Seite:Die Gartenlaube (1872) 575.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Im Hintergrund der Landschaft steigt das schwarze Wetterhorn, gleich einem riesigen Sarkophag für erschlagene Titanen, empor; ihm zur Seite die Pyramide des Schreckhorns, der kahle Metterberg, der trotzige Eiger und die Schneegipfel des finstern Mönchs.

Die schwarze Lutschina-Schlucht.

Außer durch die Bettelei wird dem Reisenden der Besuch von Grindelwald noch durch die Zudringlichkeit der Kellner, Führer, Träger, Pferdeverleiher und ähnlicher Plagegeister mit ihren unverschämten Forderungen verleidet, die über jeden Touristen wie über eine willkommene Beute herfallen. Nachdem wir uns durch die genügende Grobheit von dem lästigen Schwarm befreit hatten, setzten wir unsere beschlossene Wanderung nach der berühmten Wengernalp fort. Mit dem nöthigen Schuhwerk und den unentbehrlichen Alpenstöcken versehen, besuchten wir zuerst den „Gletscher“, der vor uns zu liegen schien und doch noch gegen drei Viertelstunden entfernt war.

Durch ein rundes Loch schritten wir über einige Bretter in die Eishöhle, von der fortwährend das Wasser niederregnete, so daß wir uns durch Schirm und Plaid schützen mußten, um nicht durchnäßt zu werden. Wie von blauen und grünen bengalischen Flammen beleuchtet, schimmerten die durchsichtigen Wände gleich einer aus kostbaren Edelsteinen, Smaragden und Demanten erbauten Feengrotte. Um die Täuschung noch zu erhöhen, erschallte aus dem Hintergrunde ein unsichtbarer, tief ergreifender Geisterchor. Als wir jedoch näher traten, entdeckten wir in der Tiefe eine alte, zusammengekauerte, Cither spielende Frau, unheimlich von einigen blakenden Lämpchen

Salzfütterung auf der Wengernalp.

beleuchtet. Das Ganze war eine optisch-akustische Täuschung, eine jener zahllosen Illusionen, die man nicht in der Nähe betrachten und analysiren darf, ohne den Zauber zu zerstören. Nach langem Steigen, das jedoch wegen der stärkenden Gebirgsluft nur wenig ermüdete, sahen wir die Wengernalp mit ihrem neuerbauten „Hôtel de la Jungfrau“ vor uns liegen, wo einst Lord Byron in tiefster Einsamkeit längere Zeit gelebt und seinen „Manfred“ geschrieben haben soll. Der Anblick, der sich uns hier darbot, ließ alle Schönheiten weit hinter sich zurück, die wir bisher auf unserer Reise gesehen. Zu unseren Füßen lag das wüste Trümmletenthal – nicht zu verwechseln mit dem Val Tremolo – in dessen Abgründen die Geister der Hölle zu wohnen schienen. Uns gegenüber baute sich der riesige Thron der weißen Jungfrau auf, um deren Haupt die wallenden Nebelschleier flatterten, bis ein Windhauch die Hülle fortwehte und die unsterbliche Königin der Berge in ihrer ganzen wunderbaren Pracht und Herrlichkeit vor uns erschien, so daß wir geblendet von dem Glanz die Augen schließen mußten. Rings um die Herrscherin schaarten sich ihre nicht minder großen Diener und Vasallen, das schlanke vom tiefen Blau des Aethers scharf abstechende Silberhorn, der graue Mönch mit weißer Schneecapuze, der Eiger in seinem blinkenden Stahlharnisch mit Silber ausgelegt, die schwarzen Wetterhörner und mit ihnen jene unübersehbare Reihe der Recken und Riesen, welche huldigend den Thron der in unnahbarer Majestät niederblickenden Herrscherin umstehen, vor der man unwillkürlich die Kniee beugen möchte. Das Haupt im Himmel, den Fuß im Abgrund, mit ewigem Eis gekrönt, in ihren schimmernden Schneemantel gehüllt, stand sie vor unseren Blicken, furchtbar in ihrer Größe, erhaben in ihrer Majestät, vom Donner der Lawinen umtönt, durch den sie mit den Sterblichen spricht, ein unbeschreibliches, unvergeßliches Bild.

Ein ziemlich steiler, aber schattiger Weg führt durch blumenreiche Matten nach dem ungefähr drei Stunden entfernten Lauterbrunner Thal. Bei dem Dorfe Wengen erblickten wir ein eigenthümlich interessantes Schauspiel; vor dem Wirthshause sahen wir wohl gegen hundert prächtige Kühe und Ochsen, auch einige Ziegen versammelt, umgeben von Hirten und Sennen. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß das Vieh jeden Sonntag hier mit Salz gefüttert werde. Es war wirklich lustig mit anzusehen, wie die klugen Thiere den Hirten nachliefen, das Salz suchten und ihnen die Hände, selbst die Taschen leckten, wie sich die lebendigen Gruppen weit bis zu den Bergen hinaufzogen und die schönsten Studien für einen Thiermaler ungesucht darboten.

Nach dem erhabenen Epos der Wengernalp erschien uns das Lauterbrunner Thal mit seinen grünen, freundlichen Matten, mit den kleinen traulichen Häusern und den silbernen Quellen wie eine anmuthige

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_575.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)