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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Sie hatten sich, die wichtige Unterredung in Ruhe führen zu können, am Rande des Waldes in den Schatten gesetzt. Jetzt erhob sich Gotthold rasch, ergriff Reisetasche und Malkasten, die Jochen neben sich in das Gras gelegt hatte, schüttelte dem Gefährten kräftig die braune harte Hand und wandte sich in den Wald, ohne sich umzusehen.

Jochen blickte dem Davonschreitenden nach, nahm dann sein eigenes kleines Bündel mit dem Stock auf die Schulter und begann die Haide hinaufzuschreiten, über deren höchstem Rand das Dach der väterlichen Schmiede eben sichtbar wurde.




6.


Schnellen Schrittes, rastlos, als habe er keine Minute zu verlieren, eilte Gotthold durch den Wald. Aber es waren nur die schlimmen, qualvoll traurigen Gedanken, die ihn also jagten, und die nicht von ihm lassen wollten, so wenig wie der Mückenschwarm, der mit ihm in den Wald gezogen war und steigend, sinkend, jetzt zurückbleibend, jetzt wieder vorauseilend, sein Haupt umschwebte.

„Daß ich es immer hören muß, und überall und von allen Zungen,“ murmelte er, „als hätte ich es zu verantworten, als wäre es ein Vorwurf für mich, daß sie nicht glücklich ist! Glücklich! wer ist es denn? Die unfehlbaren Leute vielleicht, die ihr moralisches Einmaleins vorwärts und rückwärts hersagen können, wie dieser Wollnow, der kluge, selbstgerechte Pharisäer; oder wie der gute Jochen, dem fünfzehn Jahre mehr oder weniger bei seiner Stine nichts ausmachen, wenn ihm nur gute Verköstigung garantirt wird? Aber sonst – bin ich glücklich? sind es tausend und tausend Andere, die kaum eine größere Schuld haben, als die, daß sie Menschen sind, Menschen mit einem Herzen, das fühlt und mitfühlt, und leidet und mitleidet? Fluch dem Mitgefühl und Fluch dem Mitleid! Sie machen uns zu den erbärmlichen Geschöpfen, die wir sind. Was rauscht ihr, ehrwürdige Buchen, die ihr Jahrhunderte schon zur Herbsteszeit die dürren Blätter hier auf den Waldboden streut, um im Frühling wieder im vollen Schmuck des grünen Laubes zu glänzen? was murmelst du, kleiner Bach, der du heute so geschäftig dein braunklares Wasser zum Meere trägst, wie damals, als ich, ein munterer Bube, an deinem Rande spielte, und mir ein Sprung hinüber und herüber eine Heldenthat dünkte? Ach! in dem Rauschen, in dem Murmeln, – ich höre dasselbe Lied, das gestern die Schwalbe sang, das Lied von der ewigen Jugend der Natur, der immer sich gleichen und immer gleich kraftvollen, immer gleich herrlichen; und von der Vergänglichkeit, der Hinfälligkeit des Menschen, der von Furcht und Hoffnung das kümmerliche, nimmersatte Dasein fristet, um sich frühen Tod an dieser Schattenspeise zu essen, und doch noch am glücklichsten ist, so lange sein Herz noch fürchten und hoffen kann, das sich nie wieder füllt, wenn es einmal geleert ist, oder, wenn es sich wieder füllt, wenn es wieder schwillt, mit Verachtung sich füllt, von Unmuth schwillt, daß es je so thöricht sein konnte, in Furcht und Hoffnung bang zu schlagen. Nun, ich hoffe nichts mehr, so brauche ich auch nichts mehr zu fürchten, auch nicht den Blick, der mich dort oben erwartet.“

Von dem breiteren, gänzlich vernachlässigten Wege, der dem Lauf des Waldbaches bisher gefolgt war und auch nach rechts in die Tiefe des Waldes weiter zum Meere folgte, zweigte sich links ein Fußpfad ab, welcher anfangs noch zwischen mächtigen Stämmen, bald aber durch niedrigeres und immer niedrigeres Unterholz aufwärts führte. Dann war der Rücken des Hügels nur noch mit Haidekraut und Ginster überlaufen bis zur höchsten Kuppe, auf welcher Menschen der Vorzeit aus gewaltigen, jetzt mit zolldickem Moos bewachsenen, zum Theil tief in den Boden gesunkenen Felsblöcken ihrer Fürsten einem das riesenhafte Grabmal errichtet hatten. Es war der Platz, von dem aus Gotthold damals mit unsicherer Hand die Farbenskizze entworfen, die er hernach zu dem Gemälde benutzte, das in Frau Wollnow’s Stube hing.

