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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

die Stirn, welche der Wölbung nach hoch zu sein schien, war zur Hälfte und absichtlich vom Haar bedeckt. Der Mund war nicht schön, ebensowenig die Nase, beide aber waren ausdrucksvoll im höchsten Grade. In manchen Momenten erinnerte ihre Physiognomie an eine Katze, in anderen an ein Kind.

Die Hütte war groß, in der Mitte stand das Clavier. An der einen Wand befanden sich ein Schrank mit Geschirren und ein Tisch oder vielmehr eine Holzplatte, auf vier rohen Pflöcken ruhend. An der gegenüberliegenden Wand standen ein Koffer, einige Holzstühle und ein eleganter Damenschreibtisch; in der Ecke lagen die beiden Matratzen, von welchen ich eine bekommen sollte, um vor der Hütte darauf zu schlafen. Der Boden war, wie die Wände, von Lehm und feucht. Ich hatte manches Seltsame, manches Absonderliche im Leben gesehen; allein einen Lehmstall, von einer jungen vornehmen Dame bewohnt und der als einzigen Comfort einen gepolsterten Clavierstuhl aufzuweisen hat, das hatte ich noch nicht gesehen! Sie nahm jetzt wieder am Clavier Platz und that es mit solcher Nonchalance und setzte mit solcher vornehmer und geistreicher Handbewegung einen Zwicker auf die Nase, daß ich, noch ehe sie spielte, von ihrer Genialität überzeugt war. Ihre kleinen Hände fegten die Tasten wie ein Sturmwind; aber der Körper blieb aufrecht und ruhig. Sie hatte eine seltsame Art, zu spielen, immer in den Extremen, entweder mit solcher Wucht und Leidenschaft, daß man glaubte, sie wolle das Clavier zerschlagen, oder leise und fast undeutlich. Es war ein originelles, geniales, aber kein klares, kein fertiges Spiel; es erinnerte mich an das Tosen des Wasserfalls in den Bergen draußen und auch wieder an das Säuseln des Grases; aber der Wasserfall war majestätischer und das Gras sinniger.

Die Frau fing an, mich ungeheuer zu interessiren; halb war sie mir sympathisch, halb unsympathisch; halb bewunderte, halb bemitleidete ich sie. Wer konnte sie sein? Excentricität ist zwar nichts so Seltenes unter den Polinnen; allein sie äußert sich gewöhnlich in patriotischer oder in erotischer Form. Eine Polin, welche sich mit einem Clavier in der Wildniß der Karpathen verbirgt, ist gewiß eine Seltenheit.

Sie stand jetzt vom Claviere auf, setzte sich auf ihren Strohsack und frug die Dienerin, ob sie das Abendessen bereitet habe.

Diese antwortete auf Polnisch: „Ja, gnädige Gräfin.“

Die gnädige Gräfin geruhte, mich zum Essen einzuladen und mir einen Stuhl ihr gegenüber anzuweisen. Ich machte einige Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen, welche aber von ihr nicht ermuthigt wurden. Der Thee war stark und rein, das Wildpret vorzüglich, und ich hatte Hunger. Als ich zum zweiten Male zugriff, schien sie Mitleid mit mir zu haben und sagte: „Essen Sie, essen Sie, so viel Sie wollen!“ Sie selbst aß wenig und dieses Wenige in langen Pausen, welche sie damit ausfüllte, daß sie entweder erstaunt in eine Ecke blickte oder mich mit einem forschenden Blicke durchbohrte. Nach dem Thee holte sie aus einem Kistchen auf dem Schreibtische zwei Cigarren, bot mir eine und zündete die andere für sich an. „Erzählen Sie mir, woher Sie kommen,“ sagte sie plötzlich. Als sie aus meiner Erzählung vernahm, daß ich Naturschwärmer sei, schien ich Gnade vor ihr zu finden. Sie lächelte jetzt zuweilen und sagte, während ich sprach, oft zustimmend: „Ja, ja.“ Wie Alles, was sie that, originell war, so rauchte sie auch auf eine originelle Weise. Sie blies den Rauch ihrer Cigarre nie gerade hinaus, sondern wiegte das Haupt hin und her und ließ den Rauch allerlei Figuren beschreiben, wobei sie ihre Augen ein wenig zudrückte und dieses Spiel unendlich zu genießen schien.

„Kennen Sie Wien? Kennen Sie Pest?“ frug sie plötzlich.

Ich sagte ihr, daß ich in Wien meine Heimath habe und oft nach Pest komme.

„Kennen Sie Remeny in Pest?“ frug sie leichthin.

„Ich habe die Ehre, einer seiner näheren Bekannten zu sein,“ antwortete ich.

„So?“ sagte sie und fuhr nach einer Weile fort. „Er ist ein großer Mann, ein Genie – wie alt ist er wohl?“

„Sechszig Jahre,“ antwortete ich.

„Und schön, nicht wahr?“ frug sie.

„Für sein Alter – ja,“ erwiderte ich.

