Seite:Die Gartenlaube (1872) 553.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Als ich im Sommer 1848 auf dem Hufhause einsprach, gerieth ich mit dem fünfundachtzigjährigen Patriarchen der Familie, die schon seit langer Zeit diese paar Häuser bewohnt, in ein lebhaftes politisches Gespräch; er hatte gehört, daß sich der Franzose wieder geregt habe, und wollte Näheres wissen. Kaum hatte ich dabei Louis Napoleon’s erwähnt, so meinte er mit schlauem Lächeln: „Ja, ja, das hab’ ich wohl gewußt, daß sie den nicht unterkriegen werden.“ Für ihn lebte immer noch der erste Napoleon, und von einem zweiten und dritten wollte er nichts wissen. – Aber wenn auch von dem Wogenschlage der politischen Welt nur selten ein Tropfen auf diese Höhen spritzt und selbst die wichtigsten Ereignisse den Frieden des Waldes nicht leicht stören, so reicht doch ein stiller Kreis von Arbeit vollkommen hin, den menschlichen Geist auch hier zur Entwickelung zu bringen. Davon hat mich sechszehn Jahre später in demselben Hufhause ein Gespräch mit einer Schwiegertochter jenes Alten überzeugt, einer auch schon hochbetagten Frau, die selten von ihren Bergen heruntergestiegen war, aber über Menschen und Dinge ein so sicheres, klares Urtheil hatte, daß manche Salondame sie darum hätte beneiden können.

Was von vielen dieser Waldhäuser härter empfunden wird, als ihre Abgeschiedenheit vom Weltgewühl, ist ihre Entfernung von Kirche und Schule. Hufhaus, Sophienhof und Rothesütte waren ursprünglich Försterwohnungen im Hohnstein’schen Forst, der bei der Erbtheilung zwischen den Stolber’gschen Grafenhäusern an Wernigerode gefallen war. Allmählich wurden ihnen noch Viehhöfe, Schenken und einige Häuser für die allernöthigsten Holzarbeiten zugesellt; doch bestimmte noch ein Vertrag von 1709 „für ewige Zelten“, daß sie nie zu einem Dorfe erweitert werden sollten. Aber die Seelenzahl wuchs immer mehr, und da Ilfeld, wohin diese Häuser eingepfarrt waren, weitab liegt, so sah sich der Graf von Wernigerode schon 1734 genöthigt, für die Bedürfnisse der drei Forstörter in Rothesütte eine Kirche zu erbauen und einen eigenen Prediger und Schullehrer anzustellen. Für Hufhaus freilich war damit wenig gewonnen; es liegt drei Stunden von Rothesütte entfernt, und nur zwei Mal des Jahres kommt der Prediger herüber, um in einem Zimmer der Försterwohnung das Abendmahl auszutheilen.

Noch drückender für manche dieser einsamen Wohnstätten ist ihre Entfernung von der Schule. Wie wenige ihrer Bewohner vermögen einen Hauslehrer zu halten, oder ihre Kinder auswärts in kostspielige Pension zu geben! So müssen denn die Kleinen in Sommer und Winter, durch Schnee und Regen, vielleicht eine Stunde weit zur Schule wandern. Allerdings gewinnen sie dadurch an Selbständigkeit, und überhaupt steht so ein echtes Harzkind ungleich früher und sicherer auf seinen Füßen, als ein Kind der Ebene. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des kleinen Geschwisterpaars, das ich im Jahre 1855 auf dem langen, einsamen Waldwege von Wildemann nach Bockswiese einholte. Das achtjährige Mädchen trug eine schwere Kiepe mit Lebensmitteln für den Vater, der als Bergmann auf Bockswiese arbeitete; ihr sechsjähriger Bruder aber, einen mächtigen Wanderstab in der Hand und ein großes Schlägel und Eisen vor der Mütze, schritt als Beschützer nebenher wie ein erwachsener Bergmann und als ob ihm gar nichts passiren könne. Und doch strich weiterhin ein gar verdächtiger, zerlumpter Geselle an uns vorüber. Auf der entgegengesetzten Seite des Harzes, auf dem Wege von Breitungen nach Dietersdorf, begegnete mir im Jahre 1846 einmal ein andrer, etwa achtjähriger Junge, ebenfalls in einsamster Gegend. Auf mein Befragen, woher er komme, erzählte er mir treuherzig, daß er von einem Kunden seines Vaters, eines armen Flickschneiders, einen Gulden „gelangt“ habe. Eine Warnung, die mir unwillkürlich auf die Lippen trat, verschluckte ich wieder; denn in der That wäre es ein schlechter Handel gewesen, hätte ich dem arglosen Jungen um den Preis seiner kindlichen Weltanschauung eine armselige Klugheitsregel geboten. Wie sorglos der Harzer seine Kinder aufwachsen läßt, dafür könnte ich noch viele Belege geben. In dem einsamen Thale der Krummschlacht sah ich im Jahre 1867 vor mir auf dem Wiesenpfade ein Bündel Kleider liegen. Als ich näher kam, guckten unter den Lumpen ein Paar Aermchen und Beinchen hervor. Es waren ein Paar Kinder von vier bis sechs Jahren, die hier, zu einem Knäuel verschlungen, sich quer über den Weg dem Schlafe überlassen hatten. Aber der Himmel schien sie besser zu hüten, als sie selbst die paar Gänse, die in der Nähe weideten. Ich machte mir den billigen Spaß, in ihre ausgestreckten Händchen einige Kupferdreier zu legen, und denke es zu verantworten, wenn sie dadurch beim Erwachen zu dem Glauben an Wunder verführt worden sind. –

