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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

dem Stücke, das an so verhängnißvoller Stelle seiner Bahn wandelt – blitzschnell sitzt ihm das krallige Teufelsthier im Nacken; schnell wird es zu Falle gebracht. Nur ein von ihm etwa angesprungenes, harzgepanzertes Wildschwein ist nicht so leicht zu bezwingen, vielmehr gelingt es einem solchen wohl, den mörderischen Angriff dadurch zu vereiteln, daß es mit seinem aufgedrungenen und scharf bespornten Reiter durch so wirres, ästestarrendes und für jede andere, minder robust geartete Creatur geradezu undurchdringliches Waldchaos stürmt, daß der aufgesessenen, mächtigen, sonst so schmiegsamen und zähen Höllenkatze doch schier die Sinne dabei vergehen und sie, abgestreift von ihrem unaufhaltsam dahinbrausenden, wuthschäumenden Borstenrosse, diesem die so energisch behauptete Freiheit willenlos gewähren muß. Desto leichter hingegen bewältigt das funkeläugige Mordgeschöpf das schwache Reh, sobald dies nur einmal von ihm erfaßt worden ist. Mißlingt jedoch dem sonst so beharrlichen Raubthiere der Anfall in den ersten drei bis vier Sätzen, so findet selbst jenes wehrlose Wild noch Rettung, und zwar in der Flucht; denn nimmer verfolgt der Luchs ein im Sprunge verfehltes und fliehendes Thier auch nur einen Schritt weiter.

Tiefe Todtenstille, wie sie die herbstabendlich Ruhe einsamer Waldung so oft in erhabenster Weise mit sich bringt, herrscht im weiten, weiten Forstgebiete. Da knistert es von fern, ganz leise durch den dicht geschlossenen Fichtenunterwuchs, und das geübte Ohr erkennt bald, daß der vernommene Ton vom vorsichtigen Tritte eines nahenden Wildes herrührt. Und richtig! Auf kaum handbreit ausgetretenem Wildsteige, der hier gerade einmal eine kleine Blöße überschreitet, wird ein stattlicher Rehbock, gefolgt von seinem sanftäugigen Gespons, sichtbar, doch nur auf Augenblicke, denn schon sind die zierlich Vorwärtsschreitenden wieder in dem Dunkel tiefniederhängenden Gezweigs verschwunden. Aber bald erscheint auf nächstliegender lichter Stelle, die von mächtigen moosüberzogenen Steinblöcken und flechtengrauen Stämmen umschlossen ist, das traute Paar noch einmal, hier die noch nachsprossenden zarten Gräser zu naschen. Vertraulich nisteln dabei die beiden schmucken Geschöpfe umher, nicht ohne daß der vorsichtigere Bock dann und wann den schönen Kopf plötzlich emporwürfe und dann scharfäugend und witternd die Umgebung prüfte, ob Alles geheuer. Nichts Verdächtiges hat sich ihm dabei bemerkbar gemacht und ruhig, graziös mit den schlanken Läufen über Anflug, wirre Haide und schlanke Halme schreitend, äßt er, immer in Gemeinschaft mit seiner treulichen Genossin, auf dem so heimlich gelegenen Plätzchen weiter.

Da plötzlich ein Rascheln, dem sofort das hastige Aufschnellen des gekrönten Hauptes unseres Bockes folgt – doch schon zu spät! Bereits im nächsten Moment sitzt dem Aermsten in blitzschnellem und nur allzu sicherem Sprunge ein hier auf der Lauer gelegener Luchs im Nacken, sein scharfes Gewäff tief in des Ereilten Glieder einschlagend und ihm mit furchtbarem Bisse Genick und Hals zerfleischend.

Wie ein vom Bogen abgeschnellter Pfeil fliegt der so grausig Gepackte mit jähem Satze hoch über die langhalmigen Schmälen dahin, seinen eingefressenen Mörder mit durch die Lüfte führend. Festgekrallt, wankt und weicht dieser nicht von seinem Sitze – unrettbar verloren ist das bedauernswerthe Opfer! Schon nach wenigen Secunden fließt diesem der rothperlende Schweiß stromweise aus den geschlagenen schweren Wunden, und dadurch bis zum Tode erschöpft und niedergedrückt von der peinlichen Last seines Würgers, bricht lebend das edle Wild zu Boden. Mit tiefklagendem Tone haucht hier, unter den Fängen seines bluttrinkenen Dämons, das Thier die letzten Athemzüge aus, wobei ein smaragdener Schein, der Verkünder des Todes, dessen eben noch so dunkelstrahlendes Auge umflort. Sein Bewältiger aber schlürft nun in wilder, berauschender Wonne das warme Blut der unter ihm noch zuckenden Beute bis zum letzten Tropfen, nachher erst an den edleren Eingeweiden und saftigsten Stücken Wildpret auch noch seinen Hunger stillend. Nach solch blutigem Genusse aber verläßt die endlich befriedigte und nun nach behaglicher Ruhe sich sehnende Bestie ihren reichen Vorrath, um später wohl noch ein oder mehrere Male dahin zurückzukehren und weitere Mahlzeiten zu halten. Ist jedoch, wie bei heißen Tagen, in der Zwischenzeit das Fleisch auch nur durch einen Hauch anbrüchig geworden, oder haben Wölfe und Füchse den willkommenen Fund verzehrt – dann beginnt der pardelgefleckte Satan von Neuem seine wilde Jagd.




