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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

vorausgesagt, daß aus mir entweder eine Stütze des Gottesreiches, wie sie dies Reich verstand, oder ein Verstörer der bestehenden Ordnung dieser Welt erwachsen werde. Und doch zeigten meine schweifenden Gedanken schon früh, daß sie selbst eine Schranke freiwillig sich stecken würden. Als meine Mutter an einem wunderklaren Sommerabend mich, den kaum ein paar Jahre Alten, auf dem Schooße hielt, zeigte sie mir die Funkelpracht des Sternenhimmels und fragte mich: „Möchtest Du die nun nicht alle kennen?“ Da sagte ich entschlossen: „Nein, Mutter, ich habe hier unten auf der Erde noch so viel zu lernen, an die Sterne denk’ ich nicht.“ Meine Freunde werden in diesem kindischen Worte mich vollständig wiederfinden: mich hat immerdar nur das Gegenwärtige, Diesseitige und Praktische gereizt, und in diesem Einen Worte lag schon meine künftige Lossagung vom Christenthum geweissagt.

Die richtige Nahrung und Ableitung meiner brütenden Phantasie wäre die Dichtung gewesen, wenn man sie als Märchen oder Erzählung meinem dürstenden Geiste geboten hätte. Allein vor aller weltlichen Poesie hatte man in unserm Hause den tiefsten Abscheu, und kein Literaturwerk verlief sich unter die pergamentenen Holländer des Vaters oder die Andachtsbücher der Mutter. Romane lesen galt für den Ausbund sittlicher Verdorbenheit, das Theater und somit auch jedes dramatische Werk für eine teuflische Erfindung, womit sich der Christ nicht beflecken dürfe. Lange nach dem Tode meiner Eltern, als ich schon ein erwachsener Mensch war, sah eine meiner Mutter nahe Verwandte, die allerdings noch um einen Grad mehr beschränkt in ihren kirchlichen Vorurtheilen war, Grabbe’s Hannibal in meinen Händen und fragte überrascht: „Liesest Du denn auch solche Satansbücher?“ So blieb jeder Hauch der Poesie, jede lebensvolle Anschauung weltlicher Geschichten ängstlich von mir abgewehrt, und mein Geist glich einem verkrüppelten Schmetterling, der, seiner Puppe entkrochen und voller Sehnsucht nach der blauen Frühlingsluft, dennoch die verwachsenen Flügel nicht auszubreiten vermag. Die alte Großmutter speculirte auf meine große Freude an der Thierwelt und begann mir eine endlos sich fortspinnende Fabelgeschichte von Katzen zu erzählen, welche durch die Welt reisten und allerhand Abenteuer bestanden. Hernach bekam jede Katze wieder junge Katzen, an welche neue heldenhafte Lebensläufe angeknüpft wurden. Allein dieses läppische, farblose Gewebe genügte meinen in’s Große gehenden Wünschen nicht, und als nun gar der Fall vorkam, der in der deutschen Heldensage und in der kirchlichen Legende sich freilich auch wiederholt, daß mir von dem grauen Kätzchen Historien erzählt wurden, die ich schon von dem gelben gehört hatte, so fing mein kleiner Verstand bereits an, den Thatsachen das prüfende Messer anzusetzen. Die ganze Katzengeschichte wurde mir zum Ekel, und ich lief fort, wenn die Großmutter Miene machte, etwa noch ein Enkelgeschlecht von fleckigen Katern und Katzen auf die Bühne der Weltgeschichte zu führen. Da man mich nun ganz und gar nicht mehr zu beschäftigen wußte, so entschloß sich meine Mutter, einen ernsten Unterricht mit mir anzufangen, und so begann ich noch vor dem fünften Jahre das Lesen, dem sehr bald die Unterweisung im Schreiben nachfolgte.

Von jeder Zerstreuung durch Spielen mit andern Kindern entfernt, wandte sich die ganze Kraft meines Geistes auf diese Lernstunden, und ich hatte namentlich das Lesen unglaublich schnell begriffen. Bücher wurden nun mein Glück, allein es fehlte ja im Hause an aller für ein Kind passender Lectüre. Meine Mutter brauchte neuen Lehrstoff und brachte mir das Holländische bei, das sie im Lande selbst erlernt hatte; ich lese von jener Zeit her die Sprache fast ebenso fertig wie das Hochdeutsche. Allein auch hier mangelten sofort die Bücher, und so blieb kein Rath, als gleich wieder eine neue Sprache mit mir anzufangen. Mein Gedächtniß war damals ganz unbegrenzt, und selbst das trockenste Zeug von grammatischen Regeln, mit dem man mich quälte, lernte ich buchstäblich auswendig. So begann denn mein Vater, der mich im Stillen längst zum Theologen bestimmt hatte, das Lateinische mit mir, als ich erst sechs Jahre alt war.




Des Reiches „erster“ Baumeister.


