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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Juden aus Handelsgeschäften mit Christen alle Klagbarkeit, so lange nicht eine förmliche gerichtliche Verlautbarung mit gleichzeitiger Verwarnung des Christen vorhergegangen war. Abgesehen von dem Umstande, daß damit die geistige Unmündigkeit des Christen gegenüber dem Juden geradezu anerkannt war, wirkten diese in der Neuzeit wohl überall aufgehobenen Gesetze nach beiden Seiten hin demoralisirend. Während sie die Juden zwangen, auf Mittel zu sinnen, sich auch ohne Hülfe der Gerichte bezahlt zu machen, stempelten sie auf der andern Seite den Christen zum privilegirten Betrüger. Erhöhte Bildung und ein rationeller Wirthschaftsbetrieb auf Seiten des Bauernstandes in jenen Gegenden werden die Factoren sein, welche dort eine richtige Ausgleichung herbeizuführen im Stande sind.

Kehren wir indeß zu unserer Judencolonie zurück. Sie hat sich nach Abwickelung ihrer Geschäfte in ihre Schlafkammer zurückgezogen. Es ist lichtscheue Dämmerung in dem engen Gemache, an dessen Wänden hin ein Strohlager sich breitet. Die dunklen Gestalten der Männer stehen umher und der am Fenster Stehende hält ein Buch in den Händen, dessen große hebräische Ziffern das hereinfallende Licht noch nothdürftig erhellt. Es ist ein hebräisches Gebet, das er aus dem Buche vorliest. Nach also vollbrachter Andacht nehmen die Juden ohne weitere Umstände auf ihrer primitiven Lagerstätte Platz. Ihr Anzug ist nicht von der Beschaffenheit, daß eine so unmittelbare Bekanntschaft mit Stroh und Diele ihn in seiner Reinheit noch wesentlich beeinträchtigen könnte.

Unter den Begleitern des Schmulche tritt namentlich ein hagerer Gesell hervor, der ein äußerst lebhaftes Mundwerk und eine sehr ausgeprägte Gesticulation hat. Es ist dies ein sogenannter „Schmuser“ (vom hebräischen schmuath, nach jüdischer Aussprache Schmuas, d. h. Geschwätz), eine sehr wichtige Person, ein Zureder, ein Unterhändler bei Handelsgeschäften der Bauern untereinander, eine Art Notar, nur von diesem wesentlich dadurch unterschieden, daß er zu seinem Geschäfte weder Tinte noch Feder braucht. Sein einziges Handwerkszeug ist seine Zunge. Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung war bei ihm weit eher eingeführt als in den Gerichtssälen. Seine Domaine ist der Viehhandel, sein Forum der Hof und freie Markt. Der Umfang und das Gewicht seiner Wirksamkeit datirt aus der feststehenden Thatsache, daß in den geschilderten Landstrichen kein Viehkauf ohne Vermittelung eines oder einiger Schmuser abgeschlossen wird.

Der Bauer versteht sich nicht auf’s Feilschen. Er ist geistig viel zu unbeweglich. Er bringt’s allein absolut nicht fertig. Er holt sich daher den Schmuser, diesen läßt er für sich handeln. Derselbe geht erst wie eine Art Plänkler oder Tirailleur vor. Er begiebt sich zu dem Viehbesitzer, deren er immer verschiedene in Vorrath hat, schaut sich das Rind an und beginnt mit dem Angebot. Dann stattet er dem Kauflustigen Rapport ab, holt dessen Instruction, beginnt von Neuem das Feilschen, rapportirt wieder, bis nach und nach die Parteien sich nähern und der Handel perfect wird. Am unmittelbarsten treten die einzelnen Phasen seiner Thätigkeit hervor auf offenem Markte. Viehmärkte wären ohne die Schmuser gar nicht möglich. Sie würden geradezu ins Stocken gerathen. Durch die Schmuser kommt erst Fluß in die trägen Massen, gewinnen die Märkte ein dramatisch belebtes, in verschiedene Gruppen vertheiltes Bild.

