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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

von unten begrüßt von einem nach ihr emporstrebenden Kinn, – eine lange aufgeschossene, ausgedörrte oder im directen Gegensatze dazu eine kleine fette, rundliche Figur mit einem Rocke, dessen Schnitt und Aussehen sein Ursprungszeugniß auf ein hohes Alter zurückdatiren – in der Hand einen Stecken und quer über den Schultern einen schmutzig weißen Sack – wie er so dahingeht, oder in erhöhter Potenz auf einem von einem mageren Klepper gezogenen Wägelchen fährt, unberührt von den Segnungen von Kamm, Seife und Bürste, aber ausstrahlend des Knoblauchs würzigen Duft: da, nein, wahrlich, da tritt seine Kraft nicht zu Tage, da ist von der Herrschaft nichts zu spüren, da erscheint er immer noch als der alte kaiserliche Kammerknecht seligen Angedenkens.

Gehen wir mit ihm, um sein Treiben, seine Machtsphäre zu verfolgen. Er tritt in ein Dorf ein; es liegt am Ausgange der Rhön, da, wo dieselbe den Thüringer Bergen die Hand über die trennende Werra zureicht. Von den gesegneten Kornfeldern des Thüringer Flachlandes ist da freilich nichts zu verspüren; nur in nächster Nähe des Dorfes, da, wo das Thal sich etwas weitet, wächst kurzhalmige Körnerfrucht, abwechselnd mit Krautstauden. Aber oberhalb derselben und da, wo das Thal sich wieder verengt, steigen grüne Matten weit hinauf bis an den Buchen- und Eichenwald, der die an die Wolken ragende Höhe krönt. Hinter diesem Walde aber fällt es nicht wieder ab zu Thal, sondern hier breitet sich ein mächtiges Höhenplateau aus, auf welchem weite Weideflächen den Wald wieder verdrängen und auf einzelne Gruppen beschränken. Auf diesen Matten hängen grasende Herden braun- und schwarzhaarigen Rindviehes. Mit innerem Behagen blickt das Auge des wandernden Nachkommen Isaak’s nach dem beweglichen Bilde, nicht etwa aus malerischem Interesse, nein, sein Behagen wird von dem Gedanken erzeugt, daß diese ganze Herde theilweis rechtlich, theilweis factisch sein eigen ist; ein Theil derselben bildet in der That einen Stamm seines Handelscapitals. Er kann das Vieh, mit dem er handelt, nicht ernähren, das Gesetz hat ihm, dem Verfehmten, verboten, Grundbesitz zu erwerben. Was thut’s? Er bedarf dessen nicht, um sein Vieh zu ernähren, und wenn die neuere humane Gesetzgebung es ihm auch erlaubt, Grundbesitzer zu sein, er wird sein Vermögen doch nicht so „unbeweglich“ anlegen. Auch sagt ihm wohl der Viehhandel, nicht aber die Viehwirthschaft zu, und wenn auch Isaak und Jakob sich auf Landwirthschaft und Viehzüchten excellent verstanden – das Recept ist den Nachkommen verloren gegangen. Dagegen haben diese das Problem gelöst, Vieh zu besitzen und zu züchten, ohne Grund und Boden zu haben. Dies geschieht also: In dem Dorfe sitzen so und so viel Bauern, welchen der Jude zum Ankauf von Acker und Vieh, zum Ablösen der Lasten und zu sonstigen Bedürfnissen Geld vorgeschossen hat. Diesen Schuldnern bürdet er die Pflicht auf, sein Vieh bis zum Verhandeln in ihren Ställen unterzubringen, auf ihre Weide gehen zu lassen, kurz, es zu pflegen und zu ernähren. Er weiß, daß sein Vieh da gut aufgehoben ist, denn einmal schützt ihn gegen eine tückische Mißhandlung die Ehrlichkeit der Bauernnatur, andererseits aber die Rücksicht, welche der Schuldner dem Gläubiger gegenüber zu nehmen hat.

Verfolgen wir nun unsern „Jüd“ bis hinein in’s Dorf, so machen wir bald die Erfahrung, daß derselbe dort eine allbekannte Persönlichkeit ist. Auf der Landstraße, welche quer durch den Ort führt, und auf welche die verschiedenen Gehöfte mit ihrer Giebelseite stoßen, rufen ihn die zahlreich sich herumtummelnden Kinder an und die Mägde, welche auf dem Rande des hölzernen Brunnenbottichs sitzen, nicken ihm zu. Bald ist’s im ganzen Dorf bekannt, daß das „Schmulche“ da ist, und das Schmulche ist in der That eine höchst wichtige Persönlichkeit für’s ganze Dorf. Der Einzug, den er da hält an der Spitze seines Gefolges, ist äußerlich zwar das gerade Gegentheil von Glanz, in Wirklichkeit ist es aber doch der Einzug eines kleinen Herrschers, eines Dorftyrannen, denn das Dorf, das er betrat, ist seine Grafschaft, deren unumschränkter Herrscher er ist.