Wie ein Sturmwind fuhr sie vom Stuhle auf, ging eine Weile in der Hütte auf und ab, kam dann wieder zurück und sagte mit einem stechenden Blicke: „Was Sie eben sagten, war nicht richtig. Ein Genie hat kein Alter; ein großer Mann ist immer schön, selbst wenn er häßlich wäre. Ich finde, Remeny ist der schönste Mann auf Erden.“

Ich war vor Erstaunen stumm geworden.

„Wenn ein Komet einen blutrothen Kern und einen langen leuchtenden Schweif hat, mit dem er die silbernen Sterne verdeckt, so ist er nicht deshalb schön, sondern er ist schön, weil er eine große Erscheinung ist, und das Genie ist ein Komet,“ sagte sie und blickte mit leuchtenden Augen in die Nacht hinaus. Nach einer Weile frug sie: „Remeny hat viele Gegner, nicht wahr?“

„Ja,“ antwortete ich, „man findet seine Richtung zu excentrisch.“

Sie lächelte fein und sagte: „Weil man klein ist und gewöhnlich. Er ist eben kein weißes Täubchen, das angenehm im Hühnerhofe girrt, kein weißes Lämmchen, das mit unschuldigem Stimmchen die Träume seines bornirten Hirnchens auf der Weide schüchtern erzählt; er ist ein Löwe, der einsam in die Wüste brüllt und seine Mähne schüttelt – und davor fürchtet man sich. Ich fürchte mich aber nicht.“

Ich wagte zu fragen: „Sie kennen Remeny wohl sehr genau?“

Sie sah mich mit strafendem Blicke an und sagte: „Ich habe nie die Ehre gehabt, mit Remeny zu sprechen; aber ich kenne ihn besser, als Ihr Alle – ich weiß, was er denkt.

Die Frau war mir unheimlich, und doch fesselte sie mich. Ich hätte ein Jahr meines Lebens darum gegeben, sie ergründen zu können, aber ich fühlte, daß sie ein Abgrund war. Ich hatte ein Gefühl, welches mir sagte, nicht weiter im Gespräch über Remeny zu gehen, und frug sie, seit wann sie hier oben wohne.

„Seit zwei Monaten,“ sagte sie. „Wie gefällt Ihnen mein Palast?“

„Ich finde ihn für eine Dame Ihrer Art etwas primitiv und fürchte sogar, daß Sie sich einen Rheumatismus darin holen werden,“ erwiderte ich.

„O, den hab’ ich schon!“ rief sie lachend, „schon seit vier Wochen; aber das macht nichts. Wenn ich unten auf meinem Gute sein werde, dann leg’ ich mich auf ein Bärenfell vor den Kamin und lasse mich mit einem andern Bärenfelle zudecken und so bleib’ ich liegen, bis ich keine Schmerzen mehr habe. Auf unseren Gütern ist’s schrecklich langweilig,“ fuhr sie fort und gähnte dabei. „Wenn ich eine andere Dienerin fände, so bliebe ich noch hier bis zum Anfange des Septembers; aber dieses dumme Geschöpf will nicht mehr hier oben bleiben, und keine meiner anderen Dienerinnen will wieder herauf kommen. Ich habe alle Fünf der Reihe nach hier oben gehabt, aber keine blieb länger als zwei Wochen. Sie hatten Langeweile oder fürchteten sich, klagten über Zahnweh und Reißen in den Gliedern, und wenn ich sie nicht gehen ließ, dann machten sie mir kalten Thee, verbrannten das Wildpret und gaben mir so schlechtes Essen, daß ich sie zuletzt fort schickte.“

„Sind Sie weit vom Dorfe P. entfernt?“ frug ich.

„Sieben Meilen,“ sagte sie. „Mein Diener geht jede Woche zwei Mal hinunter und kauft Brod, Eier und Fleisch.“

„Wie haben Sie nur das Clavier herauf gebracht?“ forschte ich weiter, da sie jetzt mittheilsam wurde.

„Ja, das war eine schreckliche Geschichte,“ rief sie mit reizender kichernder Stimme. „Von meinem Gute bis zum Dorfe P., das weit von meinen Besitzthümern liegt, konnte man es auf einem Wagen fahren. Allein von P. bis herauf sind die Wege für einen Wagen unmöglich. Ich mußte also Männer suchen, welche es hinauftragen würden.“

„Sieben Meilen bergauf über Steine und Gestrüpp?“ rief ich.

„Ja,“ sagte sie. „Ich wollte es haben, ich mußte es haben, ich kann nicht ohne Musik leben. Ich habe im Dorfe ausschellen lassen, daß ich vierhundert Gulden bezahlen wolle für acht Männer, welche, abwechselnd zu Vieren, das Clavier herauf tragen würden. Nun gab’s Streit im Dorfe; Alle wollten das Geld verdienen. Sie kamen, ein ganzer Haufen, vor die Herberge und ich mußte mich in eine Kammer einschließen, damit sie mir nicht zu Füßen fielen und das Kleid mit bittenden Küssen besudelten. Ich ließ Loose ziehen, und so wurde Friede gemacht und mein Clavier kam nach einem siebenzehnstündigen Transporte hier an.“

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