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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Idylle. Von allen Seiten ein Klingen und Singen, ein Rauschen und Rieseln, ein wahres Naturconcert, dem man mit Entzücken lauscht. Vor Allen aber fesselte uns der Staubbach, dessen Cascade aus einer Höhe von 925 Fuß niederfällt und je nach der Jahreszeit und der Wassermenge bald einen überraschend schönen, bald einen ziemlich kläglichen Eindruck macht. Wir selbst trafen ihn nach längerem Regen in bester Verfassung. Wie ein aus Millionen Perlen und funkelnden Demanten gebildeter Schleier flatterte der mehr durch seine Lieblichkeit als durch seine Größe anerkennenswerthe Fall von den schroffen Klippen; ein reizendes Spiel der mit sich selbst coquettirenden Natur. Aber auch an großartigen Naturbildern fehlt es nicht; auch hier erblickt man die Jungfrau noch deutlicher und klarer als in Interlaken, das blendend weiße Silberhorn und das sich bisher dem Auge entziehende Mittagshorn. Es ist daher kein Wunder, daß das Lauterbrunner Thal von Touristen, besonders von reisenden Engländern überschwemmt wird. Wie zu einem Wallfahrtsort wandern große Karawanen zu Fuß und zu Wagen nach dem beliebten Anziehungspunkt, wo sich ein überraschendes Leben und Treiben, ein Gewirr von Menschen, Pferden, Eseln und Equipagen entwickelt.

Fast übersättigt von den Eindrücken des schönen Tages kehrten wir nach Interlaken zurück, wo wir die uns noch übrige Zeit zu weiteren Ausflügen benutzten. Ein interessanter Spaziergang führte uns zu der romantischen Ruine „Urspunnen“.

Eine andere Partie galt dem neu auftauchenden Luftcurort Beatenberg, der immer mehr in Aufnahme kommt. Schon längst haben die Schweizer Aerzte auf die Wichtigkeit der sogenannten Luftcuren hingewiesen, die hauptsächlich dem erst in neuerer Zeit entdeckten „Ozon“ oder polarisirten Sauerstoff ihre Wirksamkeit in zahlreichen chronischen Krankheiten verdankten. Dieser Stoff entwickelt sich vorzugsweise unter Einwirkung des Sonnenlichts auf hohen Bergen, in der Nähe des Meers und in Wäldern. Beatenberg selbst liegt in einer Höhe von siebentausend Fuß und schien uns wie geschaffen zu einem derartigen Curort, indem es mit der nöthigen Ruhe die reizendste Aussicht auf den smaragdenen See und auf die lange, weiße Kette der Berner Alpen verbindet, ein Bild des stillen Friedens im Vergleich mit dem geräuschvollen Interlaken, dem es freilich an Comfort und Eleganz weit nachsteht.

Endlich schlug die Abschiedsstunde von der schönen Schweiz. Mit dem Dampfboot fuhren wir über den herrlichen Thuner See, an dessen Ufern die reizendsten Villen, Schlösser und Dörfer uns zum längeren Verweilen einluden. Nur mit schwerem Herzen rissen wir uns von der bezaubernden Gegend los, um die Rückreise mit der Eisenbahn fortzusetzen. Erst in Hauenstein, wo die Gräber der in dem Tunnel unglücklich Verschütteten sich erhoben, schwand der letzte lichte Streifen der fernen Alpen. Wir aber riefen, eingedenk der schönen Tage: auf Wiedersehen, auf baldiges Wiedersehen!




Aus Ferdinand Lassalle’s Jugend.


Erinnerungen von Rudolf Gottschall.


Im Anfange der vierziger Jahre versammelte sich in Kießling’s Bierkeller in Breslau eine große Zahl Breslauer Bürger, junger Beamten und Studenten, welche nicht blos dem Bier, sondern auch dem Zeitgeist und der freien politischen Entwickelung huldigten. Man verstand unter der letzteren eine „constitutionelle Verfassung“, gegen welche damals eine heftige Reaction sich ereiferte, während sie jetzt eine unbestrittene und der Reaction selbst nicht unwillkommene Thatsache ist. Der Schweidnitzer Keller des Breslauer Rathhauses, dessen Bimmelglocke schon lange nicht mehr geläutet wird, versammelte allerdings ein zahlreicheres Publicum, aber in Kießling’s Keller kam Alles zusammen, was zur Opposition gehörte. Auch Gutsbesitzer der Provinz fanden sich häufig ein, darunter der jugendliche Graf Eduard Reichenbach mit seiner hohen Gestalt, seinem imponirenden Vollbart, seinen Feueraugen, jeder Zoll noch ein Jenenser Burschenschafter, der stets bereit war, „den Stier bei den Hörnern zu fassen“, wie er zugleich als politischer Radicaler und tüchtiger Landwirth sich auszudrücken pflegte. Uns jungen Studenten imponirte diese kräftige Reckengestalt, um welche die Glorie einer überstandenen Festungshaft schwebte und deren Frische und Energie einen hinreißenden Zauber ausübte.

