Verschiedene: Die Gartenlaube (1872) | |
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„Es kann aber doch nicht die Stimmung halten in diesem feuchten Loch?“ sagte ich.
„Natürlich nicht!“ rief sie lachend. „Ich habe einen Schlüssel und stimme es, so oft es nöthig ist.“
„Sie selbst? mit Ihren Kinderhändchen?“ frug ich.
„Glauben Sie, ich habe keine Kraft?“ sagte sie und holte aus der Schublade des Schreibtisches zwei eiserne Halter, deren jeder zehn Pfund wog, und welche sie mit Leichtigkeit in die Höhe hob. Ihr zarter kleiner Körper bog sich zurück und schien fast an den Hüften brechen zu wollen.
„Wozu machen Sie denn solche Kraftübungen?“ frug ich erstaunt.
„Weil ich Clavier spielen will, wie Remeny denkt. Als ich zuerst Remeny’s Schriften las, da konnte ich in meinen Händen kaum einen Regenschirm tragen und spielte Clavier wie eine Schwindsüchtige. Das war jämmerlich!“ sagte sie und legte die eisernen Halter auf den Tisch. „Ich kann aber das Gewinsel nicht ausstehen,“ fuhr sie fort, „ich liebe alles Große, alles Gewaltige, alles à la Remeny.“
Es fiel mir auf daß, trotzdem sie mich vor wenigen Minuten fast zurecht gewiesen, sie nun doch wieder von Remeny zu sprechen anfing.
„Man sagt, Remeny trinke viel Champagner,“ sagte sie nach einer Weile; „ist es wahr?“
„Ja, er leistet Ungewöhnliches darin,“ erwiderte ich, absichtlich Alles, was sie wissen wollte, tropfenweise gebend.
„Ich finde, nur geistreiche Menschen sollten Champagner trinken. Was können dumme oder grob organisirte Menschen aus dem Champagner ziehen? – Ich habe auf meinem Gute oft aus Langeweile mich vor meinen Kamin gelegt und Champagner getrunken, ganz allein, ganz langsam, und es war mir immer, als ob ich Ideen tränke.“ Dann fuhr sie mit lieblichem Kichern fort: „Fragen Sie doch den Lieutenant X. oder den Banquier Y. in Pest, ob sie auch Ideen aus dem Champagner trinken!“
Ich mußte laut lachen und sagte ihr, Remeny habe an einem Abende eine geistreiche Improvisation über den „Champagnertropfen“ gemacht.
„Haben Sie sie nicht aufgeschrieben?“ frug sie rasch.
„Man hatte keine Zeit dazu,“ erwiderte ich; „er improvisirte auf Flügeln, man konnte ihm nicht folgen.“
Plötzlich, wie wenn sie bereute wieder von Remeny gesprochen zu haben, frug sie: „Wie gefallen Ihnen denn die polnischen Dörfer?“
„Es ist viel Schmutz darin,“ sagte ich aufrichtig.
„Ja,“ rief sie, „vor jedem Hause eine Pfütze, in jedem Hause eine Stube, in jeder Stube ein halb Dutzend Menschen, ebenso viel Schweine und Hühner, kein Fenster, keine Seife, kein Wasser, brrr – ich versichere Sie, ich halte mich für eine viel größere Heilige als die Elisabeth von Ungarn; denn die kam schon als Kind nach Deutschland und hat nur thüringische Bauernhäuser besucht: ich aber besuche polnische!“
„Das ist sehr verdienstvoll von Ihnen,“ sagte ich; „denn ich kann mir denken, wie viel Ueberwindung es Sie kostet.“
„Ach, zuweilen bin ich froh, wenn eine Frau in die Wochen kommt oder ein Kind im Sterben liegt; es giebt dann doch etwas zu thun. Es giebt dann sogar sehr viel zu thun, denn die Bauern sind dumm und eigensinnig wie die Kameele. Ein Bauer läßt seine Frau aus lauter Dummheit und eine Frau ihr Kind aus lauter Eigensinn sterben. Oft könnte man ein Kind durch frische Luft und ein paar Gläser Milch retten; aber sie wollen es nicht. Die einzige Fensteröffnung ist das ganze Jahr mit Papier verklebt und der Magen des Kindes mit Kartoffeln. Ich möchte Ihnen nicht rathen, je ohne eine große Flasche Riechessig in eine polnische Bauernstube im Winter zu gehen!“
„Sind Sie im Winter immer auf Ihrem Gute?“ fragte ich leichthin.
Aber die Frau hatte eine erstaunliche Spürkraft; sie merkte, daß unter meiner Frage eine tiefe Neugier lag. Sie sah mich mit durchdringenden Katzenaugen an und sagte: „Wenn ich nicht auf meinem Gute bin, so bin ich anderswo.“
Meine Verlegenheit war groß. Sie schien sie einen Augenblick zu genießen, dann aber Mitleid mit mir zu haben, denn sie stand auf und setzte sich an’s Clavier. Ich athmete auf. Die Frau war halb eine Fee, halb ein Dämon.
