Seite:Die Gartenlaube (1872) 571.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Ein Orangenzweig.


Von A. Godin.


(Fortsetzung.)


Der Staatsrath sah seinem Freunde Gotter nach, ohne während des ganzen Ausbruchs ein Wort zu verlieren. Als der Gast verschwunden war, stand er einen Augenblick in Gedanken und klingelte dann.

„Fragen Sie Rose, ob meine Tochter auf ist; in diesem Falle lasse ich sie bitten, bald herunterzukommen.“

Der Bediente verschwand. Ueber des Hausherrn strenges Gesicht zog plötzlich ein ihm sonst fremder Ausdruck von Weichheit; er ließ sich abgespannt in den Lehnstuhl sinken, der an den noch unberührten Frühstückstisch gerückt war, und stützte den Kopf in tiefem Sinnen auf die Hand.

Wenige Minuten später öffnete sich die Thür und Eugenie trat ein. Der Morgenanzug von weißem Piqué ließ die leichte Blässe des reizenden Gesichtes noch mehr hervortreten; ihr wolliges Haar, das nur geringer Nachhülfe bedurfte, um sich in die schweren Locken zu ringeln, welche so oft Aufmerksamkeit erregten, ruhte lose im Filetnetze. Als sie ihrem Vater mit freundlicher Begrüßung die Hand bot und seinem prüfenden Blicke begegnete, erröthete sie und machte sich mit dem Frühstücksgeräth zu schaffen.

„Du hast auf mich gewartet?“ äußerte sie, beschäftigt, die noch unberührte Tasse ihres Vaters zu füllen. „Das ist ja wider alle Abrede! Hätte ich das geahnt, so wäre ich früher heruntergekommen. Die Langschläferin glaubte Dich bereits in Deinem Arbeitszimmer. Du fühlst Dich doch wohl, lieber Vater?“ Ihr Auge ruhte mit sorgender Innigkeit auf den ernsten Zügen – war es nur die eigene Beklemmung, welche ihr dieselben heute so verdüstert erscheinen ließ?

Seine leicht abwehrende Geberde schien der aufgetauchten Sorge zu widerstehen, mehr noch der gelassene Ton, womit er frug: „Habt Ihr Euch gestern gut unterhalten? Erzähle mir!“

Wieder jagte eine Flamme über Wangen und Schläfen hin. „Gerta war glückselig, alles Ballfieber, welches uns vorher an ihr belustigt, schon nach den ersten Minuten verflogen; ich glaube, jedes Härchen in ihren Augenbrauen weiß von Vergnügen zu sagen. Sie schläft noch tief.“

„Und Du?“ – In der Frage vibrirte jetzt ein Klang, der des Mädchens Herz bis zur Athemlosigkeit klopfen machte. Die Tasse klirrte in ihrer Hand. Sie lehnte sich stumm in ihren Sessel zurück, die schlanken Finger falteten sich auf dem Schooße ineinander. Nach einer Pause athmete sie tief auf und sagte erblassend, aber mit klarer Stimme:

„Mir, mein Vater, ist dieser Ball zur Wende des Lebens geworden. Vater, lieber Vater! ich habe mir gestern ein Herz gewonnen und – das meinige vergeben!“

Der Staatsrath machte eine so ungestüme Bewegung, daß die Rollen seines Lehnstuhls ihn einige Schritte von seiner Tochter entfernten.

„Du, Eugenie – Du? Kann ich Dich verstanden haben? Dein Herz vergeben im Laufe einer Ballnacht?! Oder war dies etwa nur die Schlußscene eines Romans, den Du schon früher ohne mein Wissen abgespielt?“

Die tiefen Mädchenaugen blickten fest in die flammend leuchtenden, deren Abbild sie waren.

„Ich habe Dir nie verhehlt, was mein Leben ausmacht, das weißt Du, Vater – ich thue es auch heute nicht, obgleich ich fühle, wie unbegreiflich ich Dir erscheinen muß – verstehe ich mich doch selbst nicht! Hast Du je geliebt, mein Vater? Du hast – ich lese Antwort in Deinem Auge – Du hast! Dann sage mir, erfaßt es Jeden so ungeahnt, so unwiderstehlich? Ich weiß es nicht – weiß nur, was mir geschehen! Erinnerst Du Dich an vorgestern Abend, an die Stimme beim Weiher, die von Treue sprach? Dieselbe Stimme hat mich gestern mit dem ersten Tone, den sie an mich gerichtet, in ihre Welt gezogen, ist bis in den Grund der meinigen getaucht! Diese Stimme führte mich in seltsamen Gesprächen – keine Ballgespräche, Vater – an Allem vorüber, was es zwischen Himmel und Erde giebt, und zwang mich mit unwiderstehlich magnetischer Gewalt zur Antwort – daß ich mein Denken und Fühlen an sie hingab, wie Keinem gegenüber je geschehen, selbst Dir nicht! Ich habe darüber gesonnen die ganze Nacht – es wich nicht – auch heute im Scheine des Tages pocht der eine Ton erweckend an jeden Gedanken – ihn wieder, ihn immer zu hören, erscheint mir unentbehrlich wie Licht und Luft – keine Zukunft denkbar ohne diesen Klang, dem Alles antwortet, was in mir lebt!“

