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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Je ja!“ erwiderte Jochen, „haben Sie denn da unten“ – und er deutete mit dem Peitschenstiele irgend wohin in den dämmerigen Abend – „gar nichts gehört, was hier in unserer Gegend passirt ist?“

„Nichts, gar nichts, lieber Jochen, von wem sollte ich es auch gehört haben?“

„Freilich,“ sagte Jochen, „das Schreiben ist nicht Jedermanns Sache, meine zum Beispiel nicht; und wo Sie gewesen sind, da haben sie am Ende gar keine Posten und sonstige Gelegenheit. Mein Feldwebel – das war einer von den Alten, Gedienten – der war auch in Spanien gewesen, achtzehnhundertneun, und –“

„Aber ich war gar nicht in Spanien,“ sagte Gotthold, „ich war in Italien!“

Jochen kam dieser Einwand unerwartet und ungelegen; er hatte, während er stundenlang darüber gegrübelt, ob sein Passagier wohl der Pastorssohn aus Rammin sei, oder nicht, bei sich ausgemacht, daß, wenn er es sei, er jedenfalls geraden Weges aus Spanien kommen müsse; denn er hatte gehört, daß Gotthold die „Priesterei“ aufgegeben habe und jetzt in einem fremden Lande lebe, und Spanien war das einzige fremde Land, von dem er jemals hatte reden hören. So versank er denn, mächtige Wolken aus seiner kurzen Pfeife ziehend, in tiefe Nachdenklichkeit, und Gotthold mußte seine Frage, wo denn Herr Brandow nun wohne, so schwer es ihm wurde, ein paar Mal wiederholen.

„Ja, wo soll er wohnen,“ sagte Jochen endlich, „als in Dollan? er ist vom Pferde auf den Esel gekommen; aber das ist nun nicht anders, wenn die Herren immer so hoch zu Pferde sitzen wollen –“

„Und – und – seine Frau?“

Es mußte gefragt sein; aber Gotthold’s Lippen bebten, als er die Frage that.

„Unser armes Fräulein,“ sagte Jochen; „ja, die hat sich auch wohl nicht träumen lassen, als ich sie an dem Morgen mit Vieren lang zur Trauung nach P. fuhr, daß die Herrlichkeit so bald ein Ende haben würde. Ja, die ist nun wieder auf dem alten Fleck, und unser alter Herr und der junge Herr sind todt, und ihre ersten beiden Kleinen sind ja auch wohl todt, und nun hat sie man ja wohl nur noch eins.“

Sie lebte also, lebte wieder in Dollan, dem lieben Dollan, dem waldumgürteten, meerumrauschten, dem Orte, wo er die seligsten und unseligsten Stunden seiner Jugend durchlebt, dem heilig-unheiligen Orte, zu dem ihn seine Träume so oft, so oft zurückgeführt hatten in Trauer und Lust, daß er mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, ach, und so oft in Thränen erwacht war! Einen Augenblick war ihm, als wäre sie ihm wiedergegeben, als wäre noch Alles, wie es war. Er sah die schlanke Gestalt durch die Büsche des abendlichen Gartens schlüpfen, während er mit hochklopfendem Herzen oben am Fenster der kleinen Giebelstube stand und Curt die Verba auf „mi“ repetiren ließ, bis der die Grammatik auf den Tisch warf und erklärte, er werde das Zeug nie begreifen, und sie wollten lieber in den Garten zu Cäcilien gehen.

