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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ganze Wände frei. Ueberall fanden wir die Einrichtung des mittleren Bürgerstandes, das jedes Zimmer so behaglich machende Sopha, Secretär oder Commode, oder Beides, Tritt und Nähtischchen vor dem Fenster, Spiegel und Bilder, Vogelhäuschen und Blumenstöcke und – die Vorhänge am Fenster, welch letztere, nebenbei bemerkt, sämmtlich mit Außen- oder Winterfenstern versehen sind, denn die Alten wollen vor allen Dingen „warm stecken“.

„Wie gefällt’s Ihnen denn, Mütterchen, in dem neuen Hause?“

„Ach, gar sehre prächtig, wir leben hier wie im Himmel.“

„Aber giebt es nicht doch auch in diesem Himmel manchmal ein wenig Feindschaft und Streit?“

„Nein, nein, nein,“ wehrte die Alte, mit den Händen eifrig gegen den Verdacht fechtend, ab. „Das wäre ja ganz abscheulich von uns!“

„Nun, aber doch so manchmal ein kleines Zänkchen, nicht wahr?“

„Ja, sehnse nu, freilich, was eben so zum Leben gehört.“

Wir drückten dem offenherzigen Mütterchen die Hand und gingen; aber sie ging mit, und Thür um Thür öffnete sich, denn sie plaudern ja alle so gern und hören gern was Neues, die guten Alten. Bei einem Manne sahen wir eine Drechselbank, denn arbeiten darf man, wenn es nicht störendes Geräusch für die Nachbarschaft verursacht. Eine andere Thür führte uns in eine Wohnung von einem Ehepaare; diese besteht aus Stube und geräumiger Kammer für zwei Betten. Der Mann trieb zu seinem Zeitvertreib sein Schneidergeschäft fort, und die Frau versicherte uns, es sei doch recht schön, daß sie nicht mehr an Miethzins und Steuern zu denken brauchten und Mittags und Abends ihr „Tischchen-deck-dich“ hätten. Wieder betraten wir ein Frauengemach. Die Insassin rief uns zu:

„Ach, meine Herrschaften, sehen Sie nur ja nicht an mein Fenster Ich hab’ ein lahmes Bein und da konnt’ ich meine Vorhänge noch nicht aufmachen.“ Wir suchten sie zu beruhigen, aber sie öffnete sofort eine Commode und zeigte uns ihre blüthenweißen neuen Vorhänge. Auf unsere Bemerkung, daß es ja auch ohnedies äußerst nett und freundlich bei ihr sei, gab sie uns zur Antwort:

„Ich danke Ihnen, meine Herrschaften, aber die da draußen (auf der Straße) sollen auch sehen, wie hübsch es bei uns ist.“

Eine bessere Lobrede kann dem Johannisstift nicht gehalten werden. Wir stiegen nun zum Betsaale hinauf; unterwegs lernten wir noch eine Vorrichtung gegen Feuersgefahr, lange, mit der Wasserleitung in Verbindung stehende Schläuche, und einen Aufzug kennen, auf welchem diejenigen Alten, welchen das Treppensteigen gar zu schwer oder unmöglich ist, auf- und abbefördert werden; dies Alles steht unter Aufsicht angestellter Maschinenmeister. Der Betsaal macht einen ebenso erhebenden, als freundlichen Eindruck, Alles hoch und hell, Altar und Orgel einander gegenüber, Säulen- und Fensterrosettenschmuck bunt und doch würdig und einfach. Die Greisengemeinde ist entzückt über ihre „schöne Hauskirche“, aber den Wunsch äußerten Viele: „Wenn doch auch alle Sonntage eine richtige Predigt gehalten und nicht so oft blos vorgelesen würde!“ –

Wir begaben uns von der geistlichen zur allerleiblichsten Anstalt, von der Thurmnähe bis unter das Vestibule hinab in die große Küche. Sie ist fünfundzwanzig und eine halbe Elle lang, dreiundzwanzig Ellen breit und sieben und eine halbe Elle hoch. Der große Herd in der Mitte erregt aller Frauen Wonne. Wenn nicht die seitwärtsstehenden großen Bratröhren gebraucht werden, ist hier kein Funke Feuer nöthig: alles Kochen besorgt der Dampf, der für die Küche, die Bäder, die Bäckerei und zum Betrieb der vierpferdigen Dampfmaschine (für die Desinfection und den Aufzug) in einem Kessel von zehn Quadratmeter Heizfläche und zwei Atmosphären Ueberdruck erzeugt wird. – Die Speisen bestehen an bestimmten Tagen je aus Suppe, Gemüse und Fleisch oder aus Braten und Zubehör. Zur Vertheilung sahen wir ganze Stöße von Tellern und Näpfen stehen, deren jedes die Zimmernummer des Besitzers trägt; eine Wage dient zur gewissenhaften Abwägung der Fleischportionen, und der Aufzug befördert die Speisen für die einzelnen Abtheilungen nach den verschiedenen Stockwerken, so daß Jedwedes das Seine ebenen Ganges sich von dem Tisch in den sogenannten Lichtfangräumen holt, in welchen es aufgestellt wird.