Jedes Wort war fliegend hingeathmet worden, während sie seine beiden Hände ergriffen und gehalten, während der Blick in’s Weite schwärmte. Jetzt sah sie den Vater an. Der tief schmerzliche Zug um seine festgeschlossenen Lippen erschreckte sie, trieb sie aber auch vorwärts. Sie ließ seine Hände los, preßte die ihrigen gegen die Brust und sagte mit gesenkten Wimpern ganz langsam:

„Er ist preußischer Officier, Vater, sein Name Triefels, Baron Triefels. Er hat meine Erlaubniß erbeten, bei Dir um meine Hand zu werben – heute!“

„Und Du gabst ihm diese Erlaubniß?“

„Ja, Vater.“

Der Staatsrath erhob sich und trat, ohne seine Tochter anzusehen, zum Fenster, wo er, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, unbeweglich stehen blieb. Eugenie folgte ihm mit den Blicken, ihr Herz drohte still zu stehen; sie zögerte einen Moment, flog dann durch das Zimmer und warf beide Hände um die theure Gestalt.

„Du zürnst!“ rief sie klagend. „O Gott, ich fühle Dein Recht dazu, aber ich konnte – ich kann nicht anders!“

Wallmoden wandte den Kopf, und Eugenie schrak zusammen; was sie nie geschaut, selbst nicht am Sterbebette ihrer Mutter, das sah sie heute – an der Wimper des Vaters hing ein schwerer Tropfen. Wortlos verhüllte sie ihr zuckendes Gesicht und wich zurück.

Er folgte ihr und zog sie neben sich auf ein Sopha nieder. „Nein, Eugenie,“ sagte er mit ungewohnter Weichheit, „ich zürne nicht. Der Kummer, den Deine Worte mir bereitet, gilt Dir – nicht mir selbst! Längst weiß ich, wie unerbittlich das Leben ist; wenn es jetzt das Herz meines einzigen Kindes dorthin gewendet, wo mein Haß steht, so ist das nicht mehr als irgend eine andere seiner Consequenzen. Man sollte auf Alles gefaßt sein – und doch, auf Das, was der heutige Tag gebracht, war ich es nicht. Du glaubst nur meine Antipathie zu verletzen, vielleicht mein eifersüchtiges Vatergefühl zu kränken – armes Kind, Du bist es, Du selbst, die den bittern Trank leeren muß – bis zur Hefe. Daß Du vor Allem der Wahrheit bedarfst – überall – in jeder Lage, weiß ich nicht erst von heute. Sie soll Dir werden – die Menschen, welche einander schonen, lieben sich nicht. Ich kenne Deine Kraft, Eugenie, fasse sie zusammen! Dieser Mann, dem Du bereit bist, Dein Schicksal anzuvertrauen, hat ein unwürdiges Spiel mit Dir getrieben – laß mich aussprechen, Kind! Ich phantasire nicht, wir stehen nackter Thatsache gegenüber. Im Uebermuthe halbtrunkener Tafelrunde hat er sich vermessen, seine Unwiderstehlichkeit für Weiber durch ein Beispiel zu bethätigen; unter einer Schaar junger Leute wurden Loose geworfen, Dein Name gezogen, unser Name, Eugenie! So bist Du gewonnen worden – denkst Du noch daran, Dich auch so zu verschenken?“

Das junge Mädchen erschien wie von unsichtbaren Kräften in die Höhe gezogen. Sie stand gleich einer Säule; kein Laut kam über ihre Lippen. Nur ein starres Kopfschütteln zeigte, daß noch Leben in ihr war. Endlich brach das Wort hervor: „Durch wen erfuhrst Du –“

„Verlangst Du es, so bin ich berechtigt worden, Dir die Quelle zu nennen. Laß Dir vorerst genügen, wenn ich Dir mit meinem Ehrenworte bestätige, daß sie zuverlässig ist und nicht den Schatten eines Zweifels übrig läßt. Die Mittheilung stammt von einem Zeugen. Jetzt frage ich Dich, – glaubst Du, daß dieser – Bube es bis zum Aeußersten treiben, daß er wagen wird, heute wirklich in mein Haus zu dringen und die Hand meiner Tochter von mir zu fordern?“

Die mächtigen Augen des jungen Mädchens schienen tief in sich hineinzublicken, ihr Körper erzitterte, wie der Zweig zittert,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_571.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)