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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Herrn Brandow – Karl Brandow’s Urgroßvater – verkauft und dann noch ein paar Jahre sehr vergnüglich aus seines Schwiegersohns Tasche gelebt hatte, jetzt gestorben; aber die Tochter hatte ihres Vaters kostbare Neigungen zum Theil geerbt, und Adolf selbst war nichts weniger als ein guter Wirth.

Diese letzte Eigenschaft hinderte ihn nun gewiß nicht, zu thun, wozu ihn schon die einfachste Dankbarkeit verpflichtete; und so lud er denn – trotz des Widerspruches seiner Gattin – den armen Bogislaf ein, ihn auf Dollan zu besuchen und möglichst lange bei ihm zu bleiben. Bogislaf hatte sich anfangs sehr gesträubt, und das mit gutem Grunde. War es doch jetzt heraus, wie es zugegangen bei dem Wettschießen! wußte man doch jetzt, daß Ulrike durch ihre Cousine und vertrauteste Freundin Emma von Dahlitz, die als arme Weise bei den reichen Verwandten lebte, am Abend zuvor Botschaft an Bogislaf gesandt: sie werde, und wenn alle Welt ihn für den besten Mann erkläre, ihn nun und nimmer zum Manne nehmen, sondern einzig und allein Adolf, den sie immer geliebt habe und immer lieben werde. Da habe Bogislaf, weil er ja nun doch keine Hoffnung gehabt, die Geliebte zu gewinnen, ein Vermögen, welches für ihn keinen Reiz mehr besaß, großmüthig seinem Vetter überlassen.

Er hatte sich also lange gesträubt, die Einladung seines glücklichen Vetters anzunehmen, war aber dann doch gekommen – auf acht Tage nur. Aus den acht Tagen waren acht Wochen, aus den Wochen Monate, aus den Monaten Jahre geworden, so viele Jahre, daß dies nun schon die vierte Generation war, die den alten Bogislaf Wenhof, oder wie er allgemein genannt, Vetter Boslaf, in dem Strandhause von Dollan kannte. Denn dorthin war er nach den ersten acht Tagen übergesiedelt, nachdem er es von der Regierung, die es ursprünglich als Wachthaus gebaut, nebst ein paar dazu gehörigen Aeckern und Wiesen für ein Geringes gekauft; aber, wenn so das Strandhaus nicht eigentlich zu Dollan gehörte, sondern Vetter Boslaf’s freies Eigenthum war, so gehörte Vetter Boslaf desto mehr zu Dollan, so sehr, daß sich über diese Zusammengehörigkeit in den Köpfen der Leute allerlei abergläubische Vorstellungen gebildet hatten, in denen der Uralte bald als guter, bald als böser Geist von Dollan und speciell der Familie Wenhof figurirte. Ach, er hatte, – wenn er anders der gute Geist war – den Verfall des Hauses nicht verhindern können, und daß bereits Adolf’s und Ulrikens Sohn, der viel von der Dahlitzer Art hatte, zu Ende des vorigen Jahrhunderts Dollan an das Kloster St. Jürgen verkaufen und froh sein mußte, da als Pächter bleiben zu dürfen, wo er bisher als Herr gesessen. Vetter Boslaf hatte das nicht verhindern können, und alles Andere nicht, was seitdem geschehen war bis auf den heutigen Tag!

„Aber was heißt denn das,“ sprach Gotthold bei sich, „wie mag man sich doch so mit Waldesrauschen und Quellenmurmeln und alten Geschichten das gesunde Hirn umnebeln! Ich glaube, die Schlange hat es mir angethan mit ihren kalten Funkelaugen, und ich bin noch in ihrem Zauberbann. Nun, ihr Reich ist zu Ende. Da, durch die Zweige glänzt das Meer, mein geliebtes, herrliches Meer. Sein frischer Athem wird mir die heiße Stirn kühlen. Und er, der Uralte, der dort unten haust, der so jung schon das herbe Wort Entsagung begriffen hatte, der auf Macht und Reichthum und Weibergunst verzichtete, um sich selbst nicht zu verlieren, um er selbst zu bleiben, er war doch wohl der bessere und der weisere Mann.“

