses gedacht: Lortzing, der deutsche Offenbach ohne französische Liederlichkeit, schrieb zu seinen reizenden Opern, für die alle zusammen er von sämmtlichen Bühnen nicht so viel Honorar erhielt, als sein Nachtreter jetzt von einer bezieht, auch die Texte gemeinsam mit Düringer und Reger, die damals zugleich mit ihm am Stadttheater in Leipzig engagirt waren. Einen Tag vor der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_588.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)