Ein wehmüthiges Gefühl ergreift den Wanderer, wenn er eine Gegend, die er früher durch ein freundliches Haus belebt kannte, nun verödet wiedersieht. Nach dem Bauersberger Zechenhause, wo ich im Jahre 1825 meinen ersten schüchternen Versuch im Kegelschieben machte, sah ich mich im Jahre 1858 vergebens um. Selbst der an ihm vorüberführende Fußsteig von Clausthal nach Grund schien wenig mehr betreten, seitdem mitten durch den Berg der Schulte-Stollen nicht nur das Wasser der Innerste zur Grube Hülfe-Gottes, sondern auch den Fußgänger bequemer nach Grund führt. Von einer verschwundenen Meierei im anhaltischen Harze, Dammersfeld, habe ich an einem andern Orte erzählt; hier möge noch einer braunschweigischen gedacht werden, die mich einst gastfreundlich aufgenommen hat.

Es war im September 1827, als ich auf einer Wanderung von Nordhausen nach Magdeburg den Harz durchstreifte. Ich hatte in Tanne übernachtet und brach nach Rübeland auf, um einen Freund zu überraschen. Der Weg war einsam und ermüdend. Nachdem ich einen tüchtigen Berg erstiegen, schlängelte sich der schmale Fußpfad, indem er sich oft verzweigte und mich um die Wahl verlegen machte, zwischen Dorngesträuch und Haselstauden über eine weite Ebene hin. Kein menschliches Wesen war weit und breit zu erspähen; nur hier und dort flatterte krächzend ein Rabe auf, oder ein Hase sprang durch’s Gebüsch, oder es summte ein bläulich-schwarzer Käfer an mir vorüber.

Endlich winkte mir ein rothes Ziegeldach. Ich war achtzehn Jahre alt und ein paar Stunden marschirt, – was konnt’ es anders sein, als ein Wirthshaus? Als ich in das große Gastzimmer trat, war es zu meiner Verwunderung leer; doch erschien gleich darauf ein junges, schlankes Mädchen mit ernsten, aber schönen Zügen und brachte mir auf mein Verlangen Milch und Butterbrod zum Frühstück. Die eigentliche Schänkstube mochte wohl nebenan sein, denn dort ging’s lebhaft genug zu. Vermuthlich Fuhrleute, dachte ich, die über den Weg streiten; nur fiel mir das Tactmäßige in ihrem Schreien auf, und daß Einer von ihnen, ein echter Haberecht, immer das letzte Wort behielt. Ich ließ sie streiten, setzte mich, behaglich frühstückend, an’s Fenster und knüpfte mit meiner jungen Wirthin ein Gespräch an. Als dann aber die Brille, deren Gläser Hunger und Durst waren, mir allmählich von der Nase glitt, sah ich zu meinem Erstaunen, daß ich mich nicht in einer Gaststube oder einem Tanzsaale, sondern in einem schönen großen Ahnensaale befand, dessen Wände mit zahlreichen Portraits bedeckt waren; ich hörte deutlich, daß nebenan nicht Fuhrleute, sondern der Informator mit seinen Zöglingen lärmte, – kurz, ich merkte jetzt, daß das ein stolzes Amthaus sei, was mir durch die verwünschte Brille wie ein Wirthshaus erschienen war. Aber jugendliche Unbefangenheit, die mich in das Haus geführt, half mir auch ohne große Beschämung wieder heraus. Gegen meinen Dank für genossene Gastfreundschaft tauschte ich die freundlichsten Wünsche für ferneres Wanderglück ein und nahm aus dem prächtigen Saale, wenn ich auch die steifen Allongeperrücken in ihren breiten Goldrahmen weislich hängen ließ, doch ein liebes Erinnerungsbild an das Gut „Lange“ mit fort.

Einunddreißig Jahre waren seitdem verflossen, und es war wieder ein heiterer Septembertag, als ich von Rübeland nach Hasselfelde wanderte. Der schöne schattige Fußweg, der kaum eine Viertelstunde von Rübeland rechts von der Straße ablief, mußte wohl nach Lange führen; und richtig! da stand ja noch der alte Wegweiser unter Bäumen versteckt. Aber er ließ seine Arme traurig herabhängen, und der Name „Lange“ war auf dem verwitterten Holze kaum mehr zu lesen. Trotz dieser warnenden Anzeichen trieb mich die Erinnerung vorwärts. Auf ein Stündchen Umweg kam es mir nicht an, um das gastfreundliche Haus einmal wiederzusehen. Ich wußte ja, wenn ich den schönen Fußweg eine halbe Stunde verfolgte und dann rechts um eine Waldecke bog, mußten die Gutsgebäude in einer Lichtung vor mir liegen. Ja freilich, die Waldecke kam und auch die Lichtung, – aber wo war das Gut geblieben? Dort stand doch noch sein alter Nachbar, der majestätische Ahorn, und schaute wie sonst nach der Susenburg und der Elbingeroder Ebene hinüber, – sollt’ ich mich denn in

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_553.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)