Sie spielte einen wilden Ungarmarsch, und ihre Nasenflügel gingen dabei auf und nieder. Dann brach sie plötzlich ab und spielte eine leise, fast schwüle Melodie. Sie spielte sie mehrere Male nach einander, sah sich dann um und sagte: „Sie sollten dies kennen –“ Ich verneinte. „Es sind Stimmen aus Remeny’s ‚Frühlingsnächten‘,“ sagte sie, „und von seinem Freunde P. musikalisch illustrirt.“ Plötzlich hörte sie zu spielen auf, nahm die Cigarre wieder vom Tische, ging zum Eingang der Hütte und rief mir zu: „Kommen Sie, die Nacht ist wunderschön.“ Und sie hatte Recht. In stummer Majestät ragten die schwärzlichen Berge in die Luft; ein lauer Wind flüsterte in den Bäumen und silberne, goldene, röthliche, blaue und grüne Sterne funkelten am Himmel. Die Gräfin lehnte mit dem Rücken an der Hütte und sah stumm zum Himmel hinauf. Plötzlich sagte sie, ohne das Auge von den Sternen abzuwenden, und mit ganz veränderter Stimme: „Lebt Remeny noch mit der Fürstin B.?“ Ich erwiderte ihr, daß er schon vor einem Jahre mit ihr gebrochen habe und sie nach Petersburg zurückgegangen sei. „Wie lange hat er mit ihr gelebt?“ frug sie.
„Etwa fünfzehn Jahre,“ antwortete ich. „Er war ihrer schon lange überdrüssig, allein er glaubte ihr Rücksichten schuldig zu sein; endlich brach er doch, denn sie wurde unerträglich.“
„Hat Remeny jetzt kein Verhältniß?“ frug sie.
„Kein ernstliches, so viel ich weiß,“ versetzte ich.
Nach einer Weile sagte sie: „Lassen Sie uns schlafen gehen.“ Sie bot mir die Hand, und ich sah, daß ihr Auge feucht war. –
Sie ging in die Hütte zurück und ließ einen Strohsack für mich herausbringen. Ich wollte ihn nicht annehmen, da ich wußte, daß es der ihrige war, und ich sie doch nicht auf der feuchten Erde konnte schlafen lassen. Sie hörte mein Weigern und rief mir aus der Hütte zu: „Nehmen Sie doch den Sack, ich werde auf dem Clavier schlafen.“
Ich gab nach. Der Diener brachte mir eine wollene Decke und legte sich dann in einiger Entfernung von mir nieder. Zwischen uns legte sich der Hund, nachdem er, leise knurrend, mich beschnüffelt hatte.
Ich konnte lange nicht einschlafen. Das Seltsame des Erlebten, meine Neugier, wer diese Frau sei, hielten mich wach. Ganz besonders beschäftigte mich Ein Gedanke: was war Remeny dieser Frau? Was konnte der sechszigjährige Remeny diesem jungen, höchstens vierundzwanzigjährigen Geschöpfe sein? Unbestreitbar war Remeny ein großer Mann, ein Genie, wie die Gräfin sagte, und hatte seine ganze geistige Frische und Kraft bewahrt. Allein Remeny hatte in unzähligen ernsthaften und leichten Liebesverhältnissen seine Herzenskraft verausgabt und ich hielt ihn nicht fähig, den Werth eines jungen, begeisterten, großen Herzens jetzt noch zu fühlen. Liebte die Gräfin Remeny? War es wahr, daß sie ihn nicht persönlich kannte? – Wenn diese Frau liebt, sagte ich zu mir selbst, so ist’s auf Leben und Tod. Mir bangte für sie und ich hoffte, im Hinblick auf ihre excentrische Natur und den Umstand, daß sie Remeny nur aus seinen Werken kannte, ihr Interesse für ihn sei nur eine Erhitzung ihrer lebhaften Phantasie. Endlich schlief ich ein, aber ich schlief unruhig. Tosende Wasserbäche, durchdringende Augen, weiße Frauenhände, wilde Accorde und das silberweiß vermengte schwarze Haar Remeny’s gaukelten in meinen Träumen wirr durcheinander.
Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Der Diener, welcher neben mir geschlafen hatte, kam, als er mich wach sah, aus der Hütte und bot mir seine Führung zur Dorfherberge an. Vorher sollte ich noch ein Frühstück nehmen, wie mir die Gräfin sagen ließ. „Wo ist die Gräfin?“ frug ich.
„Die gnädige Gräfin geht spazieren und wird erst im Laufe des Nachmittags zurückkommen. Sie läßt dem Herrn sagen, wenn er wieder einmal nach Polen komme, möge er sie wieder in den Karpathen besuchen,“ sagte der Diener.
Auf meine Frage, wer die Gräfin sei, antwortete er, daß sie ihn nicht beauftragt habe, mir dies zu sagen.
Ich setzte mich an den Tisch und warf dabei meine Blicke in der Hütte umher, welche mir beim hellen Tageslicht noch schrecklicher schien als beim Lampenschein. Ich sah jetzt auch viele Bücher auf dem Schreibtische und auf einigen Stühlen liegen und konnte meiner Neugier nicht widerstehen, zu sehen, was die Gräfin in den Karpathen las. Es war Remeny, wieder Remeny und noch einmal Remeny. Dann einige Bände Voltaire, Heine, Mirza-Schaffy und eine Geschichte der französischen Revolution.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_481.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2020)