Gotthold fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Hatte er den geliebten Namen laut gerufen? Hatte Jochen, der in seiner eintönigen Weise die abgebrochene Erzählung wieder aufgenommen, ihren Namen genannt? Jochen wußte auch nicht recht, wie Alles zugegangen; denn er war noch in Berlin bei der Garde gewesen, als Herr Wenhof starb und der junge Herr Brandow zu seinem eigenen Gute Dahlitz auch noch das Klostergut Dollan übernahm; und dann, als Jochen von den Soldaten loskam, hatte er sich, da der ältere Bruder mit dem Vater für die Schmiede ausreichte, in Altefähr beim Gastwirth Peters als Knecht vermiethet und war dann nur von Altefähr fortgekommen, wenn er Reisende nach Stubbenkammer und sonst über die Insel zu führen hatte, und das geschah nicht eben oft. Auch hatte es sich nie getroffen, daß ihn sein Weg so nahe an Dollan, oder gar nach Dollan gebracht; denn welcher Fremde sollte wohl so weit abseits vom großen Wege fahren! Und so hatte er selbst die Schmiede noch nicht wiedergesehen, und wenn sein Brüder nicht ein- oder zweimal in Altefähr gewesen wäre, so wüßte er gar nicht, wie es jetzt in Dollan aussehe. Sein Bruder hätte freilich, wenn er es recht bedenke, auch nicht viel mehr zu erzählen gehabt, als was er schon von Anderen erfahren; denn Herr Brandow sei ja dafür bekannt, daß er die schönsten Pferde auf ganz Rügen und in Neuvorpommern habe, und komme ja auch alle Jahre im Herbste zum Wettrennen nach Str., und die adeligen Herren hätten ihre liebe Noth, gegen Herrn Brandow aufzukommen, wenn er auch nur ein Bürgerlicher sei; und beim Herrenreiten in diesem Jahre würde er wohl ganz sicher den Preis gewinnen; denn der Hinrich habe ihm ein Pferd trainirt, so eines sei noch gar nicht dagewesen. Und das sei ja richtig, der Hinrich verstehe mehr vom Pferdefleisch als alle die englischen Traineurs, die sich die anderen Herren so viel Geld kosten ließen, zusammengenommen, während Andere freilich meinten, es gehe dabei nicht mit rechten Dingen zu, und der Hinrich könne es mit seinen Schielaugen den Pferden anthun, so oder so, wie er wolle. Und daß es desgleichen gebe, das wisse er, als Schmiedssohn, auch; aber es sei ein großer Unterschied, ob es ehrliche Künste seien, wie sein Vater zum Exempel verstehe, oder ob ein Anderer dabei sein Spiel habe, den er nicht weiter bezeichnen wolle. Denn mit dem komme man nicht über den Berg; er lasse sich sein Vorspann zu theuer bezahlen. Dem Herrn Brandow habe es schon das schöne Gut gekostet, und welche sagten ja, daß er sich auf Dollan auch nicht würde halten können, und daß ihm die Teufelspferde die Haare vom Kopf fräßen. Ob Herr Gotthold auch an so etwas glaube?

„Nein, nein, nein,“ sagte Gotthold sich heftig aus seiner Ecke aufrichtend.

Jochen mußte sich die Pfeife frisch stopfen, um über diese Antwort, die er keineswegs erwartet hatte, in Ruhe nachzudenken. Gotthold störte ihn nicht in diesen Meditationen; still in sich versunken, saß er da, träumend von dem, was war, und von dem, was hätte sein können und nimmer hätte sein sollen. Nicht sein sollen? ja, aber nicht, weil das Schicksal es nicht gewollt; sondern weil die Menschen dies Schicksal gewollt, weil sie es sich bereitet, weil sie sich selbst in ihren Träumen, die sich zu Wirklichkeiten verdichten, in ihren Wünschen, die zu Handlungen werden, das Schicksal sind! War sie nicht mit dem Wunsche, da wieder Herrin zu werden, wo ihre Ahnen mütterlicherseits so lange als Herren gesessen, an jenem Abend bereits zurückgekommen, als sie von Dollan aus eine Partie nach Dahlitz gemacht, der Vater und sie und Curt und er? Wie war sie still durch die stattlichen Zimmer gewandelt und hatte die großen glänzenden Augen nachdenklich schweifen lassen über die dunklen Bilder an den Wänden mit den verblichenen Seidentapeten und über die mancherlei verschnörkelten Zierrathen auf den Simsen der Kamine, die dem unverwöhnten Auge ein Wunder von Kostbarkeit dünkten! Wie hatte sie in den Schlafgemächern mit der Hand leise über die Damastvorhänge gestrichen! wie hatte sie in den Gewächshäusern das glühende Gesicht wieder und wieder in die vollen Blüthensträuche gedrückt, als wolle sie sich berauschen in köstlichem Duft! Mit welcher Andacht hatte sie dem schielenden Hinrich zugehört, als er die Vorzüge der edlen Pferde schilderte, die ihre leichten Halfterketten an den Marmorkrippen erklirren ließen, und welch ein Jammer es sei, daß der junge Herr auf der landwirthschaftlichen Akademie seine Zeit verlöre, die er hier so viel besser anwenden könne! Und wie unwillig hatte sie den Freund, der ihr so viel zu sein wähnte, angeblickt, als er in eifersüchtigem Spott bemerkte, Karl Brandow könne um so früher zurückkehren, da er auf der Akademie voraussichtlich ebenso fleißig gewesen sein würde, wie vorher auf dem Pädagogium! Hernach hatte sie sich wieder auf dem großen Rasenplatz übermüthig mit den beiden Freunden geneckt, aber als sie dann in der großen hölzernen Schaukel saß – in der vorhin die Kinder gesessen –, den schönen Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere lässig mit den rothen Bändern des weißen Kleides spielte, und Gotthold herantrat, die Schaukel in Bewegung zu setzen – da war sie aufgesprungen und hatte lachend gesagt: ein so unwissendes Mädchen dürfe doch wohl einen so hoch gelehrten Herrn nicht bemühen. Er hatte nicht gewußt, wie bitter der Ernst war, der sich hinter dem Lachen versteckte; er hätte schwerlich, als er am folgenden Morgen in aller Frühe mit Curt wieder zurück in die gelehrte Frohnde mußte, durch die Ritze unter ihrer Kammerthür ein Blatt geschoben, auf das er die freie Uebersetzung einer Ode des Anakreon geschrieben:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_516.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)