Immer am Bache entlang schreitend, der jetzt so nahe an seinem Ausflusse, ungeduldiger und kühner, manchmal in kleinen Cascaden, die von riesigen Farrenkrautstauden und üppigstem Gras überwucherte Schlucht plätschernd und murmelnd hinabeilte, gelangte Gotthold in wenigen Minuten zum Ufer. Rechter Hand, fast auf der Spitze der Landzunge, die, wie das übrige Ufer mit großen und kleinen Steinen bedeckt, ein paar hundert Schritt in’s Meer hinauslief, lag Vetter Boslaf’s Haus. Von der hohen Stange auf dem einen Giebel flatterte die alte Flagge, deren sich Gotthold so gut aus seinen Jugendjahren erinnerte. Es war ursprünglich eine schwedische; aber Wind und Wetter hatten ihr im Laufe der Jahre die Farben so ausgebleicht und so viele Flicken nothwendig gemacht, daß die Behörde keinen Anstoß an dieser Reminiscenz der Fremdherrschaft nehmen konnte, wenn sie sich überhaupt um Vetter Boslaf’s Thun und Treiben bekümmert hätte. Aber das hatte sie nie gethan; und so flatterte und rauschte und knatterte denn die alte Fahne lustig in dem frischen Winde, der sich immer kräftiger aufmachte, als Gotthold jetzt vor dem niedrigen, aus zum Theil unbehauenen Strandsteinen roh aufgeführten Gebäude stand, das seine einzige Thür nach der Landseite hatte. Die Thür war verschlossen; in die beiden kleinen eisenvergitterten Fenster rechts und links, welche der Küche und der Vorrathskammer Licht gaben, konnte er nicht hineinsehen, da sie über Manneshöhe, fast unter dem Dache sich befanden; und an den beiden größeren Fenstern auf der Vorderseite nach dem Meere waren die starken eisernen Läden zugedrückt. Vetter Boslaf war offenbar nicht zu Hause.

„Freilich,“ sagte Gotthold, „wenn man nach zehn Jahren Jemand, den man als Achtzigjährigen verließ, nicht mehr in seinem alten Hause findet, kann man sich nicht eben wundern.“

Und doch wollte es ihm gar nicht zu Sinn, daß der Alte gestorben sei. Er hatte noch eben so lebhaft an ihn gedacht, ihn so deutlich in seines Geistes Aug’ gesehen: dahinwandelnd, langen gleichmäßigen Schrittes, die hohe schlanke Gestalt, wie er sie damals mit seinen leiblichen Augen sah. Nein, nein, der Uralte aus dem Reckengeschlecht – er hatte sicher auch noch diese kurze Spanne Zeit überdauert. Und dann hatte das Haus und die Umgebung – der kleine, von einer Cyklopenmauer umschlossene Vorhof, der winzige, mit Muscheln eingefaßte Garten – nicht das Aussehen, als ob sie sich schon längere Zeit selbst überlassen gewesen wären. Alles war im Stande und peinlich sauber, wie es der Alte zu halten pflegte; die kleine Brücke in der inneren Bucht, an welcher er das Boot befestigte, konnte sogar erst neuerdings ausgebessert sein, wie Gotthold aus frisch und mit großer Sorgfalt eingefügten Holzstücken ersah. Das Boot aber war fort; ohne Zweifel hatte Vetter Boslaf einen Ausflug auf dem Boote gemacht. Es war freilich nicht seine Gewohnheit, indessen die Lebensweise des Alten konnte ja in den letzten Jahren eine andere geworden sein.

Der Nachmittag war bereits weit vorgeschritten; der Weg durch die Schlucht nach dem Strandhause hatte doch mehr Zeit gekostet, als Gotthold angenommen. Eine Stunde wollte er noch auf Vetter Boslaf warten, dann nach dem Hünengrabe zurückkehren, bis Sonnenuntergang malen, für die Nacht die Gastfreundschaft der Schmiede in Anspruch nehmen und morgen in der Frühe, hoffentlich mit glücklicherem Erfolge, den alten Freund abermals aufsuchen. Dann konnte er bis zum Mittag wieder in Prora sein und, nachdem er sich von Wollnows verabschiedet, ohne Verzug mit Jochen weiter fahren. Er hatte gestern daran gedacht, das Bild gleich in Prora fertig zu machen; aber morgen Abend kamen sie, wie Jochen berichtet, von Plüggenhof zurück, wieder durch den Ort, und er wollte den Zufall, der ihn heute Morgen eben noch vor einer Begegnung mit Karl Brandow bewahrt hatte, nicht zum zweiten Male herausfordern.

Der junge Mann hatte sich auf der Uferhöhe in den Schatten der Buchen, die hier bis an den steilen Rand herantraten, gelagert. Gewohnt, wie er es von seinen Studienfahrten war, halbe, ja, wenn es sein mußte, ganze Tage lang mit einem Bissen Brod und einem Trunk aus seiner Feldflasche auszureichen, spürte er auch jetzt keinen Hunger; aber er fühlte sich ermatteter, als wohl sonst nach längeren Märschen. Und wie er nun so dalag, und ihm zu Häupten die Buchen säuselten, und unter ihm die auf dem steinigen Ufer brandenden Wellen ihr monotones Lied rauschten, sanken ihm allgemach die Wimpern über die von dem langen Hinstarren auf die unendliche Wasserwüste ermüdeten Augen.




8.


Ein paar Stunden später ritten Karl Brandow und Hinrich Scheel über die Haide von der Schmiede nach Dollan, denselben Weg, welchen sie vor noch nicht zehn Minuten in entgegengesetzter Richtung gemacht hatten. Sie ritten in scharfem Trabe, der Knecht ein paar Dutzend Schritte hinter dem Herrn, nicht aus Respect, und gewiß nicht, weil er schlechter beritten gewesen wäre. Im Gegentheil, sein Pferd war ein wundervolles braunes Vollblut, sehr viel kostbarer als der Halbblutfuchs des Herrn, so kostbar in der That, daß ein Begegnender sich gewundert haben würde,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_581.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)