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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

dort erfahren, ich sei vor langer Zeit im Wagen fortgefahren, ohne zu sagen wohin.

„Wo haben Sie gesteckt, Sie Bösewicht?“ rief die Dame vom Hause mir entgegen.

„Beim Papste.“

„Ach was! scherzen Sie nicht – wir sind genug in Sorge um Sie gewesen!“

Nun zog ich meine Citation zur Audienz hervor, schlug siegreich jeden neidischen Zweifel darnieder und wurde von Allen ob meiner Errungenschaft lebhaft beglückwünscht. Natürlich mußte ich die Einzelheiten meines päpstlichen Besuches berichten, und Alle waren höchlich erfreut von der Liebenswürdigkeit und Humanität des edlen Oberhirten der katholischen Christenheit; dem Dr. theol. Papst aber, welcher damals während der Orientreise des preußischen Gesandtschaftspredigers dessen Stelle vertrat, wurde sein Namensvetter auf dem Stuhle Petri eindringlich als Vorbild aufgestellt. Wir beschlossen den Abend froh und mit der Hoffnung, uns dereinst in friedlicheren Zeiten wieder hier auf dem historisch bedeutendsten Punkte der Erde, dem Capitole von Rom, zu treffen, und dann womöglich Alle Pius die Hand zu küssen.

Und was ist daraus geworden? Von uns, den „Niedriggepflanzten“, spreche ich nicht, aber von ihm und seinem Werke. Er wollte die Einigung Italiens schaffen: mit Hülfe fremder Waffen ist die Einheit gekommen, aber die Einigung ist noch weit; denn diese kann dort, wie überall, nur geschaffen werden durch einen großen Mann auf dem Throne und redliche Arbeit des ganzen Volkes.

Und Pius selbst? – Noch immer weilt er als Statthalter Christi einsam im Vatican. Nur selten durchbrechen mühsam zusammengebrachte Loyalitätsadressen den Kreis, welchen eine fanatische Partei so eng um ihn gezogen, daß er weit mehr ein Gefangener als ein Herrscher der Kirche zu sein scheint. Und nicht einmal der Glorienschein des Märtyrers soll sein Haupt zieren; denn die italienische Regierung zahlt ihm eine wohlbemessene Civilliste von 3,225,000 Franken jährlich. Sie erhält ihn und sie kennt sehr wohl die unerbittliche Macht des Geldes.

Armer Pius! Wie oft magst du in kummervoll durchwachten Nächten voll bitteren Schmerzes geseufzt haben: „O, hätte ich doch nie den Degen mit dem Brevier vertauscht!“

J. v. U.




Eine Schweizerfahrt.


Es giebt wohl keine größeren Contraste, keine jäheren Sprünge der Temperatur und Vegetation, keine auffallendere Verschiedenheit der Sprachen und Sitten, als die höchst interessante Straße über den St. Gotthard, dieser alte, berühmte Verbindungsweg zwischen Deutschland und Italien, bietet. Als wir unser letztes Nachtquartier in Bellinzona verließen, glaubten wir durch einen herrlich angelegten, kunstvollen Garten zu wandern. Prachtvolle Magnoliabäume mit großen, weißen Blüthen, hohe Lorbeerbüsche, grüne Myrthen und roth glühende Granaten wuchsen hier im Freien; am Spalier hingen goldene Citronen und Orangen wie bei uns Pfirsiche und Aprikosen. Der Weinstock bildete fortlaufende Guirlanden und Laubgänge, unter denen die reizenden, wegen ihrer Schönheit und Anmuth berühmten Mädchen und Frauen von Bellinzona mit schwarzäugigen Kindern, vor den brennenden Sonnenstrahlen geschützt, ihre Siesta hielten. Die ganze Landschaft bot ein Bild des heiteren Südens, während die Stadt mit ihren Burgen und Mauern einem Stück verkörperten Mittelalters glich und uns unwillkürlich an frühere Kämpfe erinnerte, als Bellinzona noch einer der Schlüssel und Bollwerke zu den Alpenpässen war.