Gleich nach der siegreichen Heimkehr des „deutschen Kaisers“ aus Frankreich und der Eröffnung des ersten Reichstags im neuen deutschen Reich ward allgemein die Nothwendigkeit anerkannt und ausgesprochen, daß vor Allem der Neubau eines Parlamentsgebäudes in’s Auge zu fassen sei und daß in diesem Bau ein großartiges Denkmal der wiedererrungenen nationalen Einheit und der unvergeßlichen Ereignisse, aus denen jene erwachsen war, geschaffen werden müsse. Es wurde eine Commission aus Mitgliedern des Bundesraths, des Reichstags und der preußischen Regierung gebildet, um zuerst ein Programm zu entwerfen. In der darauf folgenden Herbstsession wurde Letzteres vorgelegt und im Einverständniß mit dem Reichstag auf Grund dessen am 10. December vorigen Jahres eine allgemeine Concurrenz ausgeschrieben. Als Baustelle war darnach der Königsplatz vor dem Brandenburger Thore in unmittelbarer Nachbarschaft des Thiergartens ausersehen, dessen Mitte bereits dem Siegesdenkmal angewiesen ist und welcher im Uebrigen durch Lage und Ausdehnung besonders günstige Bedingungen für die Entwicklung eines Riesenbauwerks bietet. Zur Theilnahme wurden, nicht ohne Widerspruch im Reichstag, wo man von einer Seite dieselbe auf deutsche Künstler zu beschränken empfahl, die Architekten aller Länder zugelassen. Man war eingedenk, daß die Kunst der Menschheit angehöre; man wollte den Genius dienstbar machen, wo man ihn fände, und der Beste sollte nicht um deswillen ausgestoßen sein, weil er kein Deutscher sei. An die Bewerber erging die Einladung: „nicht nur die zweckmäßigste Lösung der Aufgabe zu suchen, sondern zugleich die Idee eines Parlamentsgebäudes für Deutschland in monumentalem Sinne zu verkörpern, daher auf eine reichliche Ausschmückung des Aeußern und Innern durch Sculptur und Malerei Bedacht zu nehmen.“ Die Entwürfe sollten nicht in vollständig ausgearbeiteten Bauplänen, sondern zunächst nur in Skizzen bestehen. Als letzter Termin für die Einlieferung wurde der 15. April 1872 bestimmt, jeder Preisbewerber zur Nennung seines Namens verpflichtet und dadurch in den Wettkampf das Princip voller Oeffentlichkeit eingeführt. Zu Preisrichtern wurden vier Mitglieder des Bundesraths, acht Mitglieder des Reichstags, sechs Architekten und ein Bildhauer eingesetzt. Der erste Preis bestand in tausend Friedrichsd’or, die vier nächstbesten Arbeiten erhielten Preise von je zweihundert Friedrichsd’or.

Für eine so umfassende Aufgabe schien anfänglich Manchen die gestellte Frist von vier Monaten, wenn schon nur Skizzen auszuarbeiten waren, zu knapp bemessen, zumal auch billig berücksichtigt werden müsse, daß einem durch Berufsgeschäfte in Anspruch genommenen Künstler die Spanne Zeit leicht auf die Hälfte oder ein Viertheil verkürzt werde. Der Erfolg hat diese Befürchtung kaum gerechtfertigt. Bis zum Schlußtermin waren beim Reichskanzleramt über hundert Entwürfe eingegangen, denen sich noch verschiedene Nachzügler zugesellten. Unter den Concurrenten fiel der Zahl nach, wie natürlich, der Löwenantheil auf Deutschland; doch war auch das Ausland, namentlich England, durch Größen ersten Ranges vertreten. Am 2. Mai wurde die Ausstellung der Pläne im Berliner Akademiegebäude eröffnet. Das Publicum der Hauptstadt, die Mitglieder des versammelten Reichstags, auswärtige Architekten, Bewerber und Nichtbewerber, welche das seltene Schauspiel angelockt hatte, strömten herbei und drängten sich in den weiten Sälen. Fiel es bei der Fülle von Entwürfen auch selbst dem Fachmann schwer, einen orientirenden Ueberblick zu gewinnen, so zog doch vom ersten Augenblick an ein Entwurf die allgemeinste Aufmerksamkeit auf sich. Dichte Gruppen umstanden denselben während der öffentlichen Stunden, und auch wer die Begünstigung hatte, die Mitglieder der Jury während der für diese reservirten Zeiten zu belauschen, konnte wahrnehmen, daß sich diese besonders häufig vor jener Arbeit aufhielten und dieselbe mit vorzüglichem Interesse zu prüfen schienen. Nicht minder wandten sich ihr die kritischen Stimmen zu, welche alsbald in der Presse laut wurden; einige von besonders competenter Seite abgegebene prognosticirten ihr bereits mit Entschiedenheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_473.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)