Es herrschte in diesen unterirdischen Gemächern ein durch den Gerstensaft genährter lebhafter Cultus der geistigen Freiheit; hier wurden politische Gedichte declamirt, Herwegh war damals Mode, und Alles „riß die Kreuze aus der Erde“, um damit dreinzuschlagen; dort führte man philosophische Gespräche. Da machte sich vor Allem ein blutjunger Student bemerklich mit einer etwas spitzen, aber doch durchdringenden Stimme, von blasser Gesichtsfarbe, von einem griechischen Profil, das mit den physiognomischen Merkmalen israelitischer Herkunft eigenthümlich verschmolzen war. Ganz nach den Gesetzen hellenischer Plastik erstreckte sich die Nase ohne jeden Einschnitt geradlinig von der Stirn herab, aber um den Mund spielte eine lebhafte Beweglichkeit mit allen jenen zersetzenden geistigen Elementen, welche dem jüdischen Stamme eigenthümlich sind. Die ganze Erscheinung hatte etwas körperlich Durchsichtiges und geistig Feines – zählte doch der junge Student nicht mehr als siebenzehn Jahre; doch kein Professor der Philosophie konnte mit größerer Beredsamkeit von Hegel, dem modernen „Proclus“, sprechen und über die neuen mythologischen Offenbarungen Schelling’s in Berlin den Stab brechen; denn es hatte Ludwig Feuerbach in einer kleinen Schrift die Grundzüge einer neuen Philosophie des Sensualismus veröffentlicht, und an diese Schrift knüpfte sich die lebhafte Debatte an einem Seitentische des Kießlingschen Kellergeschosses. – Ich frug nach dem Namen des jungen Studenten und erfuhr, daß er Ferdinand Lassalle heiße und der Sohn eines vermögenden jüdischen Kaufmanns sei.

Bald traten wir uns näher. Es spukte damals wundersam in den Köpfen, war doch die Welt in Gährung, in Unruhe. Ein neuer Tag schien anzubrechen, und der Lorbeer des Reformators erschien als der schönste und erreichbarste von allen. Ein wenig Märtyrerthum dabei – das machte die Weltverbesserung noch romantischer. Die heutige akademische Jugend, die sich auf der Grundlage eines mächtigen Staatswesens dem Dienste der Wissenschaften weiht, kann sich kaum in jene Zeit der politischen Bewegung zurückversetzen, wo sich eine Welt von Möglichkeiten traumhaft dem Blicke aufthat, wo Jeder glaubte, er brauche nur zuzugreifen, um dem Staatsschiff eine andere Richtung zu geben, wo der jüngste Student berühmt werden konnte und auch wirklich berühmt wurde, wenn er in den Reihen der Opposition irgend eine herostratische That verrichtet hatte, mochte diese auch nur in einem herausfordernden Gedicht oder in der Betheiligung an einer lärmenden Demonstration bestehen. Das geistige Streben ging damals in’s Blaue, aber es herrschte bei allen Verirrungen ein schöner Idealismus, wie er der Jugend ziemt. Man kannte zwar noch keine Zukunftsmusik, aber man glaubte an die Harmonie der Zukunft, und der Himmel hing voller Geigen.

Ferdinand Lassalle imponirte mir durch die genaue Kenntniß des schwierigsten Gedankensystems bei seiner großen Jugend; er konnte seinen Hegel auswendig bis in die dunkelsten Stellen; er wußte schon damals den Standort aller Gedanken in den verschiedenen Werken und Bänden, eine Kenntniß, durch die er später in Berlin selbst einem Alexander v. Humboldt die größte Achtung abnöthigte. Er war überhaupt ein feiner Kopf, geübt in allen Combinationen, ein gewandter Schach- und Whistspieler, und auch diese Neigungen führten uns zusammen. Wir beschlossen, eine geschriebene Zeitschrift für die Breslauer Burschenschaft, den „Raczeckes“, abzufassen, für welche Lassalle die philosophischen Artikel und ich die Gedichte lieferte. Das Journal, welches die Kunst Gutenberg’s verschmähte, erfreute sich dennoch einer großen Popularität, und wenn manche gedruckten Blätter und Werke in einem unheimlichen Dunkel verharren, so hatte unsere ungedruckte Zeitschrift dafür glänzenden Erfolg. Sie lag in den Lesezimmern aus; unsere Gedanken und unsere Verse wurden bei jeder Gelegenheit, bei den Kneipen und den Commersen citirt, und da sie uncensirt erschienen, fehlte es ihnen an Kühnheit nicht. Ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_576.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)