Ganz denselben Charakter zeigt das dreizehn Stunden lange Livinerthal, wo das italienische Wesen noch vorherrschend ist. Malerische, aber meist zerfallene Häuser mit flachen Dächern, reich ausgestattete Kirchen, braune Männer und Frauen mit zigeunerhaftem Anstrich, schöne, aber schmutzige Kinder und besonders zahlreiche Geistliche in langen, schwarzen Röcken und mit breiten Hüten, meist wohlgenährte Diener des Herrn, die einen unbeschränkten Einfluß auf die bigott katholische Bevölkerung ausüben, wovon wir selbst uns noch heute überzeugen sollten. Wegen unseres zerrissenen Schuhwerks wendeten wir uns nämlich in einem Dorfe am Wege an einen Schuhmacher. Dieser aber erklärte uns zu unserem Bedauern, daß er uns unmöglich dienen könne, weil gerade heute das Fest der Schutzpatronin, der heiligen Petronella, gefeiert werde, weshalb er nicht arbeiten dürfe, ohne eine schwere Sünde zu begehn. Durch unsere dringenden Bitten ließ er sich endlich rühren, aber zuvor wollte er noch mit dem Herrn Curate, dem Ortsgeistlichen, reden und dessen Erlaubniß einholen. Zu unserer Freude kehrte der fromme Schuster bald mit der Genehmigung des würdigen Priesters zurück, dessen Toleranz wir in der That höchlichst bewunderten und priesen. In wenigen Minuten wurde auch der kranke Stiefel durch Auflegung eines tüchtigen Lederpflasters geheilt, wofür unser gewissenhafter Meister jedoch den unerhörten Preis von vier Franken, etwa einem Thaler und zwei Silbergroschen, forderte, während dieselbe Arbeit in Berlin höchstens fünf Silbergroschen kostet. Als wir, über diese Prellerei erzürnt, unsern Schuster zur Rede stellten, antwortete er, daß er dem Curate für die ertheilte Erlaubniß die Hälfte des Gewinnes abgeben müsse, dieser ihm aber empfohlen habe, das Doppelte des gewöhnlichen Preises zu fordern, da die Arbeit an einem der heiligen Tage eine Extravergütigung verdiene. Es blieb uns nichts übrig, als die vier Franken ruhig in majorem Dei gloriam zu zahlen.

Nach diesem kleinen Abenteuer setzten wir unseren Weg weiter fort über das berühmte Schlachtfeld von Giornico, wo sechshundert Schweizer im Jahre 1487 einen glänzenden Sieg über fünftausend Mailänder erfochten. Auf den Rath ihres Anführers, des tapferen und klugen Richters Stanga, leiteten die von der Uebermacht bedrängten Eidgenossen das Wasser des Ticino auf die abschüssigen Wiesen, wo es in der kalten Decembernacht eine leichte Eisdecke bildete. Die Schweizer schnallten an ihre Schuhe die üblichen Eissporen an, die ihnen einen festen Tritt gestatteten, während die Italiener, auf schlüpfriger Fläche anstürmend, theils ausglitten, theils einbrachen und unter den wuchtigen Hieben der kleinen, ihren Vortheil wahrnehmenden Schaar erlagen. Fünfzehnhundert Erschlagene färbten mit ihrem Blute den weißen Schnee; das ganze Mailänder Heer gerieth in Verwirrung und ergriff die Flucht. Die Schweizer aber galten seitdem als die besten Krieger bei ihren Nachbarn, und selbst mächtige Könige bewarben sich um die Freundschaft der tapferen Republikaner.

Die Gegend wurde immer schöner und malerischer, rebenumkränzte Hügel, trotzig zum Himmel emporragende Felsen, grüne Matten, rauschende Wasserfälle und silberne Cascaden boten eine Fülle der herrlichsten Naturbilder, eine fortlaufende Gallerie der wunderbarsten Landschaften, welche unsere Augen entzückten, während uns die frische Alpenluft mit ihrem kräftigen Hauch erquickte. In Faido, dem Hauptort von Mittel-Livinien, sahen die Häuser bereits stattlicher, fast elegant aus und auch im Innern fanden wir mehr Reinlichkeit und Ordnungssinn, als man sonst in dem Canton Tessin anzutreffen pflegt. Obgleich Sprache und Sitten noch italienisch sind, glaubten wir doch bereits den deutschen Einfluß zu spüren. Die Abhänge der Berge sind mit Obstbäumen bepflanzt, und auf den Höhen wird die Alpenwirthschaft schon nach Schweizer Art betrieben. Die Dörfer rücken weiter auseinander und lösen sich in zerstreute Häuser und Hütten auf nach altgermanischer Sitte, während die romanische Bevölkerung sich enger zusammenschließt und auch ihre Wohnungen dichter aneinander baut.

Auch in Airolo wird noch vorwiegend italienisch gesprochen, aber gleich dahinter tritt die deutsche Zunge und Sitte in scharfem, überraschend jähem Wechsel hervor. Zugleich verschwinden die letzten Boten des Südens, der Weinstock hörte auf, und an die Stelle der üppigen Nußbäume und der edlen Kastanie trat die dunkle Tanne und die am Abgrund wachsende Lärche. Die Straße wurde immer steiler, die Gegend wilder und erhabener. In kunstvollen, aber höchst beschwerlichen Zickzackwendungen führte uns der Weg durch das gefürchtete Trümmelethal, Val Tremolo, wo im Frühjahr die Lawinen von den nahen Bergen niederfallen und den Wanderer zu begraben drohen. In wilden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_556.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)