Das „Tischlein-deck-dich“ gilt nur für Mittag und Abend. Damit die Alten einige Beschäftigungen und kleine Sorgen haben, wie sie „eben zum Leben gehören“, wird ihnen kein Kaffee gereicht, sondern so viel Brod mehr, als sie brauchen, daß sie aus dem Verkauf desselben die Mittel zur Beschaffung des Kaffee gewinnen können. Dazu ist eine Kaufs- und Verkaufsstelle im Stifte selbst eingerichtet. Ihr Kaffeechen kochen sich die Alten am liebsten selber. So ist in jeder Weise für Ruhe, Genuß und Arbeit gesorgt. Für die Bewohner von zweihundertundvierzehn Einzelstuben, vierundfünfzig Doppelstuben (für Eheleute) und sechs Stuben für mehrere Personen, die im Ganzen die Zahl von dreihundertachtzig bis dreihundertneunzig erreichen können, ist dieses Prachtgebäude erbaut und mit einem wahren Geäder von Wasser-, Gas- und Abflußröhren durchzogen; doch ist die Gasleitung nur für zweihundertneunundvierzig Flammen zu allgemeinem Dienst eingerichtet; in den Zimmern brennen die Hospitaliten ihre Lampen, um ihrer eigenen Sicherheit willen.

Gegenwärtig ist die Zahl aller Stiftsinwohner 205; davon sind 29 Männer, 142 Frauen, 17 Paar Eheleute und 10 Beamtete der Stiftsverwaltung mit der erforderlichen Dienerschaft.

Fr. Hfm.




Tief unter der Erde!


Vorstehende Ueberschrift trug ein Aufsatz in Nr. 29 dieser Zeitung vom Jahre 1867, der den Lesern der Gartenlaube das schreckliche Ereigniß schilderte, von welchem am Morgen des 1. Juli 1867 das Steinkohlendorf Lugau bei Chemnitz heimgesucht worden war.

„Hoffnungslos verloren!“ So hieß es dort von den „hundertundzwei Bergleuten“, welche in dem Steinkohlenschacht Neufundgrube bei Lugau durch den Zusammensturz dieses ihres einzigen Ausweges aus der Tiefe lebendig begraben waren. „Alle angestrengten und mit wahrer Todesverachtung von den Betheiligten ausgeführten Rettungsarbeiten sind erfolglos!“ das war mit kurzen Worten der traurige Inhalt jener Botschaft. Jetzt nun, nach fünf Jahren und einigen Tagen, ist das entsetzliche Grab dieser Verschütteten wieder geöffnet. Ein schweres Stück Arbeit bergmännischer Technik ist vollbracht. Die Verschütteten sind bis auf einen, dessen Auffinden demnächst zu erwarten steht, gefunden, und dieser Fund hat den Hinterlassenen wenigstens den Trost gebracht, daß jedenfalls der Tod jener Unglücklichen ein weniger qualvoller war, als die Phantasie und die Theilnahme der Ueberlebenden sich ihn gedacht hat.

Die Zahl der Verschütteten betrug übrigens nicht hundertundzwei Mann, sondern nur hundertundein Mann. Von diesen sind bis zum 23. Juli die Leichen von hundert Mann gefunden worden.

Der „Fundgrubenschacht“, von seinem jetzigen neuen Besitzer, der Lugauer Actiengesellschaft, Vertrauenschacht getauft, ist rechtwinklig und hat einen Querschnitt von 6,95 Meter Länge und 2,0 Meter Breite im Lichten, mit welchem er auf 526,75 Meter senkrecht in die Tiefe geht. Dieser Querschnitt wird durch eingebaute, vollkantige 0,20 bis 0,25 Meter starke und in den Ecken zusammengeplattete Hölzer (Umgangs- oder Jochzimmerung), bei deren Einbau Holz auf Holz gelegt wird, hergestellt. Die Jochzimmerung wird wiederum durch Fachzimmerung (Wandruthenstränge) noch unterstützt, und durch diese wird endlich der Schacht selbst in verschiedene Fächer (genannt Schachttrumen) getheilt, von denen jedes seinem besonderen Zwecke dient.

Der Vertrauenschacht hat fünf solcher Fächer oder „Schachttrumen“. Zwei derselben dienen als Förderschachttrumen, wobei in dem einen das volle Fördergefäß an einem Seile hinauf und gleichzeitig im andern das leere Gefäß, durch seine eigene Last jenem helfend, hinuntergeht. Im dritten Schachttrumen, welcher als Fahrschacht zum Ein- und Ausfahren (Ein- und Aussteigen) der Mannschaft dient, sind von acht zu acht Meter horizontal abgetäfelte Bühnen (Fahrbühnen) eingebaut, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_528.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)