Er hat es nach und nach dahin gebracht, daß alle Schuldverbindlichkeiten der Bauern in ihm als alleinigem Gläubiger sich vereinigt haben. So ist er der allgemeine Dorfgläubiger geworden, und in diesem Verhältnisse ruht seine Macht. Alles Geschäftliche geht durch seine Hand, er besorgt den ganzen Viehhandel nach Ein- und Verkauf, er vertreibt die gewonnenen Producte, er ist der Banquier des Dorfes; er vermittelt geradezu den Verkehr mit der Außenwelt. Wenn es einer der Dorfbauern wagen wollte, mit einem Andern aus der zahlreichen jüdischen Genossenschaft anzubinden, die Vergeltung der Rache würde ihm auf dem Fuße folgen, sie würde bald die Gestalt des gefürchteten Mannes mit dem gelben Schilde und der streifigen Mütze, des gerichtlichen Executors, annehmen. Aber auch die jüdische Sitte respectirt das Verhältniß wenigstens insoweit, als sie einem handelnden Juden verbietet, in ein Haus einzutreten, in dem bereits ein anderer Jude sich des Handelns wegen befindet.

Schmulche, der Fürst des Capitals, lenkt seine Schritte nach dem Dorfwirthshause, dort ist sein Empfangsbureau, dort giebt er Audienz; die Wirthin empfängt den Eintretenden an der Schwelle zur Küche mit einem treuherzigen: „Grüß’ Gott, Schmulche“, und mengt in diesem Augenblicke Christen- und Judengott in Eins. Sie reicht ihm die harte Hand, die sie sich an der weißen Schürze getrocknet, und macht ihm Platz zum Eintritt in die Küche. In der That richten sich dahin die ersten Schritte der Männer von Israel. Die Wirthin nimmt ein Paar separat hängende Töpfe und Schüsseln von der Wand und zeigt sie den Eintretenden. Diese halten sie an’s Licht und machen da die Bemerkung, daß das nach dem letzten Gebrauche inwendig darauf gekreidete Zeichen noch dortsteht. Töpfe und Schüsseln sind sonach inzwischen nicht von einer christlichen Hand oder einem christlichen Mund entweiht worden. Sie sind „koscher“ und die Frau Wirthin kann sich anschicken, den „braunen Mocca“, das jüdische Lieblingsgetränk, zu bereiten. Inzwischen hat Einer vom Gefolge in der danebenliegenden Wirthsstube den Inhalt eines mächtigen Ranzen, den er umhängend trug, entleert. Derselbe besteht namentlich aus gekochten Eiern, Brod, Gänsewurst, Rettig und Zwiebeln. Letztere werden bekanntlich in ziemlichen Massen als Zugemüse oder Compot zu den übrigen Speisen gegessen. Während das Mahl verzehrt wird, haben sich indessen die Dörfler in der Schenkstube zahlreich eingefunden und es beginnt nunmehr die Dorfbörse. Heute steht gerade ein sehr wichtiges Geschäft auf der Tagesordnung. Einer der kleinen Bauerngutsinhaber, dem der Hals immer fester zugeschnürt war und der vergebens nach Luft schnappte, hat beschlossen, nach Amerika auszuwandern. Er hat zu diesem Behufe seinen Grundbesitz in vielen Parcellen auf den Verstrich gebracht. Die zahlreichen Ersteher der einzelnen Stücke sind jedoch nicht im Stande, die Kaufpreise auf einmal zu bezahlen. Der Verkäufer hat ihnen deshalb nachgelassen, dieselben in halbjährlichen Raten auf eine längere Reihe von Jahren hinaus abzutragen, natürlich gegen Verzinsung. Der auswandernde Verkäufer muß aber andererseits sein Geld in den Händen haben, sonst kann er nicht auswandern. Aus diesem Dilemma hilft ihm der Jude; er kauft ihm seine Rechte und die rückständigen Fristengelder um eine natürlich weit geringere Summe, als deren Gesammtwerth ausmacht, ab. Damit ist Beiden geholfen. Der Auswandernde hat sein Geld gleich baar in den Händen und der Jude nicht nur sein Capital zu einem recht leidlichen Zins angelegt, sondern auch die Person des Käufers mit ihrem ganzen Credit sich zu eigen gemacht, da sie mit jedem versäumten Zahlungstermine ihm auf Gnade und Ungnade verfallen ist.

Aber auch noch verschiedene andere Hülfesuchende haben sich auf der Judenbörse eingefunden. Sie sind in Noth gerathen, sie wollen Vieh kaufen, eine Wirthschaft sich einrichten – kurz, sie brauchen Geld. Der christliche Capitalist, die Sparcassen und andere Institute verlangen ausreichende Sicherheit oder haben allerhand andere Bedenken. Der Bauer kann dieselben nicht erfüllen, er geht zum Juden; dieser borgt ihm auf Treu’ und Glauben. Er verlangt keine Sicherheit, aber freilich desto mehr – Zinsen. Das ist vielleicht nicht recht löblich von ihm, aber er hilft doch, wo kein Anderer hilft. Er ist in der That der allgemeine Helfer in der Noth und macht somit aus dieser eine Tugend.

Für den Leichtsinnigen oder Arbeitsscheuen hat das leichte Creditgeben freilich große Gefahr; es bringt ihn immer mehr in Abhängigkeit von seinem Gläubiger. Dann schreit er, der Christ, oft in sehr unchristlicher Weise, über Wucher und Judenbedrückung und verlangt Schutz dagegen. In früheren Zeiten meinte die christliche Regierung auch helfen zu müssen. Sie erließ zum Schutz der christlichen Unterthanen einseitig strenge Gesetze gegen die jüdischen Gläubiger. Sie entzog z. B. den Forderungen der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_503.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)