Und da stand er nun nach zehn langen Jahren wieder – im Schatten eines der Blöcke, der ihm gegen den heißen Strahl der Sonne Schutz gewährte – und vor ihm dehnte sich die Landschaft, an deren wunderbarer Schönheit sich das Auge des Knaben nie hatte ersättigen können. – Ach, die Zeit hatte keinen der Reize des Bildes verwischt; ja, es war, als ob die Stunde eigens dazu angethan sei, ihm das Paradies seiner Jugend in seinem ganzen Zauber zu zeigen.

Die Stunde des Mittags! In funkelndem Sonnenschein gebadet die Wipfel der Buchen, über die sein Blick in smaragdene Wiesen und goldene Kornfelder sich senkte – die Wiesen und Felder von Dollan, das wie ein stilles, sonniges Eden zwischen den schattenreichen, waldgekrönten Hügeln lag, die es von allen Seiten erschlossen. Und inmitten der Wiesen und Felder, auftauchend aus dem dunkleren Grün der Gartenbäume, die strohgedeckten Dächer der Hofgebäude und das Ziegeldach des langen niedrigen Herrenhauses, in dessen rothem Giebel er deutlich das kleine Fenster des Stübchens erkannte, das er, so oft er in Dollan war, zusammen mit Curt bewohnte. Welche Erinnerungen dieses Fensterchen in ihm wachrief! und wie sein Blick daran gebannt war und sich kaum losmachen konnte, um rechts, wo sich die Hügel öffneten, in das blaue Meer hinauszuschweifen, auf welchem ferne weiße Segel wie Sterne erglänzten; oder links über die weite braune Haide, auf der die einsame Schmiede unter der uralten Eiche, dem einzigen Baum in der schattenlose Oede, lag, deren Rand wiederum von höheren Waldhügeln überragt wurde, die das Bild nach der Landseite abschlossen!

Die Stunde des Mittags, die Stunde des großen Pan! kein leisester Hauch in dem glanzvollen Aether, regungslos die blendend weißen Wolken an dem stahlblauen Himmelsgewölbe, regungslos die Wipfel der Bäume, regungslos selbst die blühenden Sträuche, ja die langen Halme der Gräser. Kein Laut in der unendlichen Stille; selbst die Cicade, die bis jetzt zwischen den Steinen des Hünengrabes geschwirrt hatte, schwieg, erschreckt vielleicht von der braunen Schlange, welche mit erhobenem Halse, die runden glänzenden Augen starr auf Gotthold gerichtet, wenige Schritte von ihm entfernt auf einem der Felsblöcke, den übrigen Theil des schuppigen Leibes in dickstem Haidekraut begraben, regungslos lag. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, und betrachtete sie jetzt nicht ohne einen gewissen Schauder. War es doch, als ob die Erstarrung, in welche die Natur versunken war, wesenhaft geworden sei; als ob der Geist der Einsamkeit und Verlassenheit Gestalt angenommen. Wehe, wenn die Einsamkeit dort unten in dem Herrenhause mit dem verwilderten Garten, wenn die Verlassenheit in diesem von allem menschlichen Verkehr so weit entfernten Thale dich anstarren mit diesen grausamen kalten Augen! wenn du hinaushorchst in die Stille nach einer lieben Menschenstimme und nichts hörst als das siedende Blut in den Schlafen und das bange schwere Klopfen deines Herzens!

Fort, Dämon, fort!

Er hatte den Stab erhoben; die Schlange war verschwunden; er konnte, als er an den Felsen trat, wo sie gelegen haben mußte, nur noch eben die nickenden Blumen des Haidekrautes sehen, durch dessen dichtes Wurzelgeflecht sie fortgeschlüpft.

Oder war es nur ein Bild seiner Phantasie gewesen? und was die Blumen nicken machte, der leise Hauch, der jetzt durch die heiße Luft spielte und stärker und stärker wurde, so daß ein Wispern und Flüstern rings um ihn her entstand, und es jetzt aus dem Walde hinter ihm, und jetzt in den Wipfeln unter ihm zu raunen begann, und endlich voll und kühl der Wind vom Meere her über die lechzende Erde rauschte?

Der Zauber war gebrochen, Gotthold sah wieder in die Landschaft; aber jetzt mit dem Auge des Künstlers, der seinem Gegenstande die beste Seite abzugewinnen sucht.

„Ich hatte damals die Morgenbeleuchtung gewählt, wenn man dergleichen Wahl nennen darf; das war falsch und ich mußte mir für das Bild die Lufteffecte künstlich zurecht machen. Aber die Sonne muß dort links in mäßiger Höhe über der Haide stehen, ungefähr über der Schmiede, das wird gegen sechs Uhr sein; bis Acht kann ich haben, was ich brauche. Ich glaube, es wird ein gutes Bild werden, mit dem nicht blos die schwatzhafte Dame zufrieden sein kann.“


(Fortsetzung folgt.)




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