Ein solches Gruppenbild macht sich schon ohne die dazu gehörigen Worte verständlich. Da steht auf der einen Seite der lauernde Verkäufer, eine große breitschulterige Bauernfigur mit blauem Kittel, den breitkrämpigen braunen Filzhut tief über den Kopf hereingezogen. Die linke Hand hat er in den langen graubraunen Hosen von grobem Beidermannsstoffe. Er klimpert offenbar mit dort bereit gehaltenen Geldstücken. Auf der andern Seite steht sein leibhaftig Ebenbild. Man könnte ihn für seinen Bruder halten. Seine Gestalt ist nur etwas gedrungener und die Hosen reichen nur bis an’s Knie, um da von blauen gezwickelten Strümpfen ersetzt zu werden, welche in großen Schnallenschuhen stecken. Um die eine Hand hat er die Leine vom Halse des vor ihm stehenden Ochsen geschlungen, die andere aber hat der Schmuser in Beschlag genommen. Er rückt und zerrt an ihr, offenbar um sie dem Verkäufer näher zu bringen. Das lebhafte Spiel seiner Gesichtsmuskeln, die geschleuderten Blicke der dunkeln Augen begleiten diese Anstrengung. Noch aber ohne Erfolg. Denn der in Angriff Genommene verzerrt keine Miene, bewegt keinen Fuß von der eingenommenen Stelle. Nunmehr läßt der Zwischenhändler ihn los und wendet das langgeschnittene Gesicht dem Andern zu, so rasch, daß die schwarzen glänzenden Haarsträhne wie Schlangen um dasselbe sich schütteln. Er legt den geschmeidigen Leib wie einen Mantel um ihn und zischelt ihm, den Kopf dicht an dessen Gesicht gelegt, lebhaft in’s Ohr. Nach einiger Zeit weiß er ihm ein zustimmendes Nicken abzulocken. Nun wendet sich der Schmuser wieder zu dem Erstern und beginnt ein lebhaftes Fingerspiel unmittelbar vor dessen Gesicht. Ein ablehnender Ausdruck in den noch immer unbeweglichen Zügen[WS 1] verräth ihm, daß das Spiel ein vergebliches ist. Er muß neue Truppen in’s Feld ziehen und seinen Feldzugsplan ändern. Er tritt jetzt an den Ochsen heran, der bisher mit größter Gleichgültigkeit dem um sein theures Ich sich drehenden Streite gefolgt ist, beguckt, betastet, dreht und wendet ihn von und nach allen Seiten.

Ein bedenkliches Schütteln ist das Resultat seiner Besichtigung. Jetzt auf einmal kommt Leben in die steinerne Gestalt des Verkäufers, jetzt, wo es sich um einen Angriff auf die Fehllosigkeit seines Ochsen handelt, wird ihm die Situation doch etwas ängstlich. Unruhig schaut er nach – Hülfe, nach Beistand aus. Er braucht nicht lange darnach zu spähen. Ein zweiter Schmuser stand schon auf der Lauer und hat nur auf den günstigen Moment gewartet, der ihm seine Mitbetheiligung am Handel sichert. Es bedarf kaum noch des leisen Winkes, er kommt schon heran. Nunmehr verlegt sich die ganze Beweglichkeit in die Mitte des Bildes, während die beiden Bauern zu Statisten erstarren, zu leblosen Zuschauern des Geschicks, das ihnen von den beiden Mittelfiguren bereitet wird. Diese peitschen die Luft mit ihren langen Armen, die sie bald hoch emporschleudern, bald wieder rasch niedersenken, bald einander nähern, bald wieder verstecken, dabei aber immer dem gemeinsamen Ziele, der Vereinigung ihrer Hände, nachstrebend, denn der Handschlag schließt den Handel. Dabei entfalten ihre Zungen eine keineswegs geringe Fertigkeit.

Ob es ihnen wirklich Ernst ist bei dem Streite, ob es nicht ein bloßes Scheingefecht ist, das sie fechten? Ja, wer kann es sagen! Endlich klatschen die Hände ineinander. Die Schmuser haben den Handel zu Stande gebracht. Sie holen nun auch die beiden Hauptpersonen heran. Diese folgen ihnen ohne weiteres Widerstreben und lassen geduldig ihre Hände ineinandergleiten. Der Schmuserlohn ist dabei gleich mitbedungen.

Die Schmuser gehören unter die Aermeren in der Judengemeinde, denen kein Capital zum Betriebe eines Handels zu Gebote steht.

Außer mit Viehhandel und Schmuserei treibt ein anderer Theil dieses fahrenden Israel auch Handel mit Fellen, Hausirhandel, Ankauf von Hadern, Thier- und Menschenhaaren. Aber auch diese letzten Handelsromantiker der Landstraße beginnen sich zu lichten, seitdem namentlich die ihnen sonst verschlossenen Thore der Städte sich öffneten. Sie machen sich dort gern seßhaft. Der noble Schnittladen mit den glänzenden Spiegelscheiben in der Hauptstraße der Stadt läßt es dann schwer ahnen, daß die Inhaber einst im Lande umherzogen mit Stecken und Ranzen. Es hat in der That auch viel Ungemach, dieses beutesuchende Umherziehen von Dorf zu Dorf, in Wind und Wetter, voll Arbeit und Entbehrung. Aber die zähe Ahasvernatur hält es aus. Zwei mächtige Gedanken sind es, die sie vorwärts treiben, der Gedanke an Gewinn und der Gedanke an die Heimkehr zu jener Zeit des Zwielichts am Freitag Abend, wo die Schabbeslampe das kleine bescheidene Wohngemach erleuchtet und die geputzte Familie um den einzigen Tisch sich gruppirt, in Andacht harrend des heimkehrenden Herrn. Denn in der Familie herrscht noch das alte strenge Patriarchenthum.

Nun ruht auf einen Tag alles Feilschen, alles Jagen nach Arbeit und Gewinn. Nach dem rauhen Materialismus der Woche gehört ein Tag dem Idealen. Am Sabbath kehren die Engel ein in’s Haus des Juden, sagt die alte Satzung, und an der Satzung hält auch noch treu und fest – das Israel auf Markt und Straße.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Züge
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_504.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)