Das deutsche Damaskus.[1]


Nachdem die „kriegerischen Berichterstatter“ der Gartenlaube heimgekehrt waren, zogen die friedlichen Apostel derselben wieder aus, um das Auge zu weiden an den neuen Saaten, die der deutsche Frühling brachte. Auch ich hatte mein Bündel geschnürt. Die mir angewiesene Route führte über den Thüringer Wald nach Süden, und die präcise Ordre der Redaction der Gartenlaube ließ mir also keinen Zweifel darüber, daß ich über Suhl und Schleusingen zu gehen und mich nicht hinten herum zu drücken hatte, wie die meisten Touristen, namentlich die Berliner, die bis zur Schmücke vordringen, da Forellen essen und dann umkehren, um über Gotha und Eisenach durch’s Werrathal zu dampfen, weshalb sie eben das Herz des Waldes und die Gegend, wo im Mittelalter ein gut Theil seiner Geschichte gemacht wurde, wenig kennen lernen.

Oberhof war meine höchste Etappe. Hier ließ einst Ernst der Fromme Geleitsgeld erheben, von einem „reitenden Jüden 6 Gr.“, vom „gehenden Jüden 3 Gr.“, und als dagegen remonstrirt wurde, „von jedem Jüden ohne Unterschied 10 Gr. 6 Pf.“ – Jetzt kommt Jude und Christ ohne des Frommen Geleite den Berg viel sicherer und schneller hinunter nach Zella St. Blasii, einem gothaischen Grenzstädtchen mit bedeutenden Kurzwaarenfabriken, welches namentlich eine enorme Menge Terzerole, immer hübsch blau gemacht, mit Goldgrund, geätzt etc., in alle Welt vertreibt.

Nur eine Stunde von Zella entfernt liegt Suhl. Nach Ueberwindung einer mäßigen Anhöhe geht es thalein. Zur Rechten erstrecken sich üppig grüne Wiesen, welche in hastiger Eile vom klarsten Gebirgsbach durchzogen werden. Ja, er hat Eile, denn kaum ist er dem immergrünen Moosteppich des Waldes entlaufen und nur eben von der Sonne beschienen, so legt man ihm auch schon alle möglichen Hindernisse in den Weg, Gewerk an Gewerk, Bohrmühlen, Schleifmühlen etc. Sie alle muß er treiben, soll man ihm nicht seinen Todfeind, das Feuer, auf den Hals schicken, damit er, der Freie, Dienste in rußiger Dampfmaschine leiste. – Kräftig rauscht das Wasser gegen die Schaufeln, und wenn sich das große Rad auch nur widerhaarig, langsam umwälzt, drinnen im Gewerk äußert sich die Wirkung seines stetigen Stoßes um so lebhafter. Nach altdeutschem Brauch werden hier fast noch alle von Wasser in Bewegung gesetzten Triebwerke Mühlen genannt. Wir stehen vor einer Ausnahme, einem Rohrhammer. Der gleichmäßige kräftige Schlag der Hämmer gehört mit zu den charakteristischen Tönen des Waldgebirges und heimelt uns um so mehr an, je mehr er leider durch das Eingehen der Eisenproduction verstummt. Im Rohrhammer werden heute Damastläufe geschmiedet, ein interessanter Fabrikzweig, den ich in einem spätern Artikel schildern werde.

Doch nun hinein nach Suhl, in die offene freundliche Gebirgsstadt, die alte „Rüst- und Waffenkammer des heil. römischen Reichs“, in ganz Europa, in allen Erdtheilen bekannt. Die Grafen von Henneberg nannten sie noch 1427 unser „Dorff zu Sull“, 1445 den „Flecken zu Sula“, und versahen sie erst 1527 mit Stadtrechten. Im Jahre 1634 ließ Graf Isolani die wehrlose Stadt plündern und niederbrennen, weshalb man hier keine wirklich alten Häuser sieht. Aber welch einen Marktplatz und welch ein Bild hat der Tourist von den Fenstern des stattlichen Gasthofes „Zum deutschen Haus“ aus vor sich! Gerade rings um Suhl herum, nahe an der Grenze von Ostfranken, entfaltet Thüringen noch einmal, wenn auch auf engem Raume zusammengedrängt, alle seine Reize in größtem Maßstabe: hier ist der Wald am grünsten, hier sprudeln die Quellen, rauschen die Bäche am reichsten, hier zumal liegen die Lungen und ein gut Stück Herz

  1. Der Abdruck dieses Artikels wurde durch unvorhergesehene Umstände